Das Wurmloch

 In Kurzgeschichte/Satire, Roland Rottenfußer

ZweiErden«Wenn wir so weiter leben wollen wie bisher, brauchen wir zwei Planeten.» Ressourcenverbrauch, Bevölkerungswachstum und Umweltzerstörung werden die Erde bald an die Grenze ihrer Belastbarkeit führen. Leider haben wir keinen zweiten Planeten. Und wenn doch? Roland Rottenfußers Satire ist reine Science Fiction. Ähnlichkeiten mit der Realität sind purer Zufall.

Nur wenige Lichtjahre von der Erde entfernt haben Astronomen ein Wurmloch entdeckt. Es verbindet unseren Planeten direkt mit dem Delta-Quadranten der Galaxie. Wurmlöcher nutzten die Krümmung des Raums in der 4. Dimension aus. An einem Beispiel: Die beiden Seiten eines Din-A-4-Blatts sind 30 cm voneinander entfernt. Krümmt man das Blatt jedoch, nähern sich die beiden Enden einander an. Nur 45 Flugtage braucht ein Shuttle neuester Bauart, um den Delta-Quadranten zu erreichen. Dies wurde von Astronauten und Wissenschaftlern bereits für ausgiebige Erkundungsfahrten genutzt. Eine Sensation verursachte vor zwei Monaten die Entdeckung des erdähnlichen, bewohnten Planeten Nurgali durch das Forschungsteam von Prof. Bartholomew Cluster. Auf der Erde herrschte helle Aufregung, als der Exobiologe die Existenz humanoider Wesen bestätigte, die er als «freundlich und kulturfähig» beschreibt.

Wenige Tage, nachdem sich Prof. Cluster der Weltpresse gestellt hatte, wurde ihm von dem globalen Firmenkonsortium SchulzTech ein lukratives Angebot unterbreitet. Er sollte den Konzern beim Aufbau von Wirtschaftskontakten mit den Nurgalianern beraten. Cluster zeigte sich interessiert, machte seine Mitarbeiter aber vom Verlauf eines Spitzengesprächs abhängig. Zu dem Treffen waren ebenfalls erschienen: Jep Fugger, Managing Director der Kapitalanlagegesellschaft ProfitBiz, die SchulzTech gehört. Seiko Harakiri, internationaler Vertriebsleiter der Produktgruppe Elektronik. Hier ein Gesprächsausschnitt.

Harakiri: Ich möchte betonen, dass es unsere Firmengruppe nicht um die Ausbeutung von Rohstoffen geht. Die Rohstoffvorkommen auf Nurgali sind nicht annährend erforscht.

Cluster: Das beruhigt mich. Ich hatte schon befürchtet, die Einheimischen sollten aus schnödem Profitinteresse aus ihrer Heimat vertrieben werden.

Harakiri:. Dies hier ist die Realität, Herr Professor, keine Science Fiction. Die Wahrheit ist, dass SchulzTech bei allen Aktivitäten vor allem um das Wohl der Nurgalianer besorgt ist.

Cluster: Da bin ich erleichtert.

Fugger: Sie müssen hier nicht Ihre Seele verkaufen, Professor Cluster. Ehrlich gesagt weiss ich auch gar nicht so genau, was mit «Seele» gemeint ist (lacht und zwinkert Harakiri zu). Es gibt derzeit auf der Erde niemanden, der die Bewohner von Nurgali besser kennt als Sie. Dieses Wissen möchten wir nutzen, um florierende Handelsbeziehungen zwischen beiden Planeten aufzubauen. Begreifen Sie die historische Chance, die in dieser Entdeckung liegt?

Cluster: Natürlich, wir können viel voneinander lernen, eine Synthese schaffen zwischen den besten Errungenschaften der Erde und von Nurgali.

Fugger (lacht lauthals): Synthese? Quatsch! Die überlegene Kultur schluckt die unterlegene – Gesetz der Evolution. Die Erde ist die Bundesrepublik, und Nurgali ist die DDR, wenn Sie verstehen. Die Chance liegt woanders: Jahrelang haben uns Gutmenschen gepredigt, wir bräuchten zwei Erden, um unseren Lebensstil so weiterzuführen wie bisher. Es war klar, was damit gemeint war: Schränkt euch ein, konsumiert weniger. Ich bitte Sie: Wie sollen wir unsere Investoren zufrieden stellen, wenn weniger konsumiert wird wie bisher? Merken Sie jetzt, worauf ich hinaus will? Wir haben ja jetzt zwei Erden!

Cluster: Und das heisst?

Fugger: Das ist doch sonnenklar. Wir müssen keinerlei Abstriche an unserem Lebensstil machen, welche Befreiung! Überlegen Sie mal, 11 Milliarden humanoide Wesen, keiner von ihnen weiss, was ein Kühlschrank oder ein DVD-Player ist – unerschöpfliches Konsumentenmaterial!

Harakiri: Wie ist es z.B. in meiner Sparte: Handys, SmartPhones? Meinen Sie, da wäre ein Markt vorhanden auf Nurgali, Herr Professor?

Cluster: Die Nurgalianer haben nichts, was einem Telefon vergleichbar ist.

Harakiri: Aber wie können die so überhaupt leben?

Cluster: Oh, nicht schlecht. Sie pflegen ihre Gärten, haben Sex, sitzen mit Wein aus Xuaxu-Früchten auf ihrer Terrasse, verehren ihre Muttergöttin und verlassen nur selten ihre nähere Nachbarschaft

Harakiri: Und was machen sie, wenn sie kurzfristig eine Verabredung absagen müssen – ohne Handy?

Cluster: Die Nurgalianer sagen keine Verabredungen ab, sie halten sie ein.

Harakiri: Ich sehe schon, die beiden Spezies sind inkompatibel. Leiden diese Wesen nicht furchtbar unter ihren primitiven Lebensverhältnissen?

Cluster: Ich habe nicht den Eindruck. Es sind zufriedene Leute.

Harakiri: Um Gottes Willen! Wie sollen wir denn mit Zufriedenen Geschäfte machen?

Fugger: Da fehlt Ihnen die Fantasie, Herr Kollege. Ich nenne nur ein Stichwort: Medien. Wir sind dabei, kleine Videofilme zu produzieren, nurgalianisch synchronisiert. Wir liefern sie zusammen mit DVD-Playern massenweise an die Bevölkerung. Wir sagen, das sind Begrüssungsgeschenke, mit denen sie unsere Kultur kennen lernen können. In diesem Film werden die Nurgalianer viele Dinge kennen lernen, die ihren Alltag verschönern. Dinge, die sie leider auf ihrem Planeten nicht haben: SmartPhones, Klingeltöne, MP3-Player, Selfie-Sticks, Browser, Router, Receiver, Flatrates, Casting-Shows, Zigaretten …  Irgendwann wird es dort als angesagt gelten, den Lebensstil auf der Erde nachzumachen.

Cluster: Wenn sie diese Dinge aber gar nicht brauchen …!?

Fugger: Seit wann kümmert es einen Vertriebsprofi, ob Produkte gebraucht werden? Wirtschaftswachstum kann schon längst nicht mehr mit Produkten generiert werden, die die Leute tatsächlich benötigen. Die Nurgalianer haben keine Ahnung, was sie schon in einem Jahr für völlig unentbehrlich halten werden. Oder war Ihnen vor 15 Jahren bewusst, dass ein Navi im Auto lebenswichtig ist?

Harakiri: Eins verstehe ich noch nicht, Herr Fugger: Wie sollen die Nurgalianer diese Produkte bezahlen? Mit Rohstoffen?

Fugger: Im Prinzip ginge das, es wäre aber nicht effizient. Besser, wir erzählen ihnen, dass sie Produkte von der Erde nur gegen Dollar kaufen können. Wir reden ihnen ein, dass Dollars auch für den internen Zahlungsverkehr praktisch sind. Wir drucken Scheine und geben sie unter einer kleinen, aber entscheidenden Bedingung an sie aus: Sie müssen sie innerhalb eines Jahres zurückbezahlen: gegen Zinsen.

Harakiri: Aber wo sollen sie das Geld für die Zinsen hernehmen, wenn es gar nicht im System vorhanden ist?

Fugger: Von anderen Nurgalianern. Die Gewinner unter ihnen werden das Geld mit Zins zurückzahlen. Die Verlierer werden, wenn der Zahlungstermin da ist, mit leeren Händen dastehen. Sie werden sich verschulden müssen, um ihren Verpflichtungen nachzukommen. Und da niemand gern in diese unkomfortable Situation kommt, kurbelt unser kleiner Trick gleich den Wettbewerb an. Bisher ist den Nurgalianern ja nicht mal bewusst, dass es ihnen an Wettbewerbsfähigkeit mangelt.

Cluster: Aber lohnt sich das für die Bank – Schuldner, die niemals alles zurückzahlen können?

Fugger: Aber ja. Wir drucken ja nur Geld, wenn jemand bereit ist, sich bei uns zu verschulden. Die Bank verleiht kein Geld, das sie selbst dringend braucht. Wir haben also nichts zu verlieren, aber viel zu gewinnen. Um die Schulden abzuarbeiten, könnten Nurgalianer bei noch zu gründenden Firmen anheuern, in die wiederum wir investieren. Nach einiger Zeit wird jeder Nurgalianer die geliehene Summe zurückgezahlt haben. Nicht aber die Zinsen, für die darf er in alle Ewigkeit schuften.

Cluster: Und wenn sich die Nurgalianer weigern, die Zinsen zu bezahlen?

Fugger: Es wird ihnen nichts anderes übrig bleiben. Wir verhandeln mit ihren Häuptlingen, versprechen ihnen Handys und Privilegien. Bedingung: Sie müssen versprechen, dass die Rückzahlung von Schulden an die Erde stets oberste Priorität hat. Sie werden das Geld notfalls mit Waffengewalt von ihren eigenen Leuten eintreiben.

Cluster: Und Sie meinen, dass die sich das gefallen lassen?

Fugger: Die Erdenbewohner lassen es sich seit Jahrhunderten gefallen. Gemessen daran, wie wenig sie die Zusammenhänge durchschauen, gibt es auf der Erde kein intelligentes Leben.

Cluster: Aber warum wollen Sie denn die armen Nurgalianer zugrunde richten? Sie haben uns doch nichts getan.

Fugger: Darum geht es ja nicht. Unsere Aktion dient einem viel edleren Zweck. Höchstes Ziel allen politischen Handelns ist es, Investoren Anlagemöglichkeiten zu verschaffen. Ich hoffe, Sie begreifen jetzt, was die Entdeckung Nurgalis bedeutet. Wir haben dort nicht nur unbegrenzte Absatzmärkte; nicht nur eine Natur, die wir noch über Jahrzehnte kaputt wirtschaften können, bevor sie kollabiert; nein, diese Entdeckung löst ein weiteres drängendes Problem.

Cluster: Und das wäre?

Fugger: Es wird viel vom Leid der Armen geredet, weil die sich mit ihrem Gejammer stets in den Vordergrund drängen. Es gibt aber noch ein anderes, ein verstecktes Leid, das die Betroffenen meist schweigend ertragen: das der Reichen.

Cluster: Das meinen Sie nicht ernst!?

Fugger: Sie kennen meine Klientel nicht, Herr Professor; ich dagegen habe täglich mit ihnen zu tun. Und ich sage Ihnen: Sie leiden!

Cluster: Worunter?

Fugger: Unter dem erbarmungslosen Druck, Anlagemöglichkeiten für ihr Vermögen zu finden. Ich spreche jetzt nicht von einer Million oder selbst 10 Millionen Euro. Versuchen Sie einmal, sich eine Zahl wie «50 Milliarden» vor Augen zu führen! Können Sie sich vorstellen, was diese Leute für Probleme haben? Kommen Sie mir jetzt nicht mit Ferienhäusern an der Mittelmeerküste oder mit Segelyachten. Sie mögen fünf Yachten und zehn Häuser besitzen und sind immer noch erst bei einer Grössenordnung von 20 Millionen. Bleiben 49 Milliarden, 980 Millionen.

Cluster: Könnte man das Geld nicht den Armen geben?

Fugger: Schön gedacht, Herr Professor. Aus diesem karitativen Bestreben heraus hat unser Firmengründer ja die Schulz-Stiftung gegründet: eine Suppenküche für die Ärmsten der Armen. Unsere ehrenamtlichen Mitarbeiter durchwühlen täglich die städtischen Mülltonnen nach Essbarem. Aus den Resten macht unsere Stiftung dann eine Suppe.

Cluster (verdrückt sich eine Träne): Entschuldigen Sie, es berührt mich immer wieder, zu sehen, dass die Menschen doch gut sind.

Fugger (auch etwas gerührt): Ja, nicht wahr? Aber das löst die Probleme unserer Investoren nicht. Sie könnten Millionen spenden, es würde die Zinsen nicht aufwiegen, die täglich auf deren Konten fliessen.

Harakiri: Wenn ich so viel Geld hätte, würde ich mir Politiker kaufen, die dafür sorgen, dass kein Cent von meinem Vermögen verloren geht.

Fugger: Gute Idee, aber da kommen Sie auf keinen grünen Zweig. Für zwei Millionen, umgelegt auf ein Monatshonorar für Beratertätigkeit, bekommen Sie heutzutage schon einen Fraktionsvorsitzenden oder Ex-Minister.

Harakiri: Und wenn ich mir ein Medienimperium zusammenkaufen würde … Das könnte den Menschen erklären, warum es im Interesse aller ist, dass mein Vermögen immer weiter wächst.

Fugger: Im Prinzip haben Sie Recht. Das Problem ist nur: Alle wichtigen Medien vertreten diesen Standpunkt ohnehin schon. Diesbezüglich besteht also keinerlei Handlungsbedarf. Also wohin mit dem Geld?

Harakiri: Jetzt bin ich mit meinem Latein am Ende.

Fugger: Das waren wir auch lange. Aufgrund der geschilderten Problemlage sind die Gelder, die unserem Fond zur Verfügung stehen, ins Unermessliche gewachsen. Es wurde immer schwieriger, Menschen zu finden, die bereit waren, sich zu verschulden. Investoren gerieten in ein entwürdigendes Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Schuldnern.

Cluster: Aber Schuldner wird es doch immer geben. Denken Sie an Steuern, Krankenkassenbeiträge, Gebühren, 1-Euro-Jobs, prekäre Beschäftigung – unsere Politiker tun doch alles, damit es den Menschen an Geld fehlt.

Fugger: Das genau ist unser Dilemma. Wir wollen, dass es Schuldner gibt, aber denen, die am nötigsten Geld brauchen, können wir keinesfalls welches leihen.

Cluster: Warum nicht?

Fugger: Wie sollen Sie es je zurückzahlen, geschweige denn den Zins dafür aufbringen? Die Menge des Geldes, das heute nach Anlagemöglichkeiten sucht, ist so gross, dass selbst ein Planet voller Sklaven keinen angemessenen Gewinn erwirtschaften kann.

Harakiri: Wie sollen wir sonst einen angemessenen Gewinn erwirtschaften?

Fugger: Mit zwei Planeten voller Sklaven.

Harakiri: Sie sind ein Genie, Herr Fugger. Was hätten wir nur gemacht, wenn Nurgali nicht entdeckt worden wäre?

Fugger: Ja, was hätten wir dann gemacht?

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