Die Vision

 In FEATURED, Kurzgeschichte/Satire

Zu viele negative Nachrichten in diesem Magazin? Hier ist mal etwas wirklich Erbauliches: ein gerechtes Gesundheitssystem, Ressourcenschonung, die Schlachthäuser abgeschafft… Schön, oder? Aber keine Angst, unser Magazin bleibt unheimlich kritisch. Bei dem einzigen erfreulichen Artikel seit langem handelt es sich nur um eine Vision, eine Utopie. Unser Visionär V.C. Herz hat sie erdacht.

 

Mein Wecker klingelt, genervt haue ich auf die Schlummertaste. Ich will jetzt nicht aufstehen. Ich habe doch gerade noch so tief und fest geschlafen. Warum muss es schon wieder morgen sein? Nach dem dritten Alarm reicht es mir, dann stehe ich halt auf. Es hilft ja doch nichts.

Ich springe unter die Dusche, mache mir einen Kaffee und gönne mir ein leckeres, großes Müsli. Langsam steigt meine Laune wieder. Draußen scheint die Sonne, ich öffne das Küchenfenster und frische, angenehm kühle Luft strömt in die Wohnung. Von draußen höre ich das Zwitschern der Vögel.

Als ich das Haus verlasse, stolpere ich an der letzten Stufe und stürze. „Scheiße!“, fluche ich, während ich auf meine blutverschmierte Hand blicke. Zum Glück gibt es in meinem Haus auch eine Arztpraxis, also gehe ich die Treppen gleich wieder hoch.

Dort angekommen, wird die Wunde sofort versorgt und ein Verband angelegt. Die Arzthelferin lächelt mich an: „Wieder wie neu! Vor 100 Jahren würden Sie jetzt noch blutend im Wartezimmer sitzen! Frohes 100-Jahre-Fest!“ Ich bedanke mich und verlasse die Praxis. Stimmt, heute vor 100 Jahren trat das große Reformpaket in Kraft. Seither gibt es keine Zwei-Klassen-Gesellschaft mehr im Gesundheitswesen. Keine Krankenkassen für die Reichen mehr. Seither müssen auch Topverdiener mit sozial schwächeren Menschen solidarisch sein, nicht nur der Mittelstand. Seither zahlen alle in dieselbe Krankenkasse ein, und man wird beim Arzt auch nicht mehr nach seinem Jahreseinkommen behandelt. Mit den Rentenkassen hat man damals dasselbe gemacht. Früher war das wie bei den Krankenkassen: Wer richtig viel verdiente, hat einfach nicht mehr in den gemeinsamen Topf eingezahlt, sondern einfach einen eigenen Topf eröffnet. Seit 100 Jahren ist das endlich Geschichte.

Ich schlendere durch die Stadt, überall gibt es Aktionen zum 100-Jahre-Fest. Vor einem großen Bekleidungsgeschäft ist ein Infostand aufgebaut. Das Geschäft informiert dort darüber, welche Klamotten man vor 100 Jahren noch gekauft hat. Über die Bildschirme laufen Bilder von Hasen, denen das Fell abgezogen wird, von abgemagerten Rindern, denen die Schwänze gebrochen werden, von Robben, auf die Menschen einschlagen. Wie viele andere Passanten bleibe ich stehen und halte eine Gedenkminute ab.

Kurz darauf schlendere ich an einem Supermarkt vorbei. Auch hier gibt es Aktionen zum 100-Jahre-Fest. Es werden abgemagerte, hungernde Kinder gezeigt, und daneben Mastschweine. Ich lese ein wenig auf den Plakaten: Früher hat man tatsächlich lieber Tieren etwas zu Essen gegeben als hungernden Menschen. Auf Grafiken wird gezeigt, wie viele Menschen damals noch an Hunger litten. Knapp eine Milliarde. Das sind so unfassbar viele Menschen, das kann man sich gar nicht vorstellen. Als letztes Bild der Ausstellung ein Plakat, auf das einfach nur eine große Null gedruckt ist. Darunter steht klein gedruckt, dass heute niemand mehr hungern muss.

Nach hundert Metern erreiche ich endlich meinen Arbeitsplatz – eine Forschungseinrichtung. Auch in unserem Institut feiern wir das 100-Jahre-Fest. Es gibt Kuchen, Kaffee und auch hier wieder Infomaterial. Eine der größten Errungenschaften der großen Reformen war es wohl, unsere Gesellschaft von einer Konsum- in eine Wissensgesellschaft zu verwandeln. Statt immer mehr und mehr zu konsumieren, wollen die Menschen heute immer mehr und mehr Wissen. Statt den Konsum anzukurbeln, arbeiten heute alle nur noch der Wissenschaft zu. In der Kaffeeküche sind deshalb ein paar Infomaterialien ausgelegt: Es wird gezeigt, wie viel Plastik ein durchschnittlicher Bürger vor 100 Jahren verbraucht hat und wie viel Benzin verschwendet wurde. Daneben die Zahlen von heute – nur noch ein Bruchteil.

Nach ein paar Stunden verlasse ich das Büro – ich treffe mich mit einer Freundin zum Essen. Da sie in einem anderen Stadtteil wohnt, steige ich in die Bahn. An der Haltestelle sind ebenfalls Stände aufgebaut. „100 Jahre Ressourcenschonung“ heißt es da. Ich schüttle den Kopf, nachdem ich alles gelesen habe. Vor 100 Jahren hatte tatsächlich fast jeder Mensch ein eigenes Auto. Was für eine Verschwendung von Ressourcen. Heute sind alle öffentlichen Verkehrsmittel kostenlos, Autofahren dagegen kostet wegen der hohen Steuern ein kleines Vermögen und ist nur noch über Car-Parks möglich. Ein eigenes Auto kann man sich gar nicht mehr kaufen. Warum sollte man auch? Warum in aller Welt sollte jeder ein eigenes Auto vor der Wohnung haben, das den Großteil der Zeit nur herumsteht? Es hat doch schließlich auch nicht jeder eine Bohrmaschine zu Hause. Die braucht man schließlich höchstens fünfmal im Jahr, da reicht es doch vollkommen aus, wenn der Hausmeister eine hat und diese bei Bedarf verleiht. Bin ich froh, in der heutigen Zeit zu leben!

Nachdem ich alle Plakate gelesen habe, steige ich in die nächste Bahn. Alle fünf Minuten fährt eine, man muss quasi nie warten. Zehn Minuten später steige ich aus. Nach zwei Minuten Fußweg bin ich bei dem Schnellrestaurant angelangt. Tanja, meine Freundin, wartet bereits am Eingang. „Die machen auch was zur 100-Jahre-Feier!“, sagt sie mir, und wir gehen hinein.

Gegessen haben wir dann allerdings nichts. Ich hatte zwar Hunger, aber es ging einfach nicht. Diese Bilder. Im Eingangsbereich standen zwei Monitore. Auf dem linken liegen Filme aus Schlachthäusern – das sind Gebäude, die man damals eigens dafür errichtet hatte, rund um die Uhr Tiere umzubringen. Tiere, die verzweifelt um sich schlugen. Man sah auch Bilder aus so genannten Tierställen. Da wurden kleine Schweinchen einfach so totgeschlagen. Andere wurden ohne Betäubung kastriert oder verstümmelt. Dann auch Videos, in denen kleine Küken in tausend Teile zerstückelt wurden – Massenweise. Auf dem zweiten Bildschirm sah man Menschen, die fröhlich um einen Grill saßen und die Überreste dieser Tiere lachend verspeisten. Bilder von Leuten, die ganze Hühnchen gegessen haben. Es war furchtbar gruselig, eigentlich kaum zu glauben – aber so hat man früher wohl gegessen.

Während wir durch den Park schlendern und nebenbei einen Smoothie trinken, meint Tanja plötzlich: „In der regulären Spielzeit ließ sich kein Gewinner feststellen, weshalb das Spiel in die Verlängerung ging. Am Ende wurde das Finale mit 5:4 beim Elfmeterschießen entschieden. Die glücklichen Gewinner feierten die ganze Nacht.“

Ich schaue Tanja verwundert an. „Was für ein Spiel? Warum redest du so komisch? Du interessierst dich doch gar nicht für Fußball. Alles gut mit dir?“

„Und nun zum Wetter“, meint sie. „Von Süden kommen Regenwolken, aber am Vormittag gibt es regional die eine oder andere Sonnenstunde. Einen schönen Tag!“

„Geht’s dir nicht gut? Hallo?“, frage ich Tanja. Sie beginnt plötzlich zu singen…

Ich liege wieder in meinem Bett. Mein Radiowecker läutet lautstark. Scheinbar habe ich das alles nur geträumt. Ich stehe auf, springe unter die Dusche. Im Radio erzählt der Kommentator, dass das Münchner Oktoberfest heute wieder eröffnet wird. Man rechnet dieses Jahr damit, dass eine halbe Million Hühnchen dort verzehrt werden.

Ich gehe aus dem Haus. Vor meiner Haustür hat scheinbar gestern Nacht jemand seinen Döner wieder ausgekotzt. Ich höre den Straßenlärm, rieche den Smog. Bis zum 100-Jahres-Fest gibt es noch einiges zu tun, denke ich mir etwas enttäuscht, während ich mich auf den Weg zur Arbeit mache.

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