Die wundersame Schuldvermehrung

 In Roland Rottenfußer, Spiritualität

“…dass unsere Gerechtigkeit und Weisheit vernichtet und ausgerottet werde aus unserem Herzen.” (Martin Luther)

“Teilweise entwerfen die Religionen das Bild eines Erbsenzähler-Gottes, der Strafpunkte in einer kosmischen ‘Flensburg-Datei’ verbucht. Wir wissen auch, wie es genannt wird, wenn wir einmal nicht bezahlen können: Schuld. Das Wort ist nicht umsonst mit ‘Schulden’ verwandt. Wenn der verunsicherte Gläubige dann die Frage stellen, wie er die Schuld begleichen kann, läuft es vielfach auf ‘spirituelle Austeritätspolitik’ hinaus: sich einschränken, büßen, fasten, darben. Wer sich die Fülle des Lebens für eine Weile verbietet, der kann auf Schuld(en)erlass hoffen.” (Auszug aus dem Buch von Roland Rottenfußer und Monika Herz: „Schuld-Entrümpelung. Wie wir uns von einer erdrückenden Last befreien“, Goldmann Verlag”)

Der Blick des Jünglings im Priesterornat bohrte sich mit vorwurfsvoller Eindringlichkeit in meinen. „Christi Blut, für dich vergossen!“, intonierte er in einem Tonfall, der keinen Zweifel zuließ, dass es ihm ernst war. Bitter ernst. Ich war noch recht jung, als ich jenes Abendmahl nahm, frisch konfirmiert. Ich weiß noch, wie ich bei mir dachte: „Für mich? Aber ich wollte doch nicht, dass Jesus für mich stirbt. Hätte er mich gefragt. Ich hätte ihm sein Opfer gern erlassen.“ Meine Hand am Kelch zitterte. Wenn ich von dem Wein nippte, war das nicht indirekt ein Schuldeingeständnis? Der Pfarrer drängte mich mit einer Geste zu trinken.

Zum Glück zeigte sich sehr bald, dass Christi Blut nicht nur für mich, sondern auch für meinen eigentlich ziemlich harmlos aussehenden Nachbarn am Altar vergossen wurde. Für alle hier in der Kirche. Und nicht nur das: für die gesamte Menschheit. Ich wusste das, ich hatte es ja im Unterricht schon gelernt. Das Abendmahl hätte ein Akt der Befreiung und der Reinigung sein sollen. Irgendwie fühle ich mich aber beschmutzt. Dass mir vergeben wurde, ist schön. Weniger schön ist, dass ich erst durch das Vergebungsritual überhaupt darauf aufmerksam gemacht wurde, dass an mir etwas nicht o.k. gewesen war.

Ein Opfer, Millionen Täter – was für eine wundersame Schuldvermehrung! Die Idee, Jesus sei für uns alle gestorben, ist ein besonders drastisches Beispiel für eine häufige Methode der Schuldschöpfung: das unaufgeforderte Geschenk. Es mag banal klingen, aber schon einfache Werbegeschenke können etwas wie ein Schuldgefühl erzeugen. Schuld im Sinne von Dankesschuld. Eine einseitige Vorleistung seitens des Schenkers drängt nach Ausgleich durch den Beschenkten. In Kaufhäusern kann es etwa passieren, dass einem für einen Einkaufsgutschein im kärglichen Wert von 5 Euro die Adresse abgeluchst wird. Wir könnte man dem netten Schenker auch einen derart harmlosen Gefallen verweigern? Die Folge sind wöchentliche lästige „Newsletters“ oder Postwurfsendungen mit Sonderangeboten. Deren Löschung oder Entsorgung kostet so viel Zeit, dass man sich die gewonnen 5 Euro inzwischen leicht hätte anderswo verdienen können.

Das ist ein harmloses Beispiel. Wie steht es aber mit existenziellen Geschenken? Unsere Eltern haben uns – ohne dass wir es verlangt hätten – das Leben geschenkt? Wer sein Leben hasst, dem dürfte nicht zum Danken zumute sein; wer es aber liebt – stünde ihm nicht Dank gut an? Solche Fragen sind heikel, und die meisten werden für sich wohl einen Mittelweg wählen. Es ist schön, den eigenen Eltern grundsätzlichen Respekt und Dankbarkeit zu bezeugen. Man muss sich aber auch nicht tausendmal für jeden Löffel Brei, den man als Baby genossen hat, bedanken. Sie haben damit ja eine Pflicht erfüllt, die sie selbst freiwillig übernommen haben. Wir müssen frei genug bleiben, unser eigenes Leben zu leben – auch frei von „Dankesschuld“.

Ein noch heiklerer Punkt ist Dankesschuld gegen Gott. Nach der Überzeugung von Gläubigen war „er“ es, der das Leben geschenkt hat, den Himmel, die Erde, die uns ernährt, die Pflanzen und Tiere. „Er“ war es, der unsere Seele erschuf, unser Augenlicht und die Fähigkeit zur Freude. „Er“ ist es, der unser Schicksal zum Guten lenkt, einschließlich der Wahl des richtigen Partners oder Berufs. Ist eine solche Dankesschuld nicht geradezu erdrückend? Und wie, wenn wir Gott nicht nur unser Dasein „schulden“, sondern unser Gewissen zusätzlich noch durch Sünde und Ungehorsam belasten?

Wir müssen an dieser Stelle etwas weiter ausholen und die Frage stellen. Ist es überhaupt sinnvoll, Religion als ein „Geschäft“ aufzufassen. Vielfach werden schon Beziehungen zwischen Menschen wie Handelsbeziehungen verstanden. „Wenn man brav ist, bekommt man ein Eis, wenn man nicht brav ist, bekommt man kein Eis“, lautet die Belehrung eines Vaters für seinen Sohn in Gerhard Polts Film „Man spricht deutsh“. Ein solcher Dialog setzt ein Machtgefälle voraus. Das Kind ist schwächer und muss sich deshalb unterwerfen. Etwas Ähnliches findet sich in den Religionen, wenn es um das Verhältnis zwischen einer Gottheit und einem einfachen Gläubigen geht. Es findet eine Art Tauschhandel zwischen den kosmischen Mächten und irdischen Untertanen statt. Das Grundprinzip lautet „Da ut des“ (Gib, damit dir gegeben wird). Du gibst gute Taten, Gehorsam, die Befolgung von Regeln, und du bekommst dafür das Paradies, Vorschonung vor Höllenqualen oder die Erleuchtung. Kommt diese Auffassung von Religion wirklich von Gott, oder ist sie nicht eher ein Spiegel unserer irdischen, am herrschenden Wirtschaftssystem geschulten Realität?

Teilweise entwerfen die Religionen das Bild eines Erbsenzähler-Gottes, der Strafpunkte in einer kosmischen „Flensburg-Datei“ verbucht. Wir wissen auch, wie es genannt wird, wenn wir einmal nicht bezahlen können: Schuld. Das Wort ist nicht umsonst mit „Schulden“ verwandt. Wenn der verunsicherte Gläubige dann die Frage stellen, wie er die Schuld begleichen kann, läuft es vielfach auf „spirituelle Austeritätspolitik“ hinaus: sich einschränken, büßen, fasten, darben. Wer sich die Fülle des Lebens für eine Weile verbietet, der kann auf Schuld(en)erlass hoffen. Der Priester wird zu einer Art spirituellem Schuldnerberater und rät zu einer Phase des Wohlverhaltens, vergleichbar einem Privatinsolvenzverfahren.
Eine Privatinsolvenz kennt aber wenigstens eine Begrenzung der Schuld. Als Steigerungsform hat die Kirche die Idee einer untilgbaren Schuld ersonnen. Die „Culpa“ (Schuld) in der Liturgie schwillt dann zur „Maxima Culpa“ an, zur übergroßen Schuld. „Maxima“ meint wirklich das Größtmögliche, nicht mehr zu Übertreffende. Ohne Prüfung des konkreten Falls wird den Gläubigen beim Gottesdienst nahegelegt, dieses „Schlimmstmögliche“ zu bekennen. Die nicht mehr rückzahlbare, grenzenlose Schuld, mündet dann in der Horrorvision einer grenzenlosen Buße, von der nicht einmal der Tod erlösen kann.

Der Theologie der „Erbsünde“ gebührt das fragwürdige Verdienst, diesen Wahnsinn auf die Spitze getrieben zu haben. Sie deutet das Menschsein als prinzipiell schuldhaft – unabhängig von konkreten Taten. Dahinter steht das einseitig verstandene mythologische Konzept vom Sündenfall Adams. Paulus schrieb darüber im Römerbrief: „Derhalben, wie durch einen Menschen die Sünde ist gekommen in die Welt und der Tod durch die Sünde, und ist also der Tod zu allen Menschen durchgedrungen, dieweil sie alle gesündigt haben.“ Dieser Ansatz betrachtet den Menschen als komplett fremdbestimmt. Ein Mensch, Adam, hat allen auf ihn folgenden Menschen die Sünde aufgeladen; ebenso ist es ein einziger, Jesus, der die Hoffnung auf Erlösung verkörpert. Obwohl jedes Tier, jede Blume, jeder Grashalm stirbt, wird selbst der Tod des Menschen noch als Folge einer Sünde gedeutet. Obwohl die Philosophie des Paulus vieldeutig ist und nicht direkt auf Jesus zurückgeführt werden kann, schuf der Kirchenvater Augustinus auf dieser schmalen Basis Anfang des 5. Jahrhunderts das theologische Dogma der Erbsünde.

Nun hätten die Menschen nicht jede fragwürdige Idee auch noch glauben müssen. Verhängnisvoll wirkt es sich jedoch aus, wenn sich eine Vermittlergruppe zwischen Gott und den Menschen schiebt und wenn es diese Gruppe schafft, eine Kultur über Jahrhunderte zu dominieren. Meist ist dies eine „Priesterkaste“, wie es sie im indischen Brahmanismus oder auch in den christlichen Kirchen gab. Diese Vermittler beanspruchen, über den Umfang und die Art der Schuld zu entscheiden. Ebenso über die Bedingungen, unter denen Schulderlass gewährt werden kann. Dies bringt den Schuldschöpfern nicht nur geldwerte Vorteile, es verleiht ihnen auch die vielleicht umfassendste und gefährlichste Form von Einfluss: Macht über die Seelen.

Wir haben über den Ablasshandel der katholischen Kirche schon gesprochen. Wie Erich Fromm in seinem grandiosen Buch „Die Furcht vor der Freiheit“ aufzeigt, darf der Protestantismus diesbezüglich aber seine Hände nicht in Unschuld waschen. Luther und vor allem Calvin haben ein negatives Menschenbild geprägt, wonach nur äußerste Selbsterniedrigung des Menschen Gottes Gnade bewirken könne. So schrieb Martin Luther, es gehe im Römerbrief des Paulus darum, „dass unsere Gerechtigkeit und Weisheit vernichtet und ausgerottet werde aus unserem Herzen und dem inwendigen Gefallen an uns selbst vor unseren eigenen Augen.“ Nur wenn der Mensch einsehe, dass er unfähig sei, aus sich heraus das Gute zu wählen, könne die göttliche Gnade wirksam werden. Johannes Calvin, der Schweizer Reformator, schrieb, nie habe es „ein Werk eines frommen Menschen gegeben, das, wenn es nach Gottes strengem Urteil geprüft wurde, nicht verdammenswert gewesen wäre.“ Nach Calvin hat Gott die Menschen schon vor ihrer Geburt zu Paradies oder ewiger Verdammnis bestimmt. Durch keine noch so gute Tat könne der Mensch der „Prädestination“ (Vorherbestimmung) entrinnen.

Die Idee einer ererbten, zum Wesen des Menschen gehörenden Schuld ist jedoch kein Alleinstellungsmerkmal des Christentums. In der vedischen Schrift „Satapatha Brahmana“ (Alter: mindestens 2500 Jahre) heißt es: „Durch die Geburt wird jedes Wesen als eine Schuld gegenüber den Göttern, den Heiligen, den Vätern und den Menschen geboren. Wenn man ein Opfer bringt, dann weil man den Göttern von Geburt an etwas schuldet.“ In den vedischen Hymnen wird auch die Vorstellung vertreten, der Mensch schulde Yama, dem Gott des Todes, sein Leben. Durch die Geburt rutsche der Mensch automatisch ins „Soll“, und erst der Tod führe zum Ausgleich des Kontos. Der Sachbuchautor David Graeber („Schuld – die ersten 5000 Jahre“) fasst diese Philosophie so zusammen: „Die menschliche Existenz an sich ist eine Form von Schuld.“

Die psychologische Wirkung einer derartigen Weltanschauung ist verheerend. Eine eingeschüchterte Menschheit dichtet den Göttern Krämerseelen an, als würden sie jede Wohltat nur unter dem Vorbehalt genau bemessener Gegenleistungen gewähren. Schlimmer noch: Solche Götter erwarten von den Menschen einen „Zins“ in Form eines Opfers an Lebensenergie. Es scheint, als würden die Himmlischen menschliche Selbsterniedrigung wie einen giftig gewordenen schwarzen Rauch als Nahrung genießen können. Selbstverständlich kennen die meisten Religionen auch Gnade und Vergebung, aber sie machen vielfach deutlich, dass die Vergebung stets „trotzdem“, also unverdientermaßen gewährt wird. Solche „Gnade“ vergibt Taten, von denen ohne diese Vergebung niemand geahnt hätte, dass sie schlimm sein könnten.

Nur die wenigsten Menschen glauben heute noch an die Erbsünde. Man muss aber die unbewussten Spätfolgen einer derartigen Prägung im Auge behalten. Das grundsätzlich negative Menschenbild einiger Religionen besagt, dass Menschen beständig um Vergebung für ihre Schuld, niemals um Würdigung ihrer Verdienste zu bitten hätten. Wenn Ihre Gedanken sehr oft um die Frage kreisen, was Sie falsch gemacht haben, überlegen Sie, ob in Ihrer Jugend nicht auch eine kirchliche Prägung eine Rolle gespielt hat und wie Sie sich gefühlt haben, wenn Sie den bohrenden Blicken Ihres Pfarrers oder Religionslehrers ausgesetzt waren.

Bearbeiteter Auszug aus dem Buch von Roland Rottenfußer und Monika Herz: „Schuld-Entrümpelung. Wie wir uns von einer erdrückenden Last befreien“, Goldmann Verlag, 254 Seite, € 9,99

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