Die 9 Sargnägel der Demokratie

 In Politik (Inland), Roland Rottenfußer

Die repräsentative Demokratie in der ursprünglich intendierten Form ist gescheitert, wenn die Repräsentanten das „demos“ (Volk) nicht mehr repräsentieren, sondern es zur Unterwerfung unter die Interessen einer dritten Kraft aus dem Wirtschafts- und Finanzsektor zwingen. Natürlich sagt niemand offen: „Wir schaffen jetzt die Demokratie ab.“ Die Menschen dürfen noch immer wählen, was sie wollen, solange sie nur das denken können, was sie sollen. Die Hauptaufgabe „demokratisch gewählter“ Politikern besteht in einem solchen System paradoxerweise im Demokratieabbau, also in der Begrenzung demokratischer Volksmacht auf das für die Finanzoligarchie Unschädliche. (Roland Rottenfußer)

Am Horizont der Geschichte dämmert seit einiger Zeit ein kollektiver Alptraum auf: die beängstigende Vision eines weltweiten, regional in Nuancen differierenden, in seinen Denkgrundlagen jedoch weitgehend einheitlichen Unterdrückungssystems, das auch als „Demokratur“ bezeichnet worden ist. Gemeint ist eine durch polizei- und obrigkeitsstaatliche Strukturen geschützte kapitalistische Oligarchie mit demokratischen Reststrukturen, die jedoch nur Feigenblattfunktion haben. Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung ist bei jedem Einzelstaat ein bisschen anders, das Endergebnis könnte jedoch das gleiche sein. So entwickelt sich in China die alte Ein-Parteien-Diktatur in eine kapitalistische Richtung, während der Kapitalismus in den NATO-Staaten durch Anwendung zunehmend polizeistaatlicher Mittel immer diktatorischer wird. In Russland wurde eine demokratische Episode unter Gorbatschow und Jeltsin zur Etablierung einer neureichen Oligarchenkaste genutzt, deren Beute nun unter Putin durch Rückkehr zu „gewohnten“ totalitären Staatsstrukturen abgesichert wird. Allen Modellen gemeinsam ist eine Auffassung vom Staatsvolk als gefügige Menschenherde, von „eingebetteten“ Medienchorknaben in politischen Tiefschlaf gelullt, vom Staat der Wirtschaft zur möglichst effizienten ökonomischen Verwertung ausgeliefert.

Die repräsentative Demokratie in der ursprünglich intendierten Form ist gescheitert, wenn die Repräsentanten das „demos“ (Volk) nicht mehr repräsentieren, sondern es zur Unterwerfung unter die Interessen einer dritten Kraft aus dem Wirtschafts- und Finanzsektor zwingen. Natürlich sagt niemand offen: „Wir schaffen jetzt die Demokratie ab.“ Die Menschen dürfen noch immer wählen, was sie wollen, solange sie nur das denken können, was sie sollen. Die Hauptaufgabe „demokratisch gewählter“ Politikern besteht in einem solchen System paradoxerweise im Demokratieabbau, also in der Begrenzung demokratischer Volksmacht auf das für die Finanzoligarchie Unschädliche.

Dies geschieht mit Hilfe einiger Tricks, die ich auch die 9 Sargnägel der Demokratie genannt habe. Ich will sie hier anhand der deutschen Verhältnisse etwas präzisieren.

1. Scheinalternativen: Mehrere Parteien, die im Grunde dasselbe sagen, treten zu Scheingefechten gegeneinander an. Was wirklich im Interesse des Volkes wäre, wird gar nicht erst Teil der Angebotspalette im Politikbetrieb. Wie in einem kleinen bayerischen Landgasthof darf man zwischen Schweinebraten und Schweinshaxe wählen, für Vegetarier gibt es überhaupt kein Gericht auf der Karte – er kann gegen sein Gewissen wählen oder muss hungrig nach Hause gehen.

2. Marginalisierung echter Alternativen: Die derzeitigen Strukturen bringen es mit sich, dass viele Bürger nicht das wählen, was sie wollen, sondern das, wovon sie meinen, dass es noch ehesten Chancen hat, die Macht zu erringen. Die undemokratische 5%-Hürde entmutigt Partei-Neugründungen, erschwert deren Finanzierung, behindert den Zustrom kompetenten Personals aus allen Teilen der Gesellschaft, bringt kleine Parteien in den Medien praktisch zum Verschwinden und versteckt sie wirksam vor dem Volk. Häufig kommt es so zu taktischen Wahlentscheidungen nach dem Prinzip des „geringeren Übels“

3. Versagen von Kontrollinstanzen: Bundesverfassungsgericht und Bundespräsident werden durch Persönlichkeiten aus dem selbem „Lager“ besetzt, neoliberale Böcke zu Gärtnern gemacht. Letztlich „kontrolliert“ sich der wirtschaftshörige politische Mainstream spätestens seit der Installation des ehemaligen IWF-Chefs Köhler selbst. So war es u.a. möglich, dass 2005 ein vom Volk auf vier Jahre gewähltes Parlament eigentlich nur deshalb aufgelöst wurde, weil ein einzelner Mann – Gerhard Schröder – es so wollte. Köhler und Deutschlands oberste Richter winkten den demokratiewidrigen Akt durch. In Heiligendamm hat das Bundesverfassungsgericht eine weitere Erosion des Demonstrationsrechts zugelassen, indem es zuließ, dass Protest nur in großer räumlicher Entfernung von dem Ereignis stattfinden konnte, gegen das protestiert wurde.

4. Volksentscheide – nein danke! Plebiszite auf Bundesebene sind bis heute nicht möglich. Eine große Koalition der vier „Altparteien“ empfindet den Gedanken an mehr Kontrolle durch direkte Demokratie wohl als ein Sägen am Ast der eigenen Macht und stellt sich quer. Ähnlich wie beim lange Zeit unterbundenen Frauenwahlrecht bestimmen hier die schon Privilegierten per Mehrheitsentscheid, dass die noch nicht Privilegierten weiter klein gehalten werden können. Ein langjähriger Bürgerrechtler, Bernhard Fricke von der Münchner Umweltinitiative „David gegen Goliath“, sagte zu diesem Thema: „Wir haben uns mit einer zunächst von den Siegermächten ausgestalteten Demokratie zufrieden gegeben, die im Grundgesetz einen sehr reifen, bedenkenswerten Niederschlag gefunden hat. Allerdings sind die Grundrechte in einem langen Prozess immer mehr ausgehöhlt worden – teilweise bis zur Substanzlosigkeit. Es hat auch nie eine Volksabstimmung stattgefunden über unsere Verfassung. Auch nicht später, bei der Währungsunion, bei der Wiedervereinigung, bei der europäischen Verfassung. Diesem Volk wird das Mitspracherecht in solch existenziellen Fragen bis heute vorenthalten, es wurde in einer grenzenlosen Arroganz von seinen Repräsentanten für unmündig erklärt.“

5. „Ohren zu und durch“: Die gängige politische Praxis besteht darin, die Anliegen von Massendemonstrationen und anderen Meinungskundgebungen der Bevölkerung einfach zu ignorieren. Die Bürger wurden so über mehrere Jahrzehnte zu einer Politik- und Demonstrationsmüdigkeit erzogen. Aus der relativ geringen Anzahl der Demonstrierenden wird dann gern eine Zustimmung zur herrschenden Politik abgeleitet. In Wahrheit ist sie wohl eher ein Zeugnis von Resignation, die durch die Weigerung der Politiker, ein Ohr für die Anliegen des Volkes zu haben, mit verursacht wurde. Die Herrschenden deuten gleichsam eine achselzuckende „Besser-als-nix-Beziehung“ zu einer heißen Liebesaffäre zwischen dem Volk und seinen Repräsentanten um.

6. „Mut zu unpopulären Entscheidungen!“: Politiker ermutigen sich laufend gegenseitig dazu, gegenüber dem Volksanliegen hart zu bleiben. Der „Mut“, sich „populistischen Strömungen“ entgegenzustemmen, gilt geradezu als Adelsprädikat für die Zugehörigkeit zur politischen Kaste. Dabei ist es schlicht undemokratisches Denken und Arroganz. Franz Josef Strauss sagte, ein Politiker solle „dem Volk aufs Maul schauen, ihm aber nicht nach dem Mund reden“. Gemeint ist: Zuhören schadet nichts, solange wir (die Politiker) hinterher doch tun, was wir wollen. Kein moderner Politiker kann es sich leisten, jene Kräfte, denen er eigentlich zu Dienst verpflichtet ist, durch Rücksicht auf etwas Banales wie den Volkswillen zu verärgern. Politischer Mut in den 2000er-Jahren lässt sich auf eine Formel bringen, mit der Willy Brandts ursprüngliche Vision in ihr Gegenteil verkehrt wurde: „Weniger Demokratie wagen“.

7. Gleichschaltung der Mainstream-Presse: Ein trauriges Kapitel. Die Medien hierzulande vertreten überwiegend die Interessen ihrer (meist superreichen) Besitzer, ihrer Anzeigenkunden aus der Wirtschaft und der politischen Kräfte, denen sie verpflichtet sind. Natürlich braucht eine Zeitung auch die Zustimmung von Lesern, die werden aber mit Vorliebe durch Zufuhr leicht verdaulicher Banalitäten benebelt. Noam Chomskys Bahn brechendes Buch „Media Control“ beschreibt den Propagandacharakter der US-amerikanischen Medien sehr gut. Fernsehen, Radio, Zeitungen und Zeitschriften bestimmen nicht nur, was wir denken, sondern durch ihre Themenauswahl auch, worüber wir nachdenken bzw. welche für uns vielleicht wichtigen Themen gar nicht erst die Schwelle unseres Bewusstseins überschreiten. Von Alex Cary stammt folgende treffende Beobachtung: „Das Zwanzigste Jahrhundert kann durch drei bedeutende politische Entwicklungen charakterisiert werden: durch die Zunahme von Demokratie, durch die Zunahme institutioneller Macht und durch die Zunahme von Propaganda, die dazu dient, jene institutionelle Macht vor der Demokratie zu schützen.“

8. „Meinungsforschung tut nichts zur Sache“: In immer mehr politischen Grundsatzfragen ist die Ablehnung einer überwältigenden Bevölkerungsmehrheit mit Händen zu greifen und wird durch verschiedene unabhängige Meinungsforschungsinstitute belegt. Dies gilt etwa für die Einführung der Gentechnologie in der Landwirtschaft oder den Bundeswehreinsatz in Afghanistan. Wenn solche Umfrageergebnis bekannt werden, heißt es aber schlicht: Regierungen werden durch Wahlen bestimmt, nicht durch Meinungsforschung. „Repräsentative Demokratie“ ist ein schönes Wort, aber wen repräsentieren die Repräsentanten heute eigentlich? Bürger wünschen sich „Volksvertreter“, die ihren Willen während der ganzen Legislaturperiode berücksichtigen, keine Autokraten, die sich, einmal gewählt, vier Jahre lang völlig taub gegen jede Bekundung des Bürgerwillens stellen. Demokratie sollte mehr sein als eine auf vier Jahre begrenzte Ein- oder Zweiparteiendiktatur, nach deren Ablauf aus einem Pool ähnlich gesinnter Politiker die nächste Machtelite (oder dieselbe noch einmal) gewählt werden kann. In einer weitgehend in sich geschlossenen neoliberalen Gesinnungsgemeinschaft – aufgeteilt auf vier nur in Nuancen voneinander abweichenden Parteien – verbleibt als einzige Kontrollinstanz die Angst des Politikers, abgewählt zu werden. Auch diese Bedrohung verliert angesichts zunehmend zynisch geplanter Politikerkarrieren jedoch seine Schrecken. Amtsinhaber haben sich im Fall der Abwahl – wie Gerhard Schröder – ihre Pöstchen in der Wirtschaft längst im Voraus gesichert: indem sie sich beim künftigen Arbeitgeber durch entsprechendes Entgegenkommen in der politisch noch aktiven Phase beliebt machten. Ob Merkel oder Schulz demnächst die Kanzlerschaft (wieder)erlangen – es dürfte die beiden ähnlich tangieren, wie die Frage, welcher von zwei Mannschaftskameraden Fußballer des Jahres wird. Man hat seinen persönlichen Ehrgeiz, aber man weiß die gerechte (neoliberale) Sache doch auch beim Anderen in guten Händen.

9. Polizeistaat auf dem Vormarsch. Die jetzige Welle polizeistaatlicher Maßnahmen gleicht einer Restauration, die unmittelbar auf das Ancien Regime folgt – ohne den Zwischenschritt einer Revolution. Die Absicht besteht klar darin, eine mögliche Protestbewegung schon im Keim zu ersticken. Noch gängiger als extreme Maßnahmen wie Käfighaltung ist allerdings der Trend, Demonstrationen für die Demonstrierenden so „unbehaglich“ zu gestalten, dass sich viele davon abschrecken lassen, ihr Demonstrationsrecht wahrzunehmen. Scharfe Demonstrationsauflagen, ein oft übertriebenes, martialisches Polizeiaufgebot und eine strenge räumliche Trennung zwischen den Protestierenden und den Adressaten des Protests sind demokratiefeindliche Auswüchse einer zunehmend nervösen Staatsmacht. Gerade in München fühlt man sich bei Demonstrationen in der Regel überwacht, unerwünscht und von einer Atmosphäre latenter Gewaltdrohung bedrückt, eher als würde man wie eine Gruppe Kriegsgefangener zwischen Polizeispalier durch die Straßen getrieben. “Sicherheitspolitiker” agieren nach dem Grundsatz: Bürgerrechte, die nicht mehr weginterpretiert werden können, müssen aus der Verfassung gestrichen werden.

Sind wir also auf dem Weg in die postdemokratische Gesellschaft? Demokratie kann streng genommen gar nicht abgeschafft werden, weil es sie in der Geschichte nie in Reinform gegeben hat. Egalitäre Demokratie („Ein Kopf – eine Stimme“) stand schon immer in einem gewissen Spannungsverhältnis zu Bestrebungen einer sich überlegen wähnenden Elite, ihren Interessen ein überproportionales Gewicht zu verleihen. Dieses Spannungsverhältnis ist derzeit in Richtung einer ausschließlichen Dominanz der politischen und wirtschaftlichen „Obrigkeit“ aus dem Gleichgewicht geraten. „Alle Tiere sind gleich, aber einige sind gleicher alle andere“, spottete George Orwell in seiner Satire „Animal Farm“. Die Demokratie befindet sich auf einer abschüssigen Bahn in Richtung Selbstauflösung.

Insofern ist es tatsächlich schon ein Hoffnungszeichen, dass in Hamburg und anderswo einmal nicht die Polizei allein bei allem, was geschah, die Gesetze des Handelns bestimmte. Begrenzte (und überwiegend gewaltfreie) Ordnungswidrigkeiten sowie gelungene Ausbruchsversuche aus der von der Ordnungsmacht vorgegebenen „Protestreservaten“ sind ein Event mit Signalwirkung – unabhängig davon, ob die Protestierenden ihre politischen Ziele durchsetzen konnten. Die deutsche Zivilgesellschaft – vertreten durch eine Avantgarde mutiger und besonnener Aktivisten – kann durch Aktionen gewaltfreien Ungehorsams einen Teil ihrer Würde wiedererlangt. Einer Würde, die ihr durch Jahrzehnte der Duldungsstarre angesichts eskalierender Zumutungen seitens der Staatsmacht abhanden gekommen war.

Natürlich darf man den Zustand des „kreativen Chaos“ nicht zu einseitig idealisieren. Man denke nur daran, was geschähe, wenn Rechtsradikale oder Fußball-Hooligans die „zivil Ungehorsamen“ wären und wenn die Staatsmacht vor deren Ansturm kapitulierte! Allerdings befinden wir uns nicht, wie in manchen alten John Wayne-Filmen, in einer Situation der Gesetzlosigkeit, in der sich eine ordnende Macht überhaupt erst gegen ein anarchisches Ur-Chaos behaupten muss. Vielmehr haben wir es heute mit einer überregulierten Gesellschaft zu tun, in der sich eine kleine „Elite“ alle faktische Gestaltungsmacht gesichert hat und die restlichen Bürger (über das Kreuzlein am Wahlabend hinaus) systematisch von der Mitwirkung am demokratischen Prozess ausschließt. Regelverletzungen bei Demostrationen sind ein bescheidener Ansatz dazu, ein bürgerschaftliche Gegenmacht zu schaffen, was ich begrüße, solange dabei nur Vorschriften und nicht die Menschenwürde beteiligter Polizisten verletzt werden.

Demokratie ist eine Errungenschaft im besten Sinn des Wortes, und sie muss in jeder Epoche neu errungen, ausgebaut und gegen Angriffe verteidigt werden. Selbst wenn es heute um nichts anderes ginge, als sich ihrem Verfall entgegenzustemmen, ihn für einige Zeit aufzuhalten oder nur zu verlangsamen, dann wäre dieser Versuch jede Anstrengung wert. Wir haben heute Hochachtung vor jenen Gruppierungen und Einzelkämpfern, die seinerzeit „nein“ sagten zum Verfall der Weimarer Republik unter dem Ansturm des braunen Massenwahns. Eugen Drewermann schrieb: „Es lohnt sich nicht nur, es ist unbedingt nötig, die Wahrheit zu leben, egal, in welch einer Form und zu welcher Zeit sie sich im Raum der Geschichte durchsetzen wird.“ Vielleicht aber stirbt die Demokratie weniger an der Stärke ihrer Gegner als an der Gleichgültigkeit jenes „Demos“ (Volkes) für das sie einmal geschaffen wurde

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