Chuck Berry: »Sweet LittleRock and Roller«

 In FEATURED, Kultur

Chuck Berry

Chuck Berrys Musik war wie das Eintreffen eines Kofferradios im Pleistozän. Wer diese Ganzkörpermusik hörte, schien durch die Luft zu fliegen. Beatles, Stones und Beach Boys war dies nicht entgangen und heute wissen es sogar die Außerirdischen. (Frank Jödicke, www.skug.at)

Chuck Berry ist tot. Gestorben im Alter von 90 Jahren. Eine Zahl die viel zu gering scheint, angesichts dessen, was sein Leben umspannt. Diese fremde Welt, in der sich der junge Chuck die Stromgitarre umschnallte, soll noch kein Jahrhundert zurückliegen? Viele der Aufnahmen aus jener Epoche scheinen uns heute dem gesellschaftlichen Pleistozän zu entstammen. Eine Zeit, in der es noch ein riesiger und unverzeihlicher Fehler war, schwarz zu sein, und in der der Zugang zur Öffentlichkeit für Afroamerikaner streng limitiert war. In jenen Tagen – sagen manche – habe es zwar bereits Sexualität gegeben und sie sei sogar hin und wieder praktiziert worden, es wurde aber eisern darüber geschwiegen. Ein ausgelassenes Vergnügen war für den Herrn des Hauses, sein Ohr an den Kaninchenstall-großen Radioapparat zu legen und dem Rascheln und Knistern eines Symphonieorchesters zu lauschen, während das Eheweib in der Küche etwas brutzelte. In diese Szenerie schmetterte Berry den Rock’n’Roll.

Fortan nahmen Männer ihre Frauen und wirbelten sie durch die Luft. Schwarze waren zwar immer noch … nun ja, aber bis Elvis kam, wurde ihrer Musik gelauscht, denn sie war einfach viel zu gut. Plötzlich waren mitten im Wohnzimmer Anzüglichkeiten in dem neuen großen Kaninchenstall (TV) zu sehen. Dieser lustige farbige Mann bewegte sich zu seiner Musik in ungehöriger Weise. Er war von den Songs ganzkörperlich ergriffen und schwang stets seine Hüften. Dieser oft kommentierte Pelvis-Bezug war für das Publikum schwer aushaltbar: Was rieb der Mann an der Rückseite seiner riesigen Gitarre? Unerhört! Wer spürt die Musik denn in seinen Hüften? Der knapp zehn Jahre jüngere Elvis durfte auf bereits geebneten Wegen entlangwackeln. Berry war sich dieser Implikationen bewusst und genoss es. Er nannte seine Alben zum Beispiel »Chuck Berry is on Top«. Na, wie er das wohl gemeint hat?

Eine riesige Abkupfermine

Berrys Songs wurden schamlos von allem, was Rang und Namen hatte und zudem weiß war, gecovert. »Survin’ USA« von den Beach Boys ist einfach »Sweet Little Sixteen«.  Beatles, Stones, sogar Fleetwood Mac – alle bedienten sich fleißig. Sound, Melodien, Lyrics, Haltung: Berry war in vielem einfach der Erste. Er konnte dies auch deswegen sein, weil sich in seiner Zeit so vieles änderte, sowohl gesellschaftlich als auch technologisch. Chuck Berry erkannte die neuen Gestaltungsmöglichkeiten und nutze sie. Spätere Künstlergenerationen hatten diese Möglichkeit des Erstmaligen logischerweise nicht mehr, sie durften dafür aber interpretieren. Es lässt sich die These aufstellen, Chuck Berrys Drei-Akkorde-Gerotze sei die Erfindung des Punk gewesen, es habe aber noch ein paar Jahrzehnte gebraucht, bis The Ramones und Co. dies begriffen hätten und einem neuen Publikum vermitteln konnten.

Chuck Berrys Stellung in der Musikgeschichte hat somit eine kosmische Dimension und diese wurde bereits eingehend gewürdigt. Im Jahr 1977 entsandte die NASA die Raumsonde Voyager 2. Da diese das am weitesten von der Erde entfernte Objekt menschlicher Ingenieurskunst war, wurde sie mit einer Nachricht in Form der »Voyager Golden Record« ausgestattet – einer Langspielplatte aus Kupfer, die zum Schutz mit Gold überzogen wurde und an der Außenseite des Raumschiffs befestigt ist. Die Außerirdischen sollten einen Eindruck vom Leben auf der Erde bekommen. Da es sich nicht verhindern ließ, dass US-Präsident Jimmy Carter und der damalige UN-Vorsitzende Kurt Waldheim (die alte Arschgeige) einen Text mit Grußworten auf die Platte quatschten, überlegten sich die Wissenschaftler eine Art Entschädigung. So kamen einige der schönsten Musikstücke der Menschheitsgeschichte auf die Schallplatte – den Aliens zum Vergnügen. Neben Bach eben auch Berry. Steve Martin erzählte einmal in »Saturday Night Live«, die Extraterrestrischen hätten Voyager 2 längst erbeutet und eine Nachricht an die Erde geschickt: »Send more Chuck Berry!«

Chuck Berry hat es verstanden, muffige Verhältnisse zum Wirbeln zu bringen. Vollkommen zu Recht hat er deswegen seine letzten Lebensjahre mit der Entgegennahme von Preisen verbracht. Dass sich nun jener dunkle und schwere Mantel auf seine Schultern legte, mag betrüblich stimmen – allerdings nach neunzig nicht gerade stillen Jahren darf es auch kaum überraschen. Wir wünschen ihm einen ruhigen und ungetrübten Schlaf.

Bewegte Bilder aus dem Pleistozän gibt es hier: https://www.youtube.com/watch?v=oyo7xy4Uwrg

Chuck Berrys Erbe lässt sich z. B. hier hindurchhören:

Ramones https://www.youtube.com/watch?v=vneIVy2BIIw

Motörhead https://www.youtube.com/watch?v=PV–g74-IWU

 

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