Macht macht Schuld (2)

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Büßerhemd

Überall können wir die destruktive Wirkung von Macht beobachten, dennoch erhebt sich kaum einmal eine Stimme, die die Macht selbst in Frage stellt. Immer wird die Fiktion aufrecht erhalten, es müsse bloß der „Richtige“ ans Ruder kommen, dem wir uns dann freudig unterwerfen können. Es braucht eine Renaissance libertären Denkens. Im ersten Teil seines Artikels, eines bearbeiteten Kapitels aus dem Buch „Schuld-Entrümpelung“, stellte Roland Rottenfußer die „Macht-Frage“ ganz generell; in diesem zweiten Teil beleuchtet er näher, wie durch Erzeugung von Schuldgefühlen Macht generiert wird. “Macht macht Schuld, weil sie die Regeln festlegt, nach denen diese bemessen wird. Und Schuldgefühle sind oft der Versuch, den inneren Moralkompass wieder auf die Macht auszurichten. Ein Schuldeingeständnis kann eine Unterwerfungsgeste sein, die den Makel der Feigheit zu vermeiden sucht.”(Roland Rottenfußer)

Zu einer Schuldkultur gehören immer zwei Seiten: Die Neigung von Einzelmenschen und Institutionen, Schuldvorwürfe zu erheben, ist die eine Seite; die offenbar grenzenlose Bereitschaft vieler Menschen, Schuldvorwürfe auch anzunehmen, ist die andere. Ich habe an anderer Stelle über Verantwortung gesprochen. Und darüber, wie diese gern von mächtigen Interessengruppen auf uns Endverbraucher abgewälzt wird. Warum aber scheinen viele Menschen die Verantwortung, die ihnen zugeschoben wird, bereitwillig zu übernehmen. Man müsste sich ja nicht jeden Schuh anziehen, der herumsteht.

Ein Grund dafür könnte in dem Wunsch bestehen, sich mächtig zu fühlen. Der König in Antoine de Saint-Exupérys Buch „Der kleine Prinz“ befiehlt allmorgendlich der Sonne, aufzugehen. Abends befiehlt er ihr dann wieder unterzugehen. Und siehe da: Sie gehorcht. Was für eine Machfülle! Natürlich hätte sich die Sonne auch ohne den „Befehl“ des Königs ebenso verhalten. Das Beispiel karikiert aber äußerst gekonnt die Manie vieler Zeitgenossen, ihren „Zuständigkeitsbereich“ auf möglichst viele Bereiche zu erstrecken. Mag Eigenverantwortung auch teilweise unbeliebt sein; eng mit ihr verbunden ist Macht – die Macht über das eigene Schicksal und darüber hinaus über das Weltgeschehen. Und Macht gibt uns das beruhigende Gefühl von Kontrolle.

Noch ein anderer psychischer Mechanismus ist jedoch wirksam, wenn es um die Frage geht, warum Menschen Schuldvorwürfe nur allzu gern annehmen. Das Stichwort hier heißt „Bindungsgewissen“. Die Bindungen, die uns an die Wertvorstellungen unserer Eltern ketten, sind wohl die stärksten, die es gibt. Was wir als Kinder gehört haben, prägt sich so tief ein, dass wir selbst das Ergebnis plumper Manipulation später als unser „Ureigenes“ empfinden. Sigmund Freud machte das Gewissen am „Überich“ fest. Was wir an Normen und Regeln von unseren Eltern mitbekommen haben, verinnerlichen wir. Das im Unbewussten gespeicherte Abbild des mahnenden Vaters wirkt dann selbst in Abwesenheit des realen Vaters als strenger Zuchtmeister.

Wer im katholischen Raum vergisst, sich beim Betreten einer Kirche mit Weihwasser zu bekreuzigen, wird vielleicht ein leises Erschrecken fühlen: „Das tut man nicht“. Das schlechte Gewissen ist hier das Ergebnis von hunderten kleiner Manipulationen durch Eltern, Nachbarn und Pfarrer, die sich im Kopf festgesetzt haben. Wendet sich ein so konditionierter Mensch dann als Erwachsener von der Kirche ab, kann das Bekreuzigen dennoch als Zwangshandlung weiterleben. Omar Khadr, der aus einer Familie von Al-Kaida-Kämpfern stammte, trieb sein Bindungsgewissen dazu, schon mit 15 Jahren in Afghanistan gegen die Amerikaner zu kämpfen. Seine Bewacher in Guantanamo Bay folterten ihn dann ebenso „gewissenhaft“. Vielleicht entsprach ein solches Verhalten den Vorstellungen ihrer Eltern von einem „guten Amerikaner“.

Wie es scheint, ist das Gewissen ein nebulöses, beliebig formbares Ding, das wir zu Unrecht mit „Standfestigkeit“ identifizieren. Sollten wir das Gewissen nicht ganz aus dem Fundus unserer positiven Werte streichen? Positiv ist es sicher zu werten, wenn damit unser innerster, ureigener ethischer Impuls gemeint ist. Das Gewissen als Wahrnehmungsorgan für Verletzungen des Rechts auf Würde, der Heiligkeit und Einheit allen Lebens. Wenn wir selbst dagegen verstoßen, indem wir Anderen Leid zufügen, kann sich ein „gesundes“ Gewissen in Form von bohrendem Unbehagen melden.

Unser Thema ist aber, warum wir dazu neigen, uns den „Schuh“ von Schuldvorwürfen, die von anderen Menschen kommen, nur allzu gern anziehen. Hier spielt sicher das „andressierte“ Bindungsgewissen eine Rolle. Es repräsentiert nicht unser Innerstes, sondern ist den Abdruck äußerer Erziehungsmaßnahmen in unserer Seele. Diese Art von Gewissen sichert unsere Zugehörigkeit zu Herde und dient als Alarmsystem, wenn wir riskieren, aus der Gemeinschaft ausgestoßen zu werden. Die Angst, verstoßen zu werden, reicht sehr tief in archaische Schichten unseres Bewusstseins hinein. Bei manchen Tierarten sichert allein die Herde das Überleben in der Wildnis; ausgestoßen zu werden, kommt einem Todesurteil gleich.

Auch bei Menschen lebt es sich nicht leicht außerhalb der wichtigen sozialen Zugehörigkeitssysteme, ob es dabei nun um Familienverbände geht, um Firmengemeinschaften oder um die Gesellschaft der gesetzestreuen Bürger als Ganzes. Als letzte Chance, in der Gemeinschaft zu verbleiben, dienen oft Rituale der Schuldannahme. Wer eine Regel verletzt hat, kann sich ihr nachträglich und symbolisch unterwerfen, indem er Schuld eingesteht und so die Berechtigung des Verbots oder der Vorschrift bestätigt. Auf diese Weise fühlen sich die anderen Mitglieder der Gemeinschaft sicher vor weiteren Angriffen auf ihre Ordnung und können den Regelverletzer weiter in ihren Reihen dulden.

Wir besiegeln diesen Akt der Unterwerfung privat z.B. durch eine Entschuldigung. Bei Gesetzesverstößen kann dies durch ein Schuldeingeständnis vor Gericht, verbunden mit der Zahlung einer Geldstrafe, erfolgen. Diese Unterwerfungsgesten sind für uns aber mit einem unangenehmen Gefühl der Demütigung verbunden. Manchmal fühlen wir uns dabei machtlos und feige, weil wir unserem ursprünglichen Impuls aufzubegehren aus Angst nicht gefolgt sind. Jeder kann dies nachvollziehen, der schon einmal eine Geldstrafe wegen Verstoßes gegen eine Vorschrift bezahlen musste, deren Sinn er nicht eingesehen hat. Der aufkeimende Zorn über diese Erniedrigung kann abgemildert werden, wenn wir uns sagen: „Vielleicht haben die ja doch Recht, vielleicht habe ich wirklich etwas Schlimmes getan.“ Die Aggressivität, die wir zunächst gegenüber den Autoritäten empfunden haben, richten wir dann gegen uns selbst. „Ich bin schuld“ ist ein Satz, der unser Leben erheblich leichter macht. Anders „Du bist schuld“. Dieser Satz ist höchst gefährlich und beängstigend, denn seine Konsequenz wäre, dass wir aufbegehren müssten. Die Weigerung, Schuld einzugestehen und symbolische Unterwerfungsgesten zu vollziehen, brächte uns in einen Konflikt mit der Macht, in dem wir vermutlich unterliegen würden.

Schon ein Kind lernt dieses Verhalten, wenn die übermächtigen Eltern ihm einreden, es sei „böse“. Ein Kind ist existenziell von Mutter und Vater abhängig und besitzt nicht die rhetorischen Fähigkeit, zu sagen: „Nicht ich bin falsch; euer Normensystem ist es“. Erst recht nicht hat es die Macht, diese eher gefühlte als bewusst durchdachte Erkenntnis gegen die Eltern durchzusetzen. Also bleibt ihm nur, seine vermeintliche Schuld einzugestehen und sich „Lieb Kind“ zu machen. Der Kuhhandel lautet: „Ich gebe meine eigene Auffassung von Gerechtigkeit auf und bekomme dafür die Vergebung der Mächtigen“. In extremen Fällen kann das als Selbstverrat erlebt werden und das Selbstvertrauen des Betroffenen schwer schädigen.

Ein Schuldeingeständnis also kann eine Unterwerfungsgeste sein, die den Makel der Feigheit zu vermeiden sucht. Ein Schuldeingeständnis erlaubt uns, wieder in Harmonie mit einer Macht zu gelangen, der wir uns hoffnungslos unterlegen fühlen. Solche seelische Vorgänge machen sich die meisten nicht bewusst. „Wenn ich sage ‚Ich bin unschuldig‘, muss ich kämpfen; wenn ich sage ‚ich bin schuld‘, habe ich Ruhe.“ Damit erklärt sich zum großen Teil der Erfolg des Modells „Schuld“ als eines prägenden Teils unserer Kultur. Viele empfinden jedoch Unbehagen dabei, eine Schuld einzugestehen, an die sie selbst nicht glauben. Deshalb gehen sie auch den zweiten Schritt und beginnen, die Schuld ganz in ihr Innerstes hineinzunehmen: „Wenn ich nicht nur so tue, als wäre ich schuldig, sondern dies wirklich zutiefst glaube, verachte ich mich nicht mehr für meinen Selbstverrat.“ Dies erklärt teilweise das traurige Phänomen einer von Schuld nieder gedrückten Menschheit.

Bei vielen Menschen scheint auch eine Grundbereitschaft vorhanden zu sein, aus einer Lebensangst heraus bei Mächtigen „unterzukriechen“. Dies fängt am Arbeitsplatz an. Auch dort gilt: „Wes Brot ich ess‘, des Regeln ich befolg‘“. Dazu gehört auch das moralische Koordinatensystem des Chefs, dem ein Angestellter sich anpassen muss, seine Vorstellung von korrektem Verhalten und von „Schuld“. Für manche Vorgesetzte ist schon eine Verspätung von wenigen Minuten ein der Sühne bedürftiges Verbrechen; andere stört das Zuspätkommen überhaupt nicht. In bestimmten Betrieben macht sich auch eine ungesunde Vermischung von Freizeit und Arbeitszeit breit oder eine Art „Zwang zur Ungezwungenheit“ im persönlichen Umgang. Die Regeln können wechseln, gleich bleibt der Anpassungsdruck.

Warum also, um zur Eingangsfrage zurückzukehren, die Bereitschaft vieler Menschen, Schuldvorwürfe anzunehmen? In vielen Fälle ist es schlicht Angst: die Angst vor dem Verlust von Arbeit und Status oder von besonders wertvollen Beziehungen, die Angst um die materielle Existenz oder das seelische Gleichgewicht. Macht macht Schuld, weil sie die Regeln festlegt, nach denen diese bemessen wird. Und Schuldgefühle sind oft der Versuch, den inneren Moralkompass wieder auf die Macht auszurichten. Diese Erkenntnis ist nicht sehr angenehm, aber „wahre Worte sind nicht schön“ (Lao Tse).

Nicht weitere Selbstvorwürfe sind die richtige Schlussfolgerung daraus, dass wir uns manchmal bei nur allzu bereitwilliger Kooperation mit Schuldschöpfern ertappt haben. Vielmehr sollten wir jetzt sanft mit uns umgehen wie mit jemandem, der allmählich von einer Krankheit genest oder aus einem schweren Alptraum erwacht ist. Wir sollten uns vornehmen, die gewachsene Einsicht in die Zusammenhänge zu nutzen, um es in Zukunft besser zu machen.

Bearbeiteter Auszug aus dem Buch von Roland Rottenfußer und Monika Herz: „Schuld-Entrümpelung. Wie wir uns von einer erdrückenden Last befreien“, Goldmann Verlag, 254 Seite, € 9,99

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