Gott in den östlichen Religionen

 In FEATURED, Roland Rottenfußer, Spiritualität

Vairocana, der zentrale unter den transzendenten Buddhas

Die moderne westliche Philosophie erklärte Gott für „tot“; im Osten dagegen ist er anscheinend gar nicht erst geboren worden. Stimmt das Vorurteil? Bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass Asien keineswegs ein Kontinent ohne Gott ist. Der Glaube an das „personifizierte Absolute“ ist auch in Buddhismus und Hinduismus verbreitet. (Roland Rottenfußer)

Das Klischee vom Buddhismus als „Religion ohne Gott“ sitzt tief. Ebenso wie jenes vom Hinduismus als einem Vielgötter-Glauben, den man als westlicher Mensch belächeln darf wie die skurrilen Gestalten, die den antiken griechischen Götterolymp bevölkern. Einem oberflächlichen Blick erscheint ganz Asien als gottfreie Zone. Die Verwirrung wird noch dadurch verstärkt, dass einige der bekanntesten indischen Meister des 20. Jahrhunderts sich als Bilderstürmer und Gottesleugner betätigt haben. So erschien etwa von Osho (Bhagwan Shree Rashneesh) das Buch „Der Gott, den es nicht gibt. Westliche Religion und die Lüge von Gott“.

Zwischen „Ich bin Gott“ und „Gott ist eine Lüge“, zwischen „Gott ist alles“ und „Gott ist (das) Nichts“ findet man in Asien alle nur denkbaren Schattierungen. Die Auffassung, dass statt eines persönlichen Gottes die „Leere“ im Ursprung aller Dinge liege, wird vielfach als typisch für die östlichen Religionen angesehen. Andere sehen die Gleichung „Brahman = Atman“ (das Einzelselbst ist mit dem universellen Selbst identisch) als die zentrale asiatische Lehre an. Ich möchte aber zeigen, dass Gott als das „personifizierte Absolute“ eine viel universellere Erfahrung darstellt als man meinen könnte. Selbst in Religionen, die Gott anscheinend durch die Vordertür vertrieben haben, schleicht er sich häufig durch die Hintertür wieder hinein. Meditierende haben – unabhängig von der Epoche oder dem Glaubensbekenntnis, denen sie angehören – immer wieder diese Tiefenschicht mystischer Erfahrungen bloß gelegt.

Der „Eine ohne ein Zweites“

Der Hinduismus gilt in der öffentlichen (westlichen) Wahrnehmung einerseits als Hort einer verwirrenden Vielgötterei (Brahma, Shiva und Vishnu sind nur die bekanntesten von ihnen); andererseits verbindet sich mit Indien, dem „Mutterland der Religionen“ weithin die Vorstellung von einer eher abstrakten Gottesauffassung, die wenig Raum für die Emotionalität einer persönlichen Gottesbeziehung lässt. Dieses Klischee über Indien erweist sich allerdings bei näherem Hinsehen als verzerrt. Der Religionswissenschaftler Florian Heinzmann, der auch Eingeweihter einer Vaisnava-Tradition ist (eines Kultes um den Gott Vishnu), nennt in einem Aufsatz folgende Zahlen: Etwa 95% der 800 Millionen Hindus glauben an die Existenz eines persönlichen Gottes; allein 70% der Hindus bekennen sich zu Vishnu oder dessen Wiedergeburt Krishna als höchster Gottheit; etwa 25% nennen ihren Gott Shiva (zitiert aus der Zeitschrift „Tattva Viveka“).

Gerade der Vishnu-Kult kommt der westlichen Vorstellung eines Monotheismus sehr nahe. Der „Eine ohne ein Zweites“, wie Vishnu von seinen Anhänger bezeichnet wird, kann allerdings in unterschiedlichen Manifestationen auftreten. Seine Allmacht zeigt sich gerade dadurch, dass er zeitgleich in Gestalt unterschiedlicher göttlicher und menschlicher Wesen, aber auch zeitversetzt in zahlreichen Inkarnationen auftreten kann. Alle diese Manifestationen oder Ausstrahlungen sind wesensidentisch mit dem Einen. Vishnus bekannteste Inkarnationen sind Rama (der Held des berühmten indischen Epos „Ramayana“) und Krishna. In der heiligen Schrift „Bhagavad Gita“ spricht Krishna von sich selbst in einer Form, die einer westlichen pantheistischen Auffassung von Gott sehr ähnlich ist. (Die Philosophie des Pantheismus vertritt die Auffassung, dass Gott in allen Erscheinungsformen der Schöpfung gegenwärtig ist). Hier ein Auszug aus der berühmten „Gita“:

„Wisse, von allem, was materiell und was spirituell ist in dieser Welt, bin Ich sowohl der Ursprung als auch die Auflösung. (…) Es gibt keine Wahrheit über Mir. Alles ruht auf mir wie Perlen auf einer Schnur. (…) Ich bin der Geschmack des Wassers, das Licht der Sonne und des Mondes und die Silbe om in den vedischen Mantras; Ich bin der Klang im Äther und die Fähigkeit im Menschen. Ich bin der ursprüngliche Duft der Erde, und Ich bin die Hitze im Feuer. Ich bin das Leben in allem Lebendigen, und Ich bin die Entsagung der Asketen. (…) Wisse, dass Ich der ursprüngliche Same alles Existierenden, die Intelligenz der Intelligenten und die Macht aller mächtigen Menschen bin. (…) Wisse, dass alle Daseinsstufen – seien sie in Tugend, Leidenschaft oder Unwissenheit – eine Manifestation Meiner Energie sind.“

Die Dreieinigkeit der Hindus

Vereinfacht gesprochen gibt es im Hinduismus eine Art göttlicher Dreieinigkeit: Das Göttliche erscheint 1. In seiner persönlichen Form als bhagavan, die Höchste Persönlichkeit Gottes, 2. In seiner unpersönlichen Form als brahman, göttliche Energie, die das ganze Universum durchdringt, 3. Als paramatman, als die Überseele im Herzen jedes einzelnen Menschen. Man darf in diesem Zusammenhang durchaus Parallelen zur christlichen Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiligem Geist ziehen, solange man die unterschiedlichen Nuancen nicht ungebührlich verwischt. Die Frage nach dem Monotheismus in Indien ist also nicht so einfach zu beantworten. Weder kann man pauschal unterstellen, dass Hindus „Götzendiener“ und „Gottesleugner“ sind, noch darf man einfach behaupten, dass indische Gläubige mit Vishnu oder Krishna eigentlich „unseren“ christlichen Gott verehren.

Nun sollte man den Hinduismus ohnehin nicht als eine Religion mit einheitlichen Gebräuchen und Glaubensvorstellungen verstehen. Eher stellt er eine verwirrende Vielfalt von Kulten vedischen Ursprungs dar. Seine zahlreichen Verzweigungen offenbaren bei näherem Hinsehen mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten. Im Buddhismus allerdings – so könnte man meinen – ist das ganz anders. Seine gedanklichen Fundamente – etwas die Vier Edlen Wahrheiten – erscheinen fest gefügt, es entsteht aus westlicher Sicht der Eindruck eines spirituellen „Einheitsblocks“. Man unterscheidet zwar grob zwischen Hinayana, dem Weg der persönlichen Erlösung, und Mahayana, dem Weg der Erlösung aller Wesen. Einer allerdings hat in beiden Systemen (scheinbar) nichts zu suchen: der persönliche Gott.

Dennoch vertritt der tibetische Lama Gonsar Rinpoche, den ich bei einem Vortrag in München besuchte, die Auffassung, dass der Buddhismus (auch) eine monotheistische Religion sei: „Er kann aber auch als monotheistisch bezeichnet werden, denn das letztliche Objekt der Zuflucht ist der Dharmakörper, der die Vereinigung aller Objekte der Zuflucht darstellt. Der Dharmakörper ist die allwissende Weisheit des Buddha, und das ist ein Objekt, ein einziges Objekt.“

Buddha – Vergöttlichung eines großen Lehrers

Man muss zur Erklärung etwas mehr über den Mahayana-Buddhismus sagen, zu dessen zahlreichen Richtungen auch der tibetische Buddhismus gehört. Mahayana, übersetzt „Das Große Fahrzeug“ (über den Leidensozean), entstand im letzten vorchristlichen Jahrhundert und machte den Buddhismus, vereinfacht gesprochen, sozialer und volkstümlicher. Anhänger des Großen Fahrzeugs stellten ihre eigene Erlösung hintan und stellten stattdessen die Befreiung aller Wesen in den Vordergrund. Zugleich ließen sie Formen kultischer Verehrung (etwa von heiligen Orten, Buddhastatuen usw.) zu, um dem nicht eingeweihten, nicht zum Mönchstum geeigneten Volk den Zugang zur religiösen Vorstellungswelt des Buddhismus zu erleichtern.

Mit der Öffnung des Buddhismus gegenüber den Laien, den Nicht-Mönchen, ging eine weitere bedeutende Entwicklung einher, die man als die Vergöttlichung der Person Buddhas bezeichnen könnte. War der Buddha ursprünglich „nur“ der Erleuchtete, ein heiliger Mann zwar, aber dennoch ein Mensch, so wurde er später buchstäblich in den Himmel erhoben. Im 3. Jahrhundert n. Chr. erschien eine legendäre Buddha-Biografie namens Laliavistara, die den historischen Gautama Buddha zu einem überweltlichen Wesen stilisierte, das den Menschen seine Erdenexistenz nur vorspielt, um ihre Befreiung zu bewerkstelligen. In der Laliavistara kommt denn auch der transzendente (also jenseits des Irdischen wohnende) Buddha selbst zu Wort:

„Unausdenkbare tausend Millionen von Weltzeitaltern, deren Dauer niemals ergründet werden kann, ist es her, seit ich zuerst die Erleuchtung erlangt habe. Ständig lege ich seitdem die Lehre dar. (…) Viele Millionen Myriaden Wesen lasse ich während vieler Millionen Weltzeitalter zur Heiligkeit heranreifen. (…) Ich erfrische diese ganze Welt wie eine Wolke, die gleichmäßig Wasser ausgießt.“

Ein solcher Buddha scheint in der Tat mehr als ein Verkünder des Göttlichen zu sein. Er ist selbst (ein) Gott. Sein Buddhaparadies sei „voll mit Göttern und Menschen“. Wer also in dieser Weise selbst die Götter zu seinem Hofstaat zählt und die Weltzeitalter kommen und gehen lässt wie menschliche Wesen ihre Atemzüge, der kommt westlichen Vorstellungen von einem personifizierten Gott-Vater schon sehr nahe. Man fühlt sich an die Worte Jesu erinnert „Bevor Abraham war, BIN ich“.

Der höchste der Buddhas

Das System des Mahayana-Buddhismus gestaltete sich noch komplizierter, als spätere religiöse Schriften nicht nur den einen (transzendenten Buddha), sondern eine Vielzahl von ihnen zuließen. „Ein Buddha allein kann unmöglich alle Wesen retten. Es muss deshalb noch andere Buddhas geben.“ (Mahaprajnaparamita-Sastra, 2. Jh. n. Chr.) Um einzuschätzen, wie revolutionär diese These auf Zeitgenossen gewirkt haben mag, muss man sich nur vorstellen, jemand würde behaupten, es gäbe für die verschiedene Ecken des Universums verschiedene „Jesusse“, da ja einer allein nicht in der Lage wäre, die ganze Arbeit zu leisten.

Theologen entwarfen dann im 3. Jh. das System der „Buddhas der Raumgegenden“. Vergleichbar den Ministerpräsidenten verschiedener Länder verwalteten sie unterschiedliche Abschnitte des Universums: Amitabha im Westen, Amoghasiddhi im Norden, Aksobhya im Osten, Ratnasambhava im Süden. Wenn wir aber beim Bild der „Ministerpräsidenten“ bleiben: Glaubte man nicht folgerichtig auch an einen „Kanzler“, einen zentralen Buddha, der allen anderen übergeordnet war? Tatsächlich stellten sich Mahayana-Anhänger vor, dass an der Schnittstelle der beiden Achsen (Ost-West und Nord-Süd) ein fünfter transzendenter Buddha thronte, der Vairocana genannt wurde, der „Sonnengleiche“.

Etwa im 8. Jahrhundert n. Chr. wurde Vairocana überdies zum Adibuddha, zum Ur-Buddha erklärt. Damit kam ihm eine zentrale Stellung über den Buddhas der vier Raumgegenden zu. Vairocana war auf diese Weise aber nicht nur, wie ich salopp gesagt habe, zu einer Art transzendentem „Bundeskanzler“ geworden. Er war, wie der Buddhismus-Kenner Hans Wolfgang Schumann sagt, „auf die Ebene des Dharmakaya, des Absoluten aufgerückt und zu dessen Personifizierung geworden.“ Vairocani der Adibuddha also war das Absolute als Person – und dies ist nichts Geringeres als eine Definition Gottes – durchaus im westlichen Verständnis des Wortes.

Gott als Geliebter

Es scheint also, als habe der Buddhismus den Monotheismus in späteren Epochen seiner theologischen Ausformung auf Umwegen wieder hereingelassen, während Gott im Hinduismus – von archaisch-polytheistischen Anfängen einmal abgesehen – nie wirklich draußen war. Ich vermute, dass Menschen aller Weltgegenden in der Versenkung und in veränderten Bewusstseinszuständen immer wieder Erfahrungen gemacht haben, die die Präsenz eines Gottes-als-Person oder eines personifizierten Absoluten nahe legen.

Ich glaube nicht, dass man an einen persönlichen Gott glauben „muss“, wohl aber, dass man mitunter viel versäumt, wenn man ihn definitiv als Erfahrungswirklichkeit ausklammern will. Mit Ekstase, Verschmelzung, der Beziehung zwischen einem „Liebenden“ und einem „Geliebten“ ist die mystische Erfahrung der Gottesbegegnung oft verglichen worden. Einigen Mystikern und Meditierenden werden solche Erfahrungen offenbar geschenkt, anderen nie. Manche betrachten Gott als eine Art „Belohnung“, die am Ende einer langwierigen und ausgefeilten Meditationspraxis auf einen wartet. Vielleicht geht es aber vielmehr um die Erkenntnis, dass „Er“ nie wirklich abwesend war. Die Schweizer Sufi-Meisterin Annette Kaiser schreibt sehr poetisch: „Alles, jedes Wort, jede Blume, jedes Singen der Kiefernnadeln im Wind, jede Schneeflocke, jede Tätigkeit, jegliches Geschehen ist eine Einladung des Geliebten an den Liebenden zur Heimkehr.“

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