Fernsehtipp zum Wochenende: eine Porträtsendung über Stéphane Hessel

 In FEATURED, Politik

StéphaneHessel

Gerne weisen wir von der HdS-Redaktion auf eine Fernsehsendung an diesem Wochenende hin: am Sonntagabend, den 15. Oktober, bringt „arte“ eine Dokumentation über den Résistance-Kämpfer, Buchenwald-Überlebenden, UN-Diplomaten und Buchautor Stéphane Hessel. Beginn der Sendung: 22:45 Uhr. Ihr erinnert Euch: im Oktober 2010 erschien Stéphane Hessels Aufruf „Empört Euch!“ und wurde zum Welterfolg: Fast zwei Millionen Menschen kauften dieses Buch. In viele Sprachen übersetzt, traf es den Nerv der Zeit, und Konstantin Wecker inspirierte dieser Aufruf zu seinem gleichnamigen Lied „Empört Euch“. (Holdger Platta)

Der Buchenwald-Überlebende und ehemalige UN-Diplomat (der an der Menschenrechts-Charta mitgeschrieben hatte) wurde im Alter von 93 Jahren überraschend zu einem wichtigen Sprecher der jungen Generation. Auch sieben Jahre später, beim diesjährigen G20-Gipfel in Hamburg, wurde Hessels Gedankengut erneut präsentiert, als ein Autoren- und Künstlerensemble, darunter Auma Obama und der Journalist Günter Wallraff, den Aufruf gemeinsam als Statement gegen die Ungerechtigkeiten in unseren Gesellschaften vortrug. In der Zwischenzeit, im Jahre 2012, hatte Stéphane Hessel ein längeres Grußwort beigesteuert zum Buch „Kaltes Land“, das ich gemeinsam mit dem Bremer Universitätsprofessor Rudolph Bauer herausgebracht hatte, ein Buch gegen Hartz-IV, mit dem Untertitel „Gegen die Verrohung der Bundesrepublik. Für eine humane Demokratie“. Da dieses Vorwort Stéphane Hessels viele seiner Gedanken in prägnanter Kurzform zusammenfasst, publizieren wir hier diesen Text in voller Länge, sozusagen als Vorbereitung auf die Arte-Sendung am kommenden Sonntag (Holdger Platta).

Grußwort von Stéphane Hessel

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

ich bin von den Herausgebern dieses Buches gebeten worden, für diese Publikation ein Vorwort zu schreiben, und ich tue dieses sehr gern. Denn dieser Band greift vieles von dem auf, was ich in meinen Aufrufen „Empört Euch!“ und „Engagiert Euch!“ angesprochen habe. Lassen Sie mich dabei die folgenden Überlegungen vor allem betonen:

Erstens: Wie die Leserinnen und Leser meiner beiden Aufrufe wissen, stehen für mich – allerspätestens seit meinem Eintritt in die französische Résistance im Mai 1941 – die Menschenrechte im Mittelpunkt meines politischen Interesses. Die Ideale der Résistance fanden ihren Niederschlag im Programm des Nationalen Widerstandsrates in den Jahren 1944 /45 und haben bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt. Denn wie ich bereits in meinem Aufruf „Empört Euch!“ dargelegt habe: ohne diese Ideale der Résistance wären auch die Wertvorstellungen, wie sie in der Menschenrechts-Charta der UNO am 10. Dezember 1948 verabschiedet worden sind, nicht mit dieser Entschiedenheit und Klarheit aufgenommen worden in dieses für die Menschheitsgeschichte so überaus bedeutsame Dokument.

Zweitens: Für mich wie für die Autorinnen und Autoren der Menschenrechts-Charta besaßen und besitzen dabei vor allem die sozialen Menschenrechte einen ganz besonderen Rang. Gleiches galt bereits für das Programmpapier der französischen Résistance. Freiheit, dieser Grundwert aller Demokratien und allen menschlichen Zusammenlebens, ist nicht realisierbar ohne zuverlässige Systeme der sozialen Sicherheit für alle Menschen auf diesem Planeten. Freiheit muß auch gewährleistet bleiben für die Presse weltweit. Und: Freiheit darf auch nicht am Werkstor enden.

Drittens: So wurde bereits 1945 im Programm des Nationalen Widerstandsrates die Forderung aufgestellt: „Ein vollständiger Plan sozialer Sicherheit mit dem Ziel, allen Bürgern, denen dies nicht durch eigene Arbeit möglich ist, die Existenzgrundlagen zu gewährleisten“. Und in der Erklärung der universellen Menschenrechte, wie sie von der UNO im Winter 1948 zu Paris verabschiedet worden ist, heißt es dazu (ich zitiere aus der Charta ausschnittsweise die Artikel 22 und 25): „Jeder hat (…) das Recht auf soziale Sicherheit mit Anspruch darauf, (…) in den Genuss wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte zu gelangen, die für seine Würde unentbehrlich sind“. Und weiter: „Jeder hat das Recht auf einen Lebensstandard, der seine und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung und notwendige Leistungen“.

Viertens: Ähnliche Entsprechungen zwischen den Programmvorstellungen der französischen Résistance und der Menschenrechts-Charta der UNO existieren auch in puncto Pressefreiheit: „Wir treten ein für die Freiheit der Presse, ihre Ehre und ihre Unabhängigkeit gegenüber dem Staat, der Macht des Geldes und den Einflüssen des Auslandes“ (gemeint waren mit letzterem vor allem Ideologisierungsversuche vom nationalsozialistischen Deutschland aus) – so die Forderungen des französischen Widerstandes. Und in der UNO-Charta heißt es dazu: „Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten“ (Artikel 19).

Fünftens: Mit all diesen Freiheitsrechten – und manchen anderen auch –  steht es heute nicht zum Besten.

Die Medienwelt wird heute von den Reichen beherrscht, ein entschiedenes Ja für eine wirklich unabhängige Presse ist dringlicher denn je.

Und was die sozialen Rechte angeht, so kann von einer echten wirtschaftlichen und sozialen Demokratie nach wie vor nicht die Rede sein, das gesamte Fundament der sozialen Errungenschaften ist heute in Frage gestellt, die Schere zwischen ganz arm und ganz reich öffnet sich immer mehr – weltweit wie auch bei uns in den industrialisierten Ländern! -, und das im Westen herrschende materialistische Maximierungsdenken hat den Globus in eine Krise gestürzt, aus der wir uns befreien müssen, egal, wo uns diese Krise entgegentritt. Um aus meinem Aufruf „Empört Euch!“ zu zitieren:

„Man wagt uns zu sagen, der Staat könne die Kosten dieser sozialen Errungenschaften nicht mehr tragen. Aber wie kann heute das Geld dafür fehlen, da doch der Wohlstand so viel größer ist als zur Zeit der Befreiung, als Europa in Trümmern lag?“

Ich stelle damit eine Frage, die auch das vorliegende Buch stellt. Und das Buch gibt Antworten darauf, die auch meine Antworten sind: die Macht der Reichen und der Lobbyisten muß gebrochen werden, der Einfluß des großen Geldes darf nicht mehr die allesbeherrschende Rolle spielen. Es muß Schluß gemacht werden mit der Verachtung der Schwächsten, mit dem Auseinanderklaffen von extremer Armut – auch in den europäischen Ländern! – und arrogantem Reichtum. Es geht um Wiederherstellung einer umfassenden sozialen Sicherheit, ja, um Wiederherstellung der Möglichkeiten für ein menschenwürdiges Leben, das allen zugutekommt. Deshalb wünsche ich diesem Buch „Kaltes Land!“ Leserinnen und Leser, die sich wie ich mir die Frage stellen: wenn ich denn bemerke, daß es – auch bei mir vor der Haustür oder in unmittelbarer Nachbarschaft! – bedrückende Armut gibt, was wird da von mir gebraucht? – Meine Antwort: zur Stelle sein mit Worten und Taten, mit Herz und Verstand. Das Schlimmste ist die Gleichgültigkeit!

Mir ist bewußt – und den Herausgebern und AutorInnen dieses Bandes auch -:

Um wahrzunehmen, daß es in dieser Welt an manchen Stellen unerträglich zugeht, muß man zuweilen genau hinsehen. Und eine „Ohne-Mich-Haltung“ ist das am wenigsten Akzeptable, was man sich und der Welt antun kann. Doch dieses Buch „Kaltes Land“ versucht ja – nicht zuletzt, indem es die Anregungen aus meinen beiden Aufrufen „Empört Euch!“ und „Engagiert Euch!“ aufs deutlichste aufgreift -, die Augen zu öffnen für diesen aus meiner Sicht größten Skandal in der heutigen – nicht zuletzt in der demokratischen! – Staatenwelt: die Augen zu öffnen nämlich für diese ungeheure Ungleichheit zwischen sehr arm und sehr reich.  Und: dieses Buch stellt ja auch, nach präzisen Schilderungen und Analysen der Notlagen inmitten unserer Wolhstandsnationen, Lösungsmodelle vor – Konzeptionen, die meines Erachtens geeignet sein könnten, die Hoffnungslosigkeit der Menschen überwinden zu helfen und damit die realen Probleme, deren Opfer diese Menschen sind.

Ich würde mich freuen, wenn diese Publikation „Kaltes Land“ beitragen könnte zu unserem gemeinsamen Kampf gegen Entwürdigung und Armut, beitragen könnte zu unserem gemeinsamen Kampf gegen die Resignation und mithelfen könnte bei unserem friedlichen – gleichwohl sehr entschiedenen! – Widerstand gegen das Elend und die Ungerechtigkeiten auf diesem Erdball, übrigens auch in Auflehnung gegen eine oft sich gleichgültig zeigende oder sogar zynisch gebende Medienwelt.

Ich wünsche diesem Buch von ganzem Herzen viel Erfolg.

Paris 2012                                                       Stéphane Hessel

 

 

 

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