Die Markenkinder 2/3

 In Kurzgeschichte/Satire, Roland Rottenfußer

BabyHandyEinblicke in das Erziehungssystem der ZukunftIm ersten Teil dieser Satire von Roland Rottenfußer (gestern auf dieser Seite) haben wir die Kinder-Zeichentrickserie “Handy Flummys” kennengelernt. Der Erzähler, ein Reporter, wurde von Education Manager Guido Schicklgruber auf dem Gelände der privaten Kinder-Aufzuchtanstalt “Kid’s Paradise” herumgeführt. Wird sich nun endlich Wiederstand gegen die Vereinnahmung der Kinder durch ökonomische Indoktrination regen? Lesen Sie selbst. (Roland Rottenfußer)

Teil 2: Patrizias Abschied

Die Babyklappe war nichts als ein knapp 1 Meter langer beheizter Kasten, den man mit weichen Kissen ausgelegt hatte. Sobald jemand von der Straße aus sein Baby durch den Spalt schob, löst das Durchbrechen einer Lichtschranke einen Alarm im nahe gelegenen Wärterhäuschen aus. »Kein Baby ist jemals länger als eine Minute dort in dem Kästchen gelegen, da brauchen Sie keine Angst zu haben. Der Tod der Kleinen ist das letzte, was unsere Firma sich wünscht. Einer unserer internen Wahlsprüche heißt schließlich nicht umsonst: ‚Tote kaufen keine Handys’.« Schicklgruber lachte breit über den gelungenen Witz.

»Sie dürften sich nicht von den Horrormeldungen aus der Presse beeinflussen lassen«, wechselte Schickelgruber plötzlich das Thema. Offenbar spielte er dabei auf den Fall der unglücklichen Jelena Blatskova an, die sich vor zwei Wochen durch den Sturz vom Dach eines 20-stöckigen Hochhauses das Leben genommen hatte. Die Russland-Deutsche hatte ihr Baby aus sozialen Gründen gleich nach der Geburt in der Baby-Klappe des Otter Kid Paradise deponiert. Nach Jahren intensiver Schuldgefühle hatte sie wieder den Kontakt zu ihrem Kind gesucht. Der Otter-Konzern hatte ihr Begehren jedoch mit dem Hinweis auf den vertraglich vereinbarten Rücknahmeausschluss abgewiesen. In der Tat hatten die Mütter durch Bedienung eines interaktiven Baby-Annahmeprogramms an der Außenmauer einen rechtsgültigen Vertrag mit Otter abgeschlossen. Wer mehrmals die »O.k.«-Taste gedrückt hatte, überließ sein Kind definitiv dem Konzern und verzichtete auf jedes Recht, es jemals in seinem Leben wieder zu sehen. War das Kind volljährig, hatte es in der Regel nicht mehr das Bedürfnis die Mutter zu suchen. Für Frau Blatskova waren die nervliche Anspannung und die Selbstvorwürfe zu viel geworden. Nachdem das Gericht dem Otter-Konzern in allen Punkten Recht gegeben hatte, suchte sie den Weg in den Freitod.

»Die Frau galt längst vor der Geburt des Kindes als psychisch labil«, sagte Schickelgruber wie zur Verteidigung gegen einen von mir gar nicht erhobenen Vorwurf. »Es heißt, sie habe ihre Liebhaber wie die Hemden gewechselt und sei zweimal wegen akuter psychotischer Schübe in der Geschlossenen gelandet. Eine egoistische Frau, der das Jugendamt ihr Baby ohnehin hätte entziehen müssen. Hier bei Otter erhielt das Kind wenigstens eine Chance, sich zu einem Menschen zu entwickeln. Viele Mütter draußen sind nun einmal nicht mehr in der Lage, den steigenden Anforderungen von Beruf und Elternschaft gerecht zu werden. Die Leistungen, die ein Arbeitgeber in Zeiten eines immer härteren Standortwettbewerbs legitimerweise von seinen Angestellten verlangen muss, damit sie sich für die Firma rechnen, lässt eine ausreichende Kinderbetreuung in vielen Fällen nicht mehr zu. Wer also soll die Verantwortung für all die vernachlässigten Kids übernehmen? Dazu sind viel Zeit und Geld sowie das nötige Know-How in der Kinderbetreuung nötig. All dies kann die freie Wirtschaft zur Verfügung stellen. Allerdings …«, Schickelgruber lächelte Einverständnis suchend zu mir hinüber, »die Gesellschaft muss auch begreifen, dass ein Wirtschaftsunternehmen wie Otter nicht die Caritas ist. Wir möchten, dass sich unser aufopferungsvoller Einsatz für das deutsche Erziehungswesen über kurz oder lang für uns rechnet. Und das funktioniert nur, wenn aus den hungrigen Mäuler von heute die Handy-Kunden von morgen werden. Sie verstehen, dass wir die Art der geistigen Ausrichtung, die unsere Kinder nehmen werden, nicht dem Zufall überlassen können.«

»Aber können die Kinder von Fremden wirklich das bekommen, was sie brauchen? Was ist mit Liebe?«, wandte ich ein.

»Sehen Sie«, belehrte mich Schickelgruber, »Unsere Kinder bekommen gerade so viel Liebe, dass sie überleben können; und sie bekommen gerade so wenig, dass in ihrem Inneren eine Leere bleibt, die durch stets wechselnde Konsumobjekte ausgefüllt werden kann. In Prinzip funktioniert die Gesellschaft draußen genauso, wir hier arbeiten nur konsequenter und mit einer weit geringeren Fehlerquote.«

Mein Gesichtsausdruck muss ein wenig missbilligend gewirkt haben, denn Schicklgruber fühlte sich zu weiteren Erklärungen genötigt. »Die Reproduktion von Neu-Konsumenten ist für eine funktionierende Wirtschaft viel zu wichtig, als dass wir sie jener Minderheit leiblicher Eltern überlassen könnten, die für diesen Job tatsächlich geeignet sind. Noch immer ist die Mehrheit der Bürger der Überzeugung, dass jemand ein Kind erziehen sollte, nur weil er es geboren oder gezeugt hat. Aber schauen Sie sich doch mal viele der Eltern an, die draußen rumlaufen: Konsumverweigerer, Apostel der Bescheidenheit und Wesentlichkeit, Feinde des Wachstums und der Standortsicherung – wenn man solchen Individuen die Erziehung überlässt, fallen deren Kinder doch als Konsumenten für uns komplett aus! Gewisse Mütter prägen ihr Kind durch viel Liebe und Aufmerksamkeit auf sich und erzählt ihm dann, dass es wichtigere Dinge im Leben gibt als Handys und MP3-Player. Ob sie’s glauben oder nicht, es gibt solche Eltern: Die gehen mit ihren Kindern in den Wald und bauen mit ihnen Männchen aus Tannenzapfen und Zweigen, und die sind zufrieden damit – ein Alptraum! Wenn jeder seinen Kindern nur noch das geben würde, was sie für ihre Entwicklung tatsächlich benötigen, dann würde doch ein kompletter Industriezweig wegbrechen.«

Wir waren ein Stück an der Mauer entlang gegangen und hatten das Haupttor erreicht. Von dort wandten wir uns wieder in Richtung der Wohngebäude im Inneren der Anlage. Ein wenig eingeschüchtert von der vehementen Verteidigungsrede meines Führers nickte ich ihm nur beflissen zu. Ich wollte das Thema nicht vertiefen, da meine Aufmerksamkeit von einer zauberhaften Erscheinung in ihren Bann gezogen wurde. Eine reizvolle, etwa 40-jährige Frau mit langem braunem Haar kam auf dem Weg direkt auf uns zu.

»Wie unangenehm«, flüsterte mir Schicklgruber zu. »Die Lachner. Lassen Sie sich von ihr nicht beeinflussen. Ich habe sie entlassen müssen – ein Missbrauchsfall.«

Unter dem vom Wind durcheinander gewirbelten Haar blitzten die schönen, wie von schlaflosen Nächten umschatteten grünen Augen der Frau den Manager mit verhaltener Wut an. »Jetzt haben Sie, was Sie wollten, Herr Schicklgruber«, sagten sie mit ihrer etwas rauen aber wohlklingenden Stimme. Ihr voller Mund, auf dem noch verwischter weinroter Lippenstift lag, öffnete sich beim Reden weit wie der einer Bühnenschauspielerin, die durch eine überdeutliche Diktion sicher gehen will, dass sie verstanden wird. »Aber freuen Sie sich nicht zu früh. Eines Tages wird Jakob aufwachen und erkennen, was hier gespielt wird. Es gibt etwas tief in ihm drin, was Sie nicht zerstören können. Ich habe durch meine Arbeit den Funken in ihm angezündet, habe ihm beigebracht, dass es eine Welt ohne Otter-Werbung gibt und dass er sich – wenn er groß ist – auf die Suche machen soll, diese Welt für sich zu entdecken.«

»Wie kommen Sie darauf, dass es ein so genanntes ‚Inneres’ in den Kindern geben könnte, auf das wir keinen Zugriff haben?«, erwiderte Schicklgruber höhnisch. »Wir sind es, die dieses Innere erschaffen habe und es kontrollieren. Wir kontrollieren ihre Träume und ihre Hoffnungen, wir bestimmen, was sie hassen und was sie lieben sollen. Ohne uns ist so ein Kind ein Nichts, ein leeres Blatt Papier, das wir nach unserem Belieben beschreiben können.«

»Da bin ich anderer Meinung«, sagt Frau Lachner trotzig. »Etwas in den Kindern wird aufstehen und sich gegen Sie wenden. Was Sie tun, ist – gegen die Natur!«

»’Natürlich’ ist, was jemand von Geburt an erlernt und erprobt hat«, parierte Schicklgruber souverän. »Unsere Kinder lernen, dass es nichts natürlicheres gibt als den Besitz eines Handys, eine I-Pods, einer Soundcard oder eines MP3-Players. Sie erfahren, dass es kein noch so komplexes Thema gibt, das nicht im Format einer SMS ausgedrückt werden kann. Sie lernen, dass es keine größere Liebe gibt als Papa Otters Liebe zu seinen Kindern und keine Solidarität unter den Menschen außer der Solidarität gegenüber dem Konzern.«

Anstatt einer Antwort, wandte sich die Frau plötzlich zu mir um und gab mir mit einem offenen Blick und einem angedeuteten Lächeln die Hand: »Patrizia Lachner«, stellte sie sich vor. »Es tut mir leid, dass Sie das hier mit anhören müssen.«

Ich nannte kurz meinen Namen und den Grund meiner Anwesenheit im Kid’s Paradise und versicherte ihr, dass mir ihr Streit mit Guido Schickelgruber nichts ausmachte.

»Wenn Sie Journalist sind«, sagte Patricia und berührte mich mit einer kurzen, irritierenden Geste am Arm, »sagen Sie den Leuten draußen, dass man hier Monster zu erschaffen versucht, Zombie-Kinder, herangezüchtet für ein Leben, das den Namen ‚Leben’ nicht verdient.«

»Verlassen Sie bitte das Firmengelände!«, unterbrach Schicklgruber, und zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass er seine Contenance zu verlieren drohte. »Oder soll ich die Sicherheit rufen? Sie wissen doch, dass wir Ihnen Hausverbot erteilt haben.«
Patrizia schaute mich noch einmal aus ihren weit aufgetanen grünen Augen an, mit einem Blick, der fordernd, fragend und bittend zugleich war, dann ging sie ohne ein Wort.

Ein Junge kam aus den Büschen auf sie zugelaufen, etwa sieben Jahre alt. Ich erkannte ihn gleich als jenen Jungen, der nach der Handy-Flummy-Sendung als letzter den Raum verlassen hatte. Die Otti-Otter-Mütze bändigte kaum sein wildes, orangerotes Haar. Patrizia sank ohne Zögern in die Knie, und der Junge rannte wie mit einer großen Bogensehne abgeschossen in ihre geöffneten Arme. »Geh nicht weg, Patrizia!«, rief er und unterdrückte einen Impuls zu weinen, während die Erzieherin seinen Hinterkopf sanft an sich drückte.

»Ich muss, Jakob – leider«, sagte Patrizia. »Glaub mir, ich würde auch lieber hier bei dir bleiben.«

»Wir wollen doch zusammen ans Meer fahren«, sagte der Kleine verzweifelt. »Du hast mir doch immer davon erzählt: Da wo die Wellen schöner rauschen als jeder Klingelton, wo die Luft nach Salz schmeckt und der Wind so stark weht, dass er dich fast umbläst.«

»Ja, da gehen wir zusammen hin, mein Schatz. Aber du musst erst größer werden, noch ist die Mauer zu hoch für dich.«

Zwei bullige Ordnungskräfte mit Gummiknüppeln am Gürtel hatten sich bedrohlich hinter Patrizia aufgebaut.

»Du weißt ja, wo du mich findest«, sagte sie zu Jakob und gab ihm einen letzten Kuss auf seine rötlichen Schläfenlocken.

»Gehen Sie jetzt, Sie haben schon genug Unheil angerichtet!« Es war die nun gar nicht mehr so glatt-freundliche Stimme von Guido Schickelgruber.

Als Patrizia an mir vorüber auf den Ausgang zuging, fühlte ich, dass ihre Hand kurz die meine streifte. Ich spürte einen kleinen Zettel in meinen Fingern, ergriff ihn und steckte ihn, ohne dass es jemand sehen konnte, in meine Hosentasche. Eine Nachricht? Ihre Telefonnummer? Ich bildete mir nicht ein, dass Patrizia Lachners unerwartete Aufmerksamkeit meiner Ausstrahlung als Mann galt, die wie ernüchternde Lebenserfahrung gezeigt hatte, durchaus »widerstehlich« war. Ich gestehe aber, dass ich mich für einen kurzen Moment zu solchen Träumereien hinreißen ließ. Wahrscheinlich wollte mir Patrizia in Wahrheit eine Enthüllungsgeschichte anbieten. Aber was konnte es sein, was sie mir anzuvertrauen hatte? Ich hatte nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Herr Schicklgruber entschuldigte sich bei mir für diesen unerfreulichen Vorfall und führte mich, wie angekündigt, zu den Unterkünften, wo ich mehr über das Erziehungskonzept von Otter Kid’s Paradise erfahren sollte.

(Im dritten Teil dieser Geschichte lesen Sie morgen: Wie wird es mit dem kleinen Jakob weitergehen? Wird der Held der Geschichte die gut aussehende Patrizia wiedersehen?)

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