«A halbe Stund» – Revolution und Befreiung von der Knechtschaft unter der Zeit

 In Philosophie

Der Lech bei Schongau

Zeit sollte dem Menschen dienen – als Rahmen für den Genuss eines schönen und entspannten Lebens. Leider ist es oft umgekehrt: Zeit wird zur Tyrannin, regiert jedes Detail unseres Alltags und schleicht sich sogar in unsere Seele. Mit zwei beklagenswerten Freunden hat unser Autor Eulenfeder die Erfahrung gemacht, wie negativ sich Zeitdruck auswirken kann, wenn man eine gemeinsame Unternehmung plant. Das brachte ihn auf eine geniale Idee, wie man der Zeit ein Schnippchen schlagen und die Herrschaft über das eigene Leben wiedererlangen kann. (Eulenfeder)

Neulich, vor der kleinen Wanderung mit Freunden – bisschen durch den Wald und dann zu meinem Felsen am Lech – fragten sie mich: “Wie lange gehen wir da?” (Sie haben nicht so viel Zeit wie ich, Termine eben und verständlich die Frage, klar). Meine Antwort: “Naja, a halbe Stund.”

Nach dieser halben Stunde oder schon darüber hatten wir aber gerade mal zwei Drittel des Weges zum Lech hinter uns, und als ich dann meinte: “Zwoa Drittl homma scho gschafft”, mussten wir umkehren. Es hätte für sie zu lange gedauert an diesem Tag, wegen Verpflichtungen, verständlich.

Später fragte die Freundin in einem anderen Zusammenhang: “Von der Herzogsägmühle nach Schongau, wie lange gehst du denn da?” – “Naja, gmiatlich a halbe Stund!”, meine spontane Antwort.

Abends dann, bei meinen überlebensnotwendigen und den philosophischen Geist immer tief aufweichenden Weißbieren auf der Bank an der Ammer, wurde mir plötzlich bewusst, dass ich schon seit langer Zeit alles Zeitliche in “halben Stunden” rechne – und welch großartige, revolutionäre und auch die Zeit an sich, den Zeitmangel besiegende und ein Zeitdiktat außer Kraft setztende Erfindung ich da wie selbstverständlich gemacht hatte. Alles dauert für mich eine halbe Stunde, ohne diese wirklich in Zeitmaßeinheiten festzuzurren. Nacht- und Tagzeit – freilich hängt da das Wort “Zeit” hintendran. Aber man könnte es ja auch weglassen. Wenn die Sonne oben steht, ist eben Mittag.

Viel Lebenszeit hat mir dieses System gestohlen, und man könnte auch ganz einfach sagen: “viel Leben!”. Auch im Begriff “zeitlos”, dessen Sinn und Wert es ja anzustreben gilt, ist ja “Zeit” enthalten. Nicht in allem ist das Wort in einem negativen Sinn enthalten: “sich Zeit nehmen” oder “Zeit geben” – ja wünschenswert und positiv. Jedoch beherrscht dieses Wort scheinbar alles, und davon gilt es sich weitgehenst zu befreien: von Zeit als Herrscherin über unser Leben. “Wieviel Zeit mir wohl noch bleibt” fragt man sich und wartet damit unbewusst schon darauf, dass sie endet.

Es ist halt mal da, dieses Wort, und wenn schon nicht aus der Welt zu schaffen, dann hoffentlich im Sinne von mehr Zeitlosigkeit zu nennen – ein vermeintliches Ende von allem Lebenswerten offen zu halten, dieses zu verlängern dadurch. Durch einen Termin z.B. schränkt man vor allem die Erlebnisfähigkeit ein, der Termin im Kopf überlagert diese. “Es dauert so lange wie es eben dauert” wäre die passenste Antwort auf Fragen nach zeitlichen Abläufen. Diese würde aber die meisten nach zeitlichen Begrenzungen Fragenden nicht zufrieden stellen – also sage ich mehr und mehr: “a halbe Stund!”

Und fragt mich einer, wo ich hinradle, bekommt er als Antwort: “a mal nach Landsberg am Lech” – “Wia lang brauchstn da?” – “naja, gmiatlich a halbe Stund!” Will ich gerade mit Rucksack und bisschen Proviant, also zwoa Flaschn Bier und mei Taschnmessa, aus der Herberge Richtung Raisting an der Ammer entlang, da meint ein Anderer: “Du, ich bräuchte mal deinen Rat, bist du länger weg?” – “Na”, sag ich. “In a halben Stund bin i wieda da”…

Das ist grandios, Leute! Alles, was länger als eine halbe Stunde dauert oder dauern würde, dauert für mich nur eine halbe Stunde. Und alles, was in weniger Zeit als einer halben Stunde zu machen wäre, dauert auch eine halbe Stunde… Zeitgewinn und Sich-Zeit-Lassen also so oder so! Und was brauchen wir so dringend in dieser furchtbaren Zeit der Zeitverschwendung durch unnütze Arbeit u.s.w? – ZEIT eben.

Und es kommt noch besser: diese “halbe Stunde” ist ja nicht nach einer Zeitmessung bemessen, sie, wenn überhaupt, meine eigene Zeitrechnung, ohne einer Zeitnorm unterworfen zu sein! Nun wird’s kompliziert, nicht wahr? Für “Normal-Zeitverbraucher” vielleicht, klar – aber probiert es mal aus. Ihr werdet diesen unglaublich großen Wert einer damit verbundenen gewissen Zeitlosigkeit entdecken und den wahren Sinn eines “Zeitlich-gesegnet-Seins”. Zudem ist ja immer noch eine halbe Stunde übrig, wenn ja erst eine halbe Stunde vergangen ist, egal wie lange irgendetwas dauern würde, wenn man doch üblicherweise in Stunden oder einer Stunde zumindest rechnet.

Aber Vorsicht! Es darf dieser ja ehrliche Umgang mit gewisser Zeitlosigkeit, die ja geradezu zwangsläufig mehr Zeit bringt und “nach hinten open ended” quasi sogar zeitlos sein kann, weil immer ein Zeitgewinn, nicht missbraucht werden – zur Angeberei zum Beispiel. Wenn sich Männer also untereinander fragen: “Na Schorsch, wia lang hotsn dauert, letztsmal, mit da Rosi?” – “a guade halbe Stund scho!” Glatt gelogen freilich, weil er wieder mal nach zweieinhalb Minuten fertig war, während Rosi sich sehnlichst wünscht, dass er wenigstens mal “a halbe Stund” durchhalten würde…

Nun habe ich dieses Wort “Zeit” hier so oft benutzt, dass vielleicht und verständlicherweise, der Eindruck ensteht: “der Kerl ist ja geradezu manisch besessen von der Zeit, wie kann er da glaubwürdig sein Loslassen von ihr beteuern?”… Es war wohl einfach nötig, um die zeitbringende Befreiung von der Zeit ausführlich darstellen zu können, mehr nicht.

Anstrengend wars, irgendwie – und deshalb “leg i mi etza a halbe Stund hi…”

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