Am Literaturkamin (3)

 In Allgemein, Holdger Platta, Poesie

Die Geschichte eines bösen Zylinders

Holdger Platta, In memoriam C.D.

(Anmerkung der Redaktion: Alle LeserInnen dürfen mitraten, welche AutorInnen, die Holdger Platta zu seinem Gedicht inspiriert haben,  sich hinter diesen Initialen verbergen. Die Auflösung wird am kommenden Montag verraten)

 

Schornsteine über den rotbraunen Dächern, als flöge

Ebenezer Scrooge unter dem Himmel entlang, und ein alter Bankier

stapelt in seinem Arbeitszimmer Akten wie Tonziegel auf

vor seinem Kamin. Noch gehen alle Wünsche verkehrt

 

herum durch die Welt. Die Tochter, eine rosige Atlasschleife

neben dem Tisch, hält einen Brief in der Hand, aus dem

gerade das Schicksal eines Waisenkinds fällt,

Tränen zwischen Globus und einer besseren Erde.

 

Ein kühler, sonniger Wintertag. Irgendwo in der Stadt

schaukelt ein schlauer Zylinder mit zwei diebischen Hosentaschen

durch das Straßengewirr. Einer Dame in einem anderen Haus

bringt der Diener gerade eine Visitenkarte herein.

 

Und der alte Mann am Kamin, eines der üppigsten Konten

der Stadt und trotzdem ein gütiger Herr, durchschaut

endlich einen Zusammenhang. Außerdem, sagt man,

fliegen jetzt die neuen Velozipeds durch die Luft.

 

Doch der Knabe, abgemagert und mit gebrochenem Bein

in seinem Versteck, ahnt noch nichts vom letzten Kapitel

unter dem Weihnachtsbaum. Aber in welchem Roman

zahlt sich solch prächtige Verwandtschaft nicht aus?

 

Nach einer furchtbaren Nacht voller Gewitter und

Ungewißheit, eng gepreßt an die Bretterwand

eines Hühnerstalls, kommt die Zukunft wie eine goldene Weste

zu ihm. Tochter und Dame und alter Herr bringen

 

auf ihren Schultern den obligaten Sonnenschein mit, und der Arzt

in seinen Nankinghosen schient dem Knaben unter freundlichen

Tabakgerüchen das Bein. Vielleicht flattert in diesem Augenblick

Ebenezer Scrooge hinter einer goldenen Dezemberwolke davon.

 

Jedenfalls qualmen die imperialen Essen in London,

als würden sie wie die Mietkutschen in den heftigen Straßen

dafür bezahlt, und ein satansschwarzer Zylinder

kommt endlich unter die Räder der edleren Wünsche.

 

 

(Auflösung des “Rätsels” aus dem Gedicht vom vorigen Montag: Joseph von Eichendorff und Ernst Bloch)

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