Das Leben auf der «Neuen Erde» – ein Leben im Jetzt.

 In FEATURED, Spiritualität

Eckhart Tolle

Eckhart Tolle ist seit seinem Welterfolg “Jetzt” einer der einflussreichsten spirituellen Lehrer unserer Zeit. Seine Bücher zeichnen sich dadurch aus, dass sie für das Erleben des “Erwachens” und des “Seins im Jetzt” eine frische, eigenständige Sprache gefunden haben, ohne sich übermäßig auf die Begrifflichkeit religiöser Tradition (z.B. Buddhismus, Advaita Vedanta oder Christentum) zu stützen. Tolles zweites großes Werk “Eine neue Erde” überraschte durch eine Reihe politischer Aussagen, durch die Vision einer menschlicheren Welt auf der Basis von immer mehr erwachenden Menschen. Der Journalist Christian Salvesen interpretiert Tolles Werk in seinem Buch “Eckhart Tolle: Inneres Erwachen und ein Leben im Jetzt”. In diesem Textauszug geht es u.a. um unsere Medien, die mit Katastrophennachrichten unsere (von Tolle so genannten) “Schmerzkörper” stimulieren. (Christian Salvesen)

 Das Erblühen

„Ein Morgen auf der Erde vor 114 Millionen Jahren kurz nach Sonnenaufgang: Die erste Blütenpflanze, die auf dem Planeten erscheint, öffnet ihren Kelch den Strahlen der Sonne.“ So beginnt das Buch „Eine Neue Erde“ von Eckhart Tolle – unter dem Titel „Evokation“ als Einleitung. Schon im nächsten Absatz wird deutlich, dass der Autor die Gesamtentwicklung des Bewusstseins auf dem Planeten Erde im Blick hat:

„Erst viel später sollten die zarten, vergänglichen Gebilde, die wir Blumen nennen, eine wesentliche Rolle für die Evolution des Bewusstseins einer anderen Art spielen. Irgendwann waren Menschen von ihnen fasziniert und fühlten sich immer stärker zu ihnen hingezogen. Sowie sich deren Bewusstsein weiterentwickelte, waren Blumen vermutlich das erste physische Objekt, das sie wertschätzten, obwohl es keinen Gebrauchswert für sie hatte, also nicht mit dem Überleben in Zusammenhang stand. Unzählige Künstler, Dichter und Mystiker haben sich von Blumen inspirieren lassen. Jesus hat uns die Lilien auf dem Felde zur Betrachtung und als Vorbild für unser Leben empfohlen. Buddha soll einmal eine »stille Predigt« gehalten haben, indem er eine Blume hoch hielt und sie ansah.“

Dieser eine Absatz enthält die Grundidee von „Eine Neue Erde“ wie das Anfangsthema einer Sinfonie bereits im Keim die sich weiter entfaltende Musik in sich birgt – das berühmteste Beispiel dafür sind wohl die ersten vier Töne der 5. Sinfonie von Beethoven. Aus der Blumenmetapher am Anfang entwickelt Eckhart genial seine Lehre von der Überwindung des Egos. Die Beschreibung des Egos – um im Bild der Sinfonie zu bleiben das Seiten- oder Gegenthema – beansprucht im Buch den meisten Platz. Denn ich muss mich selbst in allen Aspekten wahrnehmen – als Objekt, als Person mit Körper, Geist und Seele, mit allen relativen Eigenschaften, bevor ich der Leere und Fülle des wahren Selbst gewahr werden kann.

Das Ego repräsentiert sicher nicht die Blüte, sondern eher die Dornen einer Rose. Das Thema ist das Leben selbst und umfasst alle nur möglichen Widersprüche. In der Entwicklung des Bewusstseins war und ist das persönliche, individuelle Ich mit all seinen Abwehrmechanismen, seinem Besitzdenken, seiner Identifikation mit dem Körper, mit der Familie, mit einer Nation nötig – im Sinne von „so hat sich das Leben nun einmal hier auf Erden entwickelt.“ Doch zum ersten Mal in der Evolution wird sich das Bewusstsein nun seiner selbst bewusst. Das lässt sich an herausragenden Menschen wie Buddha und Jesus demonstrieren – und die Blume ist ein Symbol dafür, weil sie – platt gesagt – kein Geld bringt. Ihr Wert liegt nicht im Bereich des Zweckdenkens von „Was bringt mir das?“

Doch wichtig ist hier nicht, ob jemand wie Buddha, Jesus oder Eckhart Tolle den evolutionären Bewusstseinssprung geschafft hat. Einzig entscheidend ist, dass ich, der ich gerade diese Worte jetzt lese, erkenne: Was dies liest und versteht, ist jenseits von Zeit und Raum. Es ist nicht der Körper, denn der ist nur Objekt. Er wird wahrgenommen, wie die Worte. Stimmt das? Was genau nimmt jetzt wahr?

Eine neue Erde bleibt nur eine Idee bzw. ein Konstrukt, wenn sie nicht unmittelbar mit mir zu tun hat. Ich selbst bin die neue Erde. Es gibt keine Trennung. Das von mir getrennt Erfahrene ist die Welt, die gleichsam über der Erde vom menschlichen Verstand errichtet wurde – entsprechend dem Ego, das wie eine Schicht aus Emotionen, Erinnerungen und Erwartungen, Geschichten das wahre Selbst überlagert.

„Ein neuer Himmel und eine neue Erde entstehen in ebendiesem Augenblick in dir, und wenn sie nicht in diesem Augenblick entstehen, dann sind sie nur ein Gedanke in deinem Kopf und entstehen deshalb gar nicht.“ (Erde, S. 195)

 

Welt und Erde

Wenn ich morgens den PC aktiviere, um meine Emails zu lesen, muss ich mich erst einmal durch einen Wust von Nachrichten und Werbung wühlen – das ist zumindest so bei Telekom. Der Trend, den Konsumenten derart mit meist oberflächlichen Informationen zu bombardieren ist relativ neu. Die meisten Menschen wollen wissen, was in der Welt vor sich geht. Das ist normal. Vor langer Zeit brachten fahrende Händler die News. Dann kam der Buchdruck. Luthers Lehre zum Beispiel erreichte um 1530 über Flugblätter allein in Deutschland Millionen Menschen. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich die Welt der Medien technisch und strategisch derart rasant entwickelt, dass heute praktisch jeder Mensch auf der Erde rund um die Uhr „vernetzt“ und „informiert“ ist.

Nicht jeder (ich nicht), aber fast jeder möchte (ständig) wissen, was los ist in der Welt. Die einen interessieren sich für Klatsch und Tratsch, andere suchen Hintergrundinformationen zu Politik und Kultur. In jedem Fall wird mit dem Gefühl des Informiertseins ein Bedürfnis des Egos befriedigt, selbst wichtig zu sein. „Ich kenn mich aus. Ich bin mitten drin. Ich war mit auf dem roten Teppich bei der Oscarverleihung in Hollywood. Ich weiß, warum die Politik von Angela Merkel richtig (oder falsch) ist.“

Was ist wohl der tiefere Grund dafür, dass ich dermaßen massiv von den Medien „informiert“ werde? Dafür gibt es eine allgemeine, objektive und eine individuelle, subjektive Antwort. Die allgemeine Antwort betrifft die Entwicklung der Welt nach Maßgabe des überwiegend männlich geprägten Verstandes, der immer mehr Macht, Kontrolle und Informationen will. Das ist ganz offensichtlich für jeden, der sich die Geschichte der sogenannten Zivilisation vor Augen führt. Sie ist beherrscht von Krieg, Unterdrückung und Machtpolitik. Die Schlagzeilen sind bestimmt vom Unglück in der Welt. Selten kommt ein berührendes Beispiel für Mitgefühl und Freude vor – und wenn, dann meist in Kombination mit einem Spendenaufruf.

Die subjektive Antwort ist: Ich muss doch nicht all diese Informationen aus allen Kanälen aufnehmen! Es mag sein, dass die meisten Menschen nicht nur die Nachrichten, sondern ihr Leben so negativ wahrnehmen. Das muss nicht meine Wahrnehmung sein. Ich kann darauf achten, mich nicht mit den von außen aufgenommenen Informationen und Energien zu identifizieren.

Das erfordert allerdings genau die Disziplin, an die Eckhart Tolle immer wieder erinnert und die er aktivieren möchte: Was ist jetzt-hier? Was erlebe ich genau jetzt? Nun sind es diese Worte, okay. Vielleicht höre ich aber nebenbei im Radio Musik oder Nachrichten? Angenommen eine Stimme sagt: „Gerade ist am Flughafen Tegel in Berlin eine Bombe explodiert. Nach erster Schätzung gibt es über 100 Tote und mehrere Hundert Verletzte. Es wird ein terroristischer Anschlag vermutet.“

Wie beeinflusst mich das, jetzt, in der Vorstellung? Da ist plötzlich Berlin in meinem Kopf, womöglich waren Freunde von mir auf dem Flughafen, ich muss etwas unternehmen, mehr Infos einholen usw. Der Verstand und die Emotionen springen sofort an, lauern geradezu auf solche News. Aber die Wirklichkeit ist genau das, was jetzt und hier für dieses Bewusstsein gegeben ist. Nicht mehr und nicht weniger. Die Welt „dort draußen“ unabhängig von mir – das ist eine Konstruktion des Verstandes. Selbst in der aktuellen Quantenphysik weisen die Wissenschaftler zunehmend auf die Möglichkeit, dass es diese sogenannte objektive Wirklichkeit nicht unabhängig vom Bewusstsein gibt.

Doch bleiben wir – genauer: Ich der jetzt liest – zunächst noch beim Phänomen der Massenmedien. Alles was Menschen, konkret mich, emotional erregt, verkauft sich gut. Negative Emotionen wie Furcht und Wut, Gier und Neid scheinen in der Welt stärker zu wirken als positive Gefühle wie Freude oder Nächstenliebe. Die Medienmacher setzen auf die Sensation des Unglücks und verstärken damit das Unglücklichsein in der Welt. Das lässt sich an jeder beliebigen Zeitung oder Webseite von Nachrichtensendern belegen.

Eckhart Tolle sieht in den Medien eine gezielte Verstärkung des Unglücklichseins, an dem sich der „Schmerzkörper“ geradezu labt: „Die populäre Boulevardpresse verkauft keine Nachrichten, sondern in erster Linie negative Empfindungen – Nahrung für den Schmerzkörper. »Gräueltat« oder »Monsterkiller« leuchtet es einem in fetten Schlagzeilen entgegen.“ (Erde, S. 103)

Verbote solcher Schlagzeilen und Inhalte würden an der Sache nichts ändern. Ähnlich verhält es sich beim Artenschutz in der Natur, wo trotz enorm aufwendiger Maßnahmen die Zahl der Elefanten und Nashörner weiterhin rapide durch Wilderei abnimmt. Nur eines von unzähligen Beispielen, wo das Ego des Menschen in seiner blinden Gier und Aggression seine eigene Lebensgrundlage, die Erde und ihre Natur zerstört. Doch der Punkt ist eben: Die Grundlage des Egos ist gar nicht die Natur. Es ist ein Parasit. Ohne einen lebendigen Körper kann es nicht existieren. Umgekehrt kann der Körper sehr wohl und viel besser ohne dieses parasitäre „Ich“ leben.

„In einer Welt, in der fast jeder seine Rolle spielt, ragen die wenigen Menschen heraus, die keine mentalen Bilder projizieren, sondern die aus einem tieferen Kern ihres Seins heraus agieren, die nicht mehr scheinen wollen, als sie sind, sondern einfach nur sie selbst sind – und davon gibt es sogar im Fernsehen und in anderen Medien sowie in der Geschäftswelt einige. Sie sind im Grunde die Einzigen, auf die es in dieser Welt ankommt. Sie bereiten den Boden für das neue Bewusstsein.“ (Erde, S. 72)

 

Buchtipp:

Christian Salvesen: Eckhart Tolle – Inneres Erwachen und ein Leben im Jetzt, Aquamarin Verlag, 180 Seiten, € 14,95

 

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