Das Tagebuch der Anne Frank – eine ganz besondere Inszenierung

 In Gesundheit/Psyche, Kultur, Politik (Ausland), Politik (Inland), Roland Rottenfußer
Anne Frank

Anne Frank

Roland Rottenfußer hat ein Buch über die theaterpädagogische Arbeit Anne Ziegler-Weispfennigs verfasst. Sie inzenierte über Jahrzehnte für den Kreisjugendring hochwertige und engagierte Theateraufführungen mit Jugendlichen, die ansonsten meist „kulturell unbeleckt“ waren. Eine besondere Sensation: Ihre Theaterprojekt mit autistisch behinderten Menschen, denen sonst niemand die extrovertierte Arbeit auf der Bühne zugetraut hätte. Politisch steht Anne Ziegler-Weispfennig für die mutige Aufarbeitung von „Problemthemen“ wie Krieg, Traumatisierung, Behinderung und Nazi-Vergangenheit. Sowohl bei den Themen der aufgeführten Theaterstücke als auch bei der Auswahl der Mitspieler zeigte Anne besonders viel Herz für die so genannten Außenseiter der Gesellschaft. Ein besonderes Highlight war die Aufführung einer Bühnenbearbeitung von “Das Tagebuch der Anne Frank”. (Roland Rottenfußer)

Anne Frank war ein einfaches, liebenswertes, lebenslustiges und nachdenkliches Mädchen, wie es genauso gut in unserer Nachbarschaft wohnen könnten. Und sie wurde zum Mythos, weil sie dem zuvor für viele anonymen Schrecken des Holocaust ein Gesicht und einen Namen gab. Millionen Menschen lasen ergriffen ihr Tagebuch. Es fand Verbreitung weit über Deutschland, Holland und die jüdische Leserschaft hinaus. Eine Passionsgeschichte, die das Furchtbare von damals im Alltäglichen spürbar machte, zugleich eine Geschichte von Mut und selbstloser Hilfe unter Lebensgefahr. Wie kaum eine andere öffentlich bekannt gewordene Persönlichkeit repräsentiert Mip Gies jene private, stille Tapferkeit im Angesicht der Nazi-Übermacht. Die ehemalige Sekretärin im Hause Frank versteckte Anne und ihre Familie während des Zweiten Weltkriegs.

Anne Ziegler-Weispfennig und ihre Theatertruppe aus behinderten und nichtbehinderten Jugendlichen durften Mip Gies in Amsterdam besuchen und mit ihr über Anne Frank und ihre Erfahrungen während der Nazi-Diktatur sprechen. Ein eindrucksvolles Erlebnis für alle Beteiligten. Der Besuch kam nicht von ungefähr, denn die Truppe hatte die von Frances Goddrich und Albert Hackett dramatisierte Version des „Tagebuchs“ 1989 im Freizeittreff am Biederstein aufgeführt. Anne Frank wäre damals 60 Jahre alt geworden. Anne Ziegler-Weispfennig nahm das Thema dieses Stücks besonders ernst und besuchte mit den Schauspielerinnen und Schauspielern zur Vorbereitung auf den Stoff das Konzentrationslager in Dachau. Dort schilderte ihnen eine ehemalige Lagerinsassin das Leben im KZ äußerst eindringlich. Obwohl sie nur über wenig Geld verfügten, spendeten die Jungmimen unter dem Eindruck des Gesehenen spontan für die geplante Jugendbegegnungsstätte in Dachau.

Verständlicherweise ging den Jugendlichen das Thema besonders an die Nieren. Die Tatsache, dass Behinderte – wie Juden – damals schuldlos Opfer von Verfolgung werden konnten, schwang in den vorbereitenden Gesprächen immer mit. Ja, so zu sein, wie sie waren, wäre unter der Herrschaft der wahnhaften Vorstellung der Nazis über Rassenreinheit und Erbgesundheit lebensgefährlich gewesen. Treffend schrieb denn auch der Rezensent einer Aufführung, Alexander Kinsky: „Menschen, die damals keine Chance gehabt hätten, nutzen sie jetzt.“ Ausdrücklich war die Theateraufführung dem Gedenken an das jüdische Mädchen und alle, die mit ihr umgekommen waren, gewidmet.

Neben der Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich gehörten zur Vorbereitung auch intensive Einfühlung in jüdische Religion und Bräuche. Hierzu schrieb das Magazin „Stafette“ im September 1989: „So beschreibt eine Szene des ‚Tagebuchs‘ das jüdische Chanukka-Fest. Keiner wusste Bescheid. Selbstredend, jetzt hätte man Lexika in Bibliotheken wälzen können. Aber man beschritt andere Wege. Durch Vermittlung der Spielleiterin konnte ein Jugendlicher mehrmals eine alte Frau jüdischen Glaubens besuchen. Sie erzählte und erklärte ihm vieles über die jüdische Religion. Das so gewonnene Wissen konnte er dann wieder seinen Mitspielerinnen und Mitspielern weitergeben und bereicherte damit die Inszenierung.“ Auch eine Anne Frank-Ausstellung im Münchner Gasteig wurde besucht. Diese intensive Herangehensweise ist vorbildhaft nicht nur für die Theaterarbeit, sondern für die Vermittlung von Geschichte an Jugendliche überhaupt. Neben der inhaltlichen Vorbereitung mussten auch formal einige Hürden genommen werden. Zunächst musste die Originalfassung des Stücks um etwa eine Stunde gekürzt werden, um die überwiegend jugendlichen Zuschauer nicht zu überfordern. Das erledigte Anne Ziegler-Weispfennig in enger Abstimmung mit der gesamten Gruppe. Sodann mussten wichtige Entscheidungen über Bühnenbild, Requisiten und Kostüme getroffen werden, denn eine realistische Anmutung wie in einem gut ausgestatteten Historienfilm war der Laientruppe weder möglich noch hätte sie deren Auffassung von Theater entsprochen.

In einem Interview mit dem Magazin „Unsere Zeit“ berichtete Anne Ziegler-Weispfennig, wie es zur Auswahl dieses schwierigen Stoffes kam: „Marion Lehmicke von der VVN hat mich gefragt, an einem grauen Novembertag, ob ich mir vorstellen könnte, zu Anne Franks 60. Geburtstag mit Jugendlichen das ‚Tagebuch‘ zu inszenieren. Ich hab auf der Stelle ja gesagt. Allmählich wurde mir klar, worauf ich mich eingelassen hatte. Aber ich sagte mir: An diesem Projekt scheiterst du nicht. Während der Proben – eine Assoziation weckte die andere. Die Behinderten in unserer Gruppe, meine türkische Freundin, an die ich dachte. Mein Vater war im antifaschistischen Widerstand gewesen. Nach dem Krieg hab ich von jüdischen Freunden meiner Familie viel Gutes erfahren. Plötzlich hatte ich das Gefühl, ich muss, ich will hier ein Geschenk machen – allen Menschen, die halfen, dass wir das damals überlebt haben. Ich hab auch gedacht: Diese 14, die das Stück mit mir erarbeiten, die werden keine Beute für eine Politik der Gewalt, die nicht. Wir waren in Dachau. Das war ein Schlüsselerlebnis. Vorher hat die Gruppe noch gesagt, nachher gehen wir einen trinken. Hinterher ging keiner irgendwas trinken. Während der Proben haben wir immer viel diskutiert. Und dann plötzlich war bei den Spielern der Gedanke da: Es muss am 60. Geburtstag der Anne Frank passieren. Den wollen wir würdig begehen.“

Nach Aussage von Anne Ziegler-Weispfennig hatte sie keinerlei Probleme, die Mitspieler zu motivieren. Das lag wohl auch an ihrer eigenen sozialen Lage. Viele fühlten sich selbst als Außenseiter der Gesellschaft. „Nein, die Jugendlichen heute haben’s nicht leicht. Bei dem einen ein arbeitsloser Vater, bei dem anderen geschiedene Eltern. Oder Heimzöglinge oder Behinderte, die wir in unserer Arbeit ‚aufgefangen‘ haben. Die haben sich unheimlich identifiziert mit diesem Schicksal.“ Keinerlei Behinderung erfuhr die Truppe für ihr Projekt zum Glück seitens der Behörden, der Zuschauer und der Presse. „Ich habe nur Dankschön gehört auf der ganzen Linie. Das Publikum gestern und vorgestern war begeistert. Das Echo in der Öffentlichkeit ist toll.“ Am Ende konnten die Laiendarsteller befriedigt sagen: „Keiner ist rausgegangen in der Pause, obwohl das Stück ja wahnsinnig anspruchsvoll ist.“

Mathias Jena, damaliger Vorsitzender des Kreisjugendrings, hielt anlässlich der Premiere im Freizeittreff am Biederstein am 12. Juni 1989 einen bewegenden Vortrag. Darin heißt es u.a.: „Heute wäre ihr 60. Geburtstag. Der 60. Geburtstag jenes Mädchens, dessen Tagebuch wir wohl alle gelesen haben und das (zumindest mich) mehr ergriffen, mehr erschüttert, mehr bewegt hat als die nackten Zahlen der Millionen von Toten, die wir im Geschichtsunterricht gelernt haben. ‚Die Zahlen zu nennen oder gar darüber zu feilschen, ist bereits menschenunwürdig‘ sagte Theodor W. Adorno in seinem berühmt gewordenen Vortrag ‚Erziehung nach Auschwitz‘“, den er 1966 im Hessischen Rundfunk gehalten hat.

Millionen schuldloser Menschen wurden Opfer der faschistischen Barbarei, aber richtig begreifen, wirklich verstehen lernen wir das Ausmaß des Hasses und der Vernichtung vielleicht besser am Schicksal eines einzelnen Menschen, den wir näher kennen. Ein Mädchen und ihr Schicksal – eines unter Millionen – will uns die Theatergruppe des Kreisjugendringes heute Abend näher bringen. Das Tagebuch eines Mädchens, so alt wie unsere Schauspielerinnen heute, das selber im Lager Bergen-Belsen an Typhus starb und dessen Mutter im Vernichtungslager Auschwitz ermordet wurde. Warum ist es gerade der Kreisjugendring, der dieses Theaterstück wieder zur Aufführung bringt? Ich meine, weil dies zwar ein Stück über die Vergangenheit ist, seine Aussage sich aber in die Zukunft richtet, und Zukunft ist eine vorrangige Sache der Jugend und der kommenden Generationen. Und so ist unsere Besinnung an diesem Jahrestag nicht eine ausschließlich rückwärtsgewandte.“

Die Aktualität des Themas wurde Anne Ziegler-Weispfennig erst richtig bewusst, als sie nach der Aufführung von einem jungen Türken angesprochen wurde: „Der hat mich angetippt und gesagt: Weißt du, wenn du jetzt den Judenstern abmachst und schreibst dir ‚Türke‘ auf die Brust, wäre das eigentlich auch ein Stück.“ Die Feindbilder wechseln. Muslime und Russen sind es derzeit, und leider musste man 2014 in deutschen Städten wieder antisemitische Sprechchöre vernehmen. Jugendprojekte wie dieses könnten immens dazu beitragen, Bewusstsein zu schaffen: bei einer Jugend, die es teilweise cool findet, „Jude“, „behindert“ oder „Opfer“ bei Wortgeplänkeln im Pausenhof als Schimpfworte zu verwenden. Wer ungenügend aufgeklärt ist, kann sich vielleicht mal in ein abwertendes Pauschalurteil gegen eine Minderheit versteigen. Niemand, der das Leben und Leiden dieses Einzelmenschen Anne Frank wirklich in seine Seele aufgenommen hat, wird dies jedoch guten Gewissens künftig tun können.

Das Theater ist besonders geeignet, den Einzelfall lebendig und eindrucksvoll vor Augen zu führen. Anne Ziegler-Weispfennig sagte dazu im Interview mit „Unsere Zeit“: „Das Medium Theaterarbeit ist ungeheuer wichtig. Wenn ich heute Lehrer wäre, ich würde bestimmt geschichtliche Themen ‚erspielen‘. Ich glaube, dass jetzt, nach dieser Premiere, sich Arbeitskreise finden, die diskutieren, was können wir machen. Das ist erst mal der Ansatz. Wir haben eine Initialzündung gesetzt für antifaschistische Aufklärungsarbeit.“ Ein Appell, der leider zu wenig gehört wurde.

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