Gaza: “Gegossenes Blei” gestern, vergossenes Blut heute

 In Ellen Diederich, Politik (Ausland)
Die Mauer am Ortseingang von Bethlehem, Bildquelle: www.arbeiterfotografie.com

Die Mauer am Ortseingang von Bethlehem, Bildquelle: www.arbeiterfotografie.com

Wenn wir in diesen Tagen wieder die Berichte aus Gaza hören, bleiben viele seltsam distanziert. Sie sind müde vom vielen Nachdenken, Mitleiden und Sich-Aufregen über den schon viele Jahrzehnte andauernden Israel-Palästina-Konflikt. Ellen Diederich, die mehrmals vor Ort war und das Leid der Menschen aus eigener Anschauung kennt, kann sich nicht heraushalten. Sie vergleicht die heutigen Vorgänge unwillkürlich mit der “Operation Gegossenes Blei”, mit der Gaza 2008/2009 “platt gemacht” wurde. Die Berichterstattung in den meisten westlichen Medien kann sie nur als Verhöhnung empfinden. Ellen Diederichs Beitrag schließt an ihre Artikel von letzter Woche und an die Diskussion über Israelkritik und den (vermeintlichen oder tatsächlichen) Antisemitismus der Linken auf „Hinter den Schlagzeilen“ an.

In diesen Tagen des Juni/Juli 2014 kann ich Nachrichten kaum ertragen. Manchmal möchte ich das Radio aus dem Fenster werfen. Alle jahrelangen Anstrengungen um Frieden scheinen vergeblich. Wie viele Jahre haben wir uns bemüht, die Feindbilder im Ost-West Konflikt und zwischen Israel und Palästina abzubauen, wie viele Anstrengungen hat das bedeutet. Wie viele Treffen, Friedensmärsche, Fahrten mit dem Friedensbus in die so genannten „Feindesländer“, Teilnahme an internationalen Treffen, Interventionen als Frauen bei den Gipfelgesprächen zwischen den USA und der Sowjetunion aus Zorn darüber, dass bei den Gesprächen kein Mensch mit dunkler Hautfarbe und keine Frauen beteiligt waren. Zurzeit sind die Konflikte in der Ukraine und Palästina/ Israel in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Syrien ist fast aus den Nachrichten verschwunden, der Krieg dort wird mit einer kaum vorstellbaren Härte geführt. Die weiteren Kriege kommen nur am Rande vor.

Deutschland ist an all diesen Kriegen durch Waffenlieferungen beteiligt.

Die Tatsache der Eskalation zwischen Israel und Palästina nach der Ermordung dreier israelischer und eines palästinensischen Jugendlichen lässt mich frieren, die Berichterstattung ebenso. Bei all den Nachrichten ist da immer das Wissen, dass uns die vollständigen Wahrheiten vorenthalten, die wirklichen Hintergründe kaum aufgezeigt werden.

„Die israelische Armee hat fünf Palästinenser getötet, seitdem die drei Siedler vermisst werden – seit 18 Tagen – und Dutzende sind von israelischen Armeeschüssen verletzt worden. Außerdem sind in den 18 Tagen fast 600 Palästinenser gekidnappt und verhaftet worden. Seitdem die Körper der drei am Montag gefunden wurden, haben israelische Angriffe, Invasionen und Drohungen wachsende Bedeutung, so werden in den letzten 24 Stunden die Zahlen noch gestiegen sein. Die israelische Luftwaffe führte am Dienstag vor der Morgendämmerung wenigstens 34 Angriffe über verschiedenen Gebieten im Gazastreifen aus und verursachte großen Besitzschaden und mindestens vier Verletzte.
Die WAFA-Nachrichten–Agentur berichtete, dass israelische F16-Kampfflugzeuge Raketen an verschiedene Stellen des Gazastreifens, hauptsächlich landwirtschaftlich genützte und offene Gebiete, außerdem verschiedene Häuser und zivilen Besitz angriff. Örtliche Quellen sagten dass Dutzende von Drohnen die ganze Nacht über Gaza flogen, während israelische Hubschrauber auch weiter Runden über dem Gazastreifen flogen und scharfe Munition abschossen.“
(Saed Banoura IMEMC, deutsch von Ellen Rohlfs, 4.7.2014)

Die Schwierigkeiten mit der Berichterstattung sind nicht neu. Um sie zu verdeutlichen, nehme ich das Beispiel des Krieges mit dem Namen „Gegossenes Blei“, der 2008/2009 in Gaza stattfand. Zu diesem Krieg gibt es eine Reihe unterschiedlicher Berichterstattungen und Kommentare. Ich möchte daran mitarbeiten, einen Mangel auszugleichen. Einen Mangel an Information. „Die Stille und das Schweigen der ‘zivilisierten Welt’ ist noch ohrenbetäubender als die Explosionen, mit denen Gaza unter einem Leichentuch aus Tod und Terror versinkt.“
(Vittorio Arrigoni von ISM – International Solidarity movement – Augenzeugenbericht aus Gaza)

Von verschiedenen Seiten wird Kritik an der israelischen Politik leichtfertig mit den Begriffen Antizionismus und Antisemitismus abgetan. Jede ernsthafte Diskussion wird so abgewürgt. Es gibt kaum andere Begriffe, bei denen so viel Unkenntnis und Oberflächlichkeit herrschen. Ich versuche, zur Klärung beizutragen.

In den meisten Nachrichten unseres Landes sind die nächsten Worte hinter „Palästinenser“: Terroristisch, radikal, islamistisch, gewalttätig, Attentäter. In den Berichten westlicher und israelischer Journalisten und Regierungen heißt es einheitlich: Hamas hat die Waffenruhe gebrochen, Israel muss sich wehren. Der UN-Berichterstatter für die palästinensischen Gebiete, Richard Falk, schreibt in einem Artikel: „Die Gaza Katastrophe verstehen“ u.a.:

„Hamas wird verantwortlich gemacht für den Zusammenbruch des Waffenstillstandes und sie seien nicht willig, ihn zu erneuern. Die Realität jedoch sieht anders aus. Es gab keine substantiellen Raketenangriffe der Hamas während des Waffenstillstandes. Bei zahlreichen öffentlichen Gelegenheiten hat sich die Hamas für eine Verlängerung der Waffenruhe ausgesprochen, jedoch wurde das von Israel negiert. Am 4. November 2008 übte das israelische Militär zahlreiche Angriffe auf die von Israel so bezeichneten palästinensischen Militanten in Gaza aus. Insgesamt wurden durch Israel während der Feuerpause 6 Palästinenser getötet, über 60 verletzt. Danach begannen die Raketenangriffe der Hamas auf Israel.“

Eines der am dichtesten bevölkerten Gebiete der Welt, der Gaza-Streifen in Palästina, wurde mit einem Krieg, der den Namen „Gegossenes Blei“ trug, in einer Aktion des Wahnsinns mit Bomben, Granaten, Weißem Phosphor, Urangeschossen und der neuen Waffe Dense Insert Metal Explosives angegriffen. Das ist eine besonders perfide Waffe: Es ist ein überhitztes Mikro Schrapnell, das beim Aufschlag auf einen Körper sehr starke Verbrennungen verursacht, das Gewebe um die Knochen zerstört, Muskeln lösen sich auf, die inneren Organe verbrennen, Rettung der Verletzten ist nahezu unmöglich.

In diesem Krieg wurden Kinder, Frauen, Männer. Krankenhäuser, Ambulanzwagen, Schulen, Lebensmittellager, Moscheen, Gaslager, das Gefängnis, Fernsehsender, Regierungsgebäude, unzählige Wohnhäuser bombardiert und mit Panzergranaten beschossen. Ärzte und Sanitäter, die Verwundete bergen wollten, wurden dabei getötet. Die Wasserversorgung, die gesamte Infrastruktur wurden systematisch zerstört, Kläranlagen und Brunnen bombardiert, Panzer taten ihr übriges, indem sie Wasserleitungen unbrauchbar machten. 300.000 PalästinenserInnen haben durch diese Zerstörungen keinen Zugang mehr zu Wasser, sind auf Wasserlieferungen der Hilfsorganisationen angewiesen.

Die aktuelle Situation, Sommer 2014:

In diesem Sommer wird der Zugang zum kühlenden Wasser des Mittelmeers für die 1,8 Mio. Bewohner von Gaza nach und nach wegen Verschmutzung geschlossen werden. Es gibt kein Benzin, um die Maschinen zur Behandlung/ Reinigung des Wassers in Gang zu setzen. Die verdorbene Küstenlinie fügt dem mühsamen Leben in Gaza, das durch den Versöhnungspakt (der islamistischen Gruppe Hamas und des vom Westen unterstützten Präsidenten Abbas) keine Veränderung erlebte, nun auch noch dies hinzu.

Baha-al Agha von der Gaza-Umweltbehörde sagte, etwa 100.000 Kubikmeter unbehandeltes Wasser würden täglich ins Meer gespült. „Schwimmen ist verboten“ steht an mehreren Stränden auf Schildern. Aber an einem von Gazas beliebtesten Stränden tummeln sich trotz der Warnungsschilder am Wochenende Dutzende im Wasser, einschließlich Kinder. Es wird von Tag zu Tag schlimmer, wenn es nicht bald wirkliche und schnelle Lösungen gibt“, sagt Agha zu Reuters. Er ruft die palästinensische Einheitsregierung, die Anfang Juni gebildet wurde, auf, sofort zu handeln, bevor Gazas Strände zu einem Katastrophengebiet erklärt werden muss.

“Ägypten hat die meisten von Hamas geführten, etwa 1200 Schmuggeltunnel geschlossen. Da kommt auch kein billiges Benzin mehr durch. Israel hat seine eigene Blockade über Gaza gelegt und genehmigt Brennstoff nur in eingeschränkten Mengen. Dies gilt auch für andere Importe, seitdem Hamas 2007 die Kontrolle übernahm. Aber der Brennstoff aus Israel kostet doppelt so viel wie ägyptische Importe.“
(Gazas Sommer. Abwässer am Strand und Berge von verdorbenem Abfall, Nidal al-Mugrabi, 30.6.2014 ALRAY – Palestinian Media Agency)

Der Krieg 2008/2009 „Gegossenes Blei“ hat 1.300 PalästinenserInnen das Leben gekostet, 1/3 der Getöteten waren Kinder. Über 5.000 Menschen sind verletzt worden. Seit dem Abzug der israelischen Siedler aus Gaza sind mit den Toten dieses Krieges über 3.000 PalästinenserInnen durch das israelische Militär ums Leben gekommen. Im gleichen Zeitraum sind 11 Israelis durch Kassam Raketen getötet worden. Palästinensische Kassam Raketen gegen die israelische Zivilbevölkerung sind nicht zu akzeptieren. Auch diese Angriffe sind Verbrechen.

Seit dem Beginn der 2. Intifada im Jahr 2.000 sind insgesamt über 5.000 PalästinenserInnen durch Israel getötet worden. Seit Beginn der 2000er Jahre setzt die israelische Regierung vermehrt Drohnen zur Überwachung und zum Beschuss des Gazastreifens ein. Seither haben israelische Drohnen Hunderte von palästinensischen ZivilistInnen getötet, Tausende verletzt und zahlreiche Gebäude und wichtige Infrastruktur zerstört.

Die Medien im Westen berichten überwiegend aus der Position Israels. Die palästinensische Seite der Geschichte wird weitgehend ignoriert. Ein Beispiel für den Angriff auf die Pressefreiheit bei uns war die Absetzung der Diskussion um den Krieg in Gaza am 11.1.2009 im 1. Programm. In der Sendung “Anne Will” sollten der Dirigent des israelisch-palästinensischen Orchesters “West-östlicher Diwan”, Daniel Barenboim, der frühere israelische Botschafter Avi Primor, die palästinensische Professorin Sumaya Farhet-Naser und Joseph Fischer, Ex-Außenminister, diskutieren. Kurz zuvor wurde die Sendung ohne Begründung abgesetzt.

Die zum Teil falsche Berichterstattung über den Krieg „Gegossenes Blei“ hing auch damit zusammen, dass Israel während der Angriffe keine ausländischen Journalisten nach Gaza einreisen ließ. Über die weltweiten Aktionen und Demonstrationen, auch die der israelischen Friedensbewegung gegen den Krieg, wurde sehr wenig objektiv berichtet.
Im Krieg stirbt die Wahrheit zuerst. Das war und ist auch hier so. Es ist Propaganda und psychologische Kriegsführung zugleich. Man muss sich als Kriegspartei selber davon überzeugen, dass die Lüge die Wahrheit und die Verfälschung die Realität ist. Nach der Bombardierung der UN-Schule z.B. versuchte Israel, in einer filmischen Dokumentation darzustellen, dass aus dieser Schule geschossen worden sei. Doch selbst die mit Israel sehr verbundene ZDF-Korrespondentin Karin Storch musste zugeben, dass dieser Film bereits von 2007 stammte.

Gaza seit 2001

„Etwa 1,5 Millionen Menschen, der größte Teil von ihnen Kinder, leben zusammengepfercht in einer der am dichtesten bewohnten Region der Erde, ohne Bewegungsfreiheit, ohne Spielplatz und ohne einen Ort, um sich zu verbergen und Schutz zu finden“, schrieben der ranghohe UN-Hilfsvertreter Jan Egeland und Jan Eliasson, der damalige schwedische Außenminister, in “Le Figaro” im Oktober 2006. Sie beschrieben die Menschen, die wie in einem Käfig leben, die weder vom Land noch vom Meer oder aus der Luft zu erreichen sind oder nach draußen können. Ohne regelmäßigen Strom und mit nur wenig Wasser, gequält von Hunger, Krankheiten und ständigen Angriffen durch israelisches Militär und Flugzeuge. Egeland und Eliasson schrieben dies als einen Versuch, das Schweigen in Europa zu brechen, dessen gehorsame Allianz mit den USA und Israel sich darum bemühte, die demokratischen Ergebnisse, mit denen Hamas bei den letzten palästinensischen Wahlen zur Macht kam, rückgängig zu machen.

Gideon Levy und Amira Hass sind Reporter der israelischen Zeitung Haaretz. Im November beschrieb Levy, wie die Leute vor Hunger zu sterben beginnen: „Es gibt Tausende von Verwundeten, Verkrüppelten durch Raketen, unter Schock stehende Menschen, die keine medizinische Behandlung bekommen können. (…) menschliche Schatten streunen durch die Ruinen (…) sie wissen nur, dass die israelische Armee zurückkommen wird und was das für sie bedeutet: wochenlanges eingesperrt sein in ihren Häusern, mehr Tod und mehr Zerstörung in unvorstellbaren Proportionen.“
Amira Hass, israelische Journalistin, hat 3 Jahre in Gaza gelebt und ein dokumentarisch erschütterndes Buch mit dem Titel “Gaza” geschrieben. Sie nennt das Gebiet ein Gefängnis, das zur Schande ihres eigenen Volkes gereicht. Sie erinnert sich, wie ihre Mutter Hannah von einem Viehtransportzug zum Nazi-KZ in Bergen-Belsen im Sommer 1944 laufen musste. Diese sah, “wie deutsche Frauen sich den Zug der Gefangenen anschauten, also nur zuschauten“, schrieb sie. “Dieses Bild hat sich mir sehr eingeprägt, dieses verächtliche Daneben-Stehen und Nur-Zusehen“, sagt Amira Hass.

Der Journalist John Pilger sagt: „Dieses Daneben-Stehen und Nur-Zusehen ist das, was all die von uns tun, die schweigen, weil man sie sonst als Antisemiten bezeichnen würde. Dieses Daneben-stehen und Zusehen ist das, was zu viele westliche Juden tun. Während jene Juden, die die humanistischen Traditionen des Judentums achten und sagen ‘Nicht in meinem Namen!’ als Selbsthasser beschimpft werden. Daneben stehen und nur Zusehen, das ist das, was fast der ganze US-Kongress als Hörige oder Eingeschüchterte der zionistischen ‘Lobby’ tun. Daneben stehen und nur Zusehen, ist das, was ‘objektive’ Journalisten tun, wenn sie die Gesetzlosigkeit entschuldigen, die die Ursache israelischer Brutalität ist, und die historischen Veränderungen im palästinensischen Widerstand unterdrücken, wie die stillschweigende Anerkennung Israels durch die Hamas.”
John Pilger (67) ist ein bekannter Reporter vieler britischer, US-amerikanischer und australischer Zeitungen, Buchautor, Kritiker der US-amerikanischer Politik, mit vielen internationalen Auszeichnungen.

Die allgemeine Lage der Bevölkerung im Gaza Streifen und im Westjordanland ist seit Juli 2001 unter dem Namen „Operation Gerechtfertigte Rache“ oder Dagan Plan (benannt nach dem Mossad Direktor Meir Dagan) ständig verschlimmert worden. Ariel Sharon stellte diesen Plan im Juni 2001 vor. Zentrales Ziel war: Die Zerstörung der Palästinenser Behörde und Entwaffnung aller Streitkräfte. Dieses Ziel wird Stück für Stück angegangen:
– Der Gaza Streifen wurde hermetisch abgeriegelt, zum Ghetto oder „dem größten Freiluftgefängnis der Welt“, wie Bischof Desmond Tutu die Lage bezeichnet. Die israelische Regierung ließ völlig unzureichend Lebensmittellieferungen, Wasser, Medikamente, Treibstoff durch, zeitweilig nur etwa 15 % von dem, was gebraucht wurde. Die aktuelle Unterernährung dort ist vergleichbar mit der der ärmsten Staaten Afrikas südlich der Sahara, mehr als die Hälfte der palästinensischen Familien haben nur eine Mahlzeit am Tag. Die Versorgungslage der Bevölkerung mit Lebensmitteln, Wasser, Medikamenten, Strom, Benzin wurde von Tag zu Tag katastrophaler. Die Erwerbslosigkeit in Gaza beträgt über 60%.
– 2003 begann der Bau der Apartheid Mauer, durch die noch einmal etwa 10 % des fruchtbaren Landes Palästinas annektiert, Dörfer von den Feldern, Verwandte von Verwandten getrennt wurden und die ein Volk quasi einschließt.
– Die Räumung der israelischen Siedlungen im Gazastreifen wurde im Westen als Erfolg verkauft. Ariel Sharon machte im März 2004 deutlich, worum es hier auch ging: Die „Evakuierung“ der jüdischen Bevölkerung, um ein solch brutales Vorgehen, wie es sich seit dem 27.12.2008 zeigt, zu ermöglichen. Das Vorgehen erfordere „No Jews in Gaza“.
– Das Ziel der derzeitigen Angriffe ist, wie im Dagan Plan beschrieben, die palästinensisch kontrollierten Gebiete durch eine militärische Invasion zu zerstören, sie vollkommen zu entwaffnen, die militärische und politische Führung zu vertreiben oder zu töten.

Am 27. Dezember 2008 begann die von Israel so bezeichnete Operation: „Gegossenes Blei“, die seit Juni 2008 zum Zeitpunkt der Verhandlungen über einen Waffenstillstand zwischen Hamas und Israel durch Israel vorbereitet wurde.

Die Hamas

Es ist schwierig, von hier aus die Hamas zu beurteilen. 2006 kam die Hamas durch Wahlen an die Macht. Diese Wahl hatte viele hundert Wahlbeobachter aus der ganzen Welt, die eindeutig bezeugten, dass es demokratische Wahlen waren. Israel begann daraufhin mit der totalen Blockade des Gaza Streifens, Parlamentarier und Minister der Hamas wurden ins Gefängnis gesteckt. Durch israelische Bombardements wurden seit 2006 hunderte Menschen in Gaza getötet. Ein Putschversuch des Warlords Mohammed Dahlan, der von Israel und den USA mit Waffen versorgt wurde, wurde von der in den Wahlen unterlegenen PLO unterstützt. Der Putschversuch scheiterte.

Uri Avnery ist der große alte Mann der israelischen Friedensbewegung. Alles, was ich bis jetzt von ihm gehört und gelesen habe, zielt auf Verständigung und einen Friedensprozess, der die Interessen beider Seiten berücksichtigt. Ich vertraue ihm, die Lage realistisch einzuschätzen. In seinem im Januar 2009 veröffentlichten Bericht: „Wie viele Divisionen“, versucht er eine Charakterisierung der Hamas.

„Das wirkliche Ziel der Angriffe gegen die Menschen in Gaza (abgesehen davon, mehr Sitze bei den kommenden Wahlen zu gewinnen) ist die Beendigung der Hamasherrschaft im Gazastreifen. In der Vorstellung der Kriegsplaner sieht die Hamas wie ein Eindringling aus, der fremdes Land kontrolliert. Die Wirklichkeit ist anders. Die Hamasbewegung hat bei den ausgesprochen demokratischen Wahlen, die 2006 in der Westbank, in Ostjerusalem und im Gazastreifen stattgefunden haben, die Mehrheit der Stimmen gewonnen. Sie gewann, weil die PalästinenserInnen zur Schlussfolgerung gekommen waren, dass die Fatah durch ihre friedliche, also gewaltfreie Herangehensweise nichts von Israel erreicht hat – weder den Stopp des Siedlungsbaus noch irgendeinen bedeutsamen Schritt in Richtung eines Endes der Besatzung oder der Schaffung des palästinensischen Staates. Die Hamas ist tief in der Bevölkerung verwurzelt – nicht nur als Widerstandsbewegung, die den fremden Besatzer bekämpft, sondern auch als eine politische und religiöse Körperschaft, die im sozialen, schulischen und medizinischen Bereich aktiv ist.

Vom Standpunkt der Bevölkerung sind die Hamaskämpfer keine Fremdkörper, sondern die Söhne einer jeden Familie im Gazastreifen wie auch in den anderen palästinensischen Gebieten. Sie verstecken sich nicht ‘inmitten der Bevölkerung’, die Bevölkerung sieht sie als ihre einzigen Verteidiger an. Deshalb gründet sich die ganze Operation auf irrigen Vermutungen. Das Leben der Bevölkerung in eine Hölle zu verwandeln, wird die Bevölkerung nicht dahin bringen, sich gegen die Hamas zu erheben, sondern das Gegenteil erreichen, sie vereinigt sich hinter der Hamas und verstärkt ihre Entscheidung, sich nicht zu ergeben.

Die Hauptsache für die Kriegsplaner war, die Todesrate unter den eigenen Soldaten so gering wie möglich zu halten, da sie wussten, dass die Stimmung eines großen Teils der Pro-Krieg-Öffentlichkeit sich ändern würde, sobald Berichte über eigene Todesopfer kommen würden. So war es beim ersten und zweiten Libanonkrieg. Diese Einstellung spielte eine besonders wichtige Rolle, weil der ganze Krieg ein Teil der Wahlkampagne war. Deshalb wurde eine neue Doktrin formuliert: um Verluste unter den israelischen Soldaten zu vermeiden, solle alles, was in ihrem Weg steht, total zerstört werden. Die Planer waren also nicht nur bereit, 80 Palästinenser zu töten, um einen israelischen Soldaten zu retten, wie es schon geschehen ist, sondern auch 800. Dies bedeutete die bewusste Entscheidung für eine besonders grausame Kriegsführung – und das war ihre Achillesferse.

Eine Person ohne Phantasie wie Barak kann sich nicht vorstellen, wie anständige Leute rund um den Globus auf solche Aktionen wie die Tötung ganzer Großfamilien, die Zerstörung der Häuser über den Köpfen ihrer Bewohner, auf die Reihen von Jungen und Mädchen in Leichensäcken, auf die Berichte über Leute, die tagelang zu Tode bluten, weil die Krankenwagen nicht zu ihnen durchgelassen werden, auf das Töten von Ärzten und Sanitätern, die auf dem Weg sind, Leben zu retten, auf Berichte über das Erschießen von UN-Fahrern, die Lebensmittel bringen, reagieren. Die Kriegsplaner dachten, sie könnten die Welt daran hindern, solche Bilder zu sehen, wenn sie die Presse gewaltsam davon abhalten, zum Schauplatz der Kämpfe zu gelangen. Die israelischen Journalisten waren zu ihrer Schande damit einverstanden, die Berichte und Photos zu bringen, die sie vom Armeesprecher erhalten, als ob dies authentische Nachrichten seien, während sie selbst meilenweit von den Ereignissen entfernt blieben. Ausländische Journalisten wurden gar nicht erst zugelassen, bis sie protestierten und dann zu kurzen ausgewählten und überwachten Trips mitgenommen wurden. Aber in einem modernen Krieg kann eine solch sterile und fabrizierte Sicht alle anderen Perspektiven nicht vollständig ausschließen. Der arabische Sender Aljazeera bringt die Bilder rund um die Uhr und erreicht jedes Haus.

Die Schlacht um den Fernsehschirm ist eine der entscheidenden Schlachten des Krieges. Hunderte Millionen Araber von Mauretanien bis zum Irak, mehr als eine Milliarde Muslime von Nigeria bis Indonesien sehen diese Bilder und sind geschockt. Dies hat eine große Auswirkung auf den Krieg. Das Versagen, das Wesen der Hamas zu begreifen, hat auch ein weiteres Versagen verursacht, nämlich die voraussagbaren Folgen zu verstehen: nicht nur dass Israel den Krieg nicht gewinnen kann – die Hamas kann ihn auch gar nicht verlieren.

Selbst wenn es der israelischen Armee gelingen sollte, jeden Hamaskämpfer bis zum letzten Mann zu töten, selbst dann würde die Hamas siegen. Die Hamaskämpfer würden für die arabische Nation als Vorbilder dastehen, als die Helden des palästinensischen Volkes, als Vorbilder, denen jeder junge Mann in der arabischen Welt nacheifern sollte. Falls der Krieg mit einer noch aufrecht stehenden, wenn auch blutenden aber unbezwungenen Hamas endet – angesichts einer so mächtigen Militärmaschine wie der israelischen – dann würde dies wie ein phantastischer Sieg aussehen, wie ein Sieg des Geistes über das Material. Am Ende ist dieser Krieg auch ein Verbrechen gegen uns selbst, ein Verbrechen gegen den Staat Israel.“
(Uri Avnery, Wie viele Divisionen? Artikel, übersetzt von Ellen Rohlfs, veröffentlicht in der Jungen Welt am 14.1.2009)

Gazas küstennahe Gasfelder

Auch dieser Krieg in Gaza hat ökonomische Hintergründe, es ist auch eine Schlacht um Ressourcen. 1999 wurden ausgedehnte Gasreserven vor der Küste Gazas entdeckt. Im November 1999 wurden die Öl- und Gasausbeutungsrechte zwischen der British Gas, ihrem Partner, der internationalen Consolidated Contractors Company, die den libanesischen Familien Sabbagh und Khouri gehören, aufgeteilt. In einem auf 25 Jahre geltenden Vertrag, auf der palästinensischen Seite von Arafat unterzeichnet, wurde festgelegt: 60% für British Gas, CCC 30%, der Investment Fund, die palästinensische Behörde sollte 10% der Gasvorkommen ausbeuten können. (Haaretz vom 21.10.2007)

60% der Gasreserven entlang der Gaza-Israel Küste gehören zu Palästina. Die Lizenz für British Gas deckt das ganze küstennahe Gaza Gebiet ab, es grenzt an mehrere israelische Gaseinrichtungen. Das Abkommen schließt eine Feldentwicklung und den Bau einer Gaspipeline ein. (Middle East economic Digest vom 5.1.2001)

Die British Gas Gruppe begann 2.000 mit den Bohrungen: Gaza Marine 1 und Gaza Marine 2. Vermutet wird ein Gasaufkommen von 1.4 Billionen Kubikfuß, das entspricht einem Geldwert von etwa 4 Milliarden Dollar. Rechtlich gesehen, gehören die Bodenschätze Palästina. Arafats Tod und die Wahl der Hamas-Regierung bedeuteten de facto das Ende der palästinensischen Behörde im Gazastreifen. Es bedeutete auch, dass Israel de facto die Kontrolle über die Gasreserven an sich zog. Die Verhandlungen von British Gas machte diese von nun an mit der Regierung in Tel Aviv. Die gewählte Hamas Regierung blieb in den Verhandlungen außen vor.

Im Jahre 2001 stellte Ariel Sharon fest: „Israel werde niemals von Palästina Gas kaufen!“ Der oberste Gerichtshof Israels stellte fest: Palästinas Herrschaft über die Gasfelder ist unrechtmäßig, die küstennahen Gasfelder gehören Israel. 2006 hatte die Hamas den Wahlsieg errungen. Die palästinensische Behörde in Gaza unter Abbas war damit beendet. Sie wurde auf die Westbank eingegrenzt. 2007 war der Vorschlag von Olmert, gebilligt vom israelischen Kabinett: Gas von der palästinensischen Behörde zu kaufen. Die 4 Milliarden Dollar sollten aufgeteilt werden, von den 2 Milliarden Profit sollte 1 Milliarde an die Palästinenser gehen.

Das aber sollte in der Realität umgangen werden. Die israelische Regierung und die British Gas arbeiteten einen Deal aus, bei dem sowohl die Hamas, aber auch die palästinensische Behörde umgangen wurden. Der Kernsatz lautet:
„Die israelischen Verteidigungsbehörden wollen, dass die Palästinenser mit Waren und Diensten bezahlt werden. Sie bestehen darauf, dass die von Hamas kontrollierte Regierung kein Geld erhält.“ In dem vorgeschlagenen Vertrag zwischen BG und der israelischen Regierung von 2007 sollte das palästinensische Gas in einer unterirdischen Pipeline in den Hafen von Ashkalon gepumpt und die Kontrolle über den Verkauf an Israel übertragen werden. Das Geschäft kam nicht zustande. Der Chef des israelischen Geheimdienstes Mossad intervenierte aus Sicherheitsgründen.

Mit der Planung für die Operation „Gegossenes Blei“ wurde nach Informationen des israelischen Militärs im Juni 2008 begonnen. Im gleichen Augenblick begann Israel erneut Verhandlungen mit British Gas. Zu dieser Zeit war bereits auf dem Reißbrett ein neues politisch-territoriales Abkommen über den Gaza Streifen entstanden. 3 Monate vor den Bombardierungen am 27. Dezember 2008 liefen Verhandlungen zwischen BG und israelischen Regierungsvertretern. Die Ministerien für Finanzen und für nationale Infrastruktur sowie die Israelische Electric Gesellschaft begannen im November 2008 Verhandlungen wegen des Kaufs von Naturgas mit der BG.

(Vergleiche auch: Michel Chossudowski, Global Research vom 8.1.2009)

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