Handwerker wider Willen

 In Roland Rottenfußer, Wirtschaft
So wird ein Schrank angeliefert. Die Verantwortung für den Aufbau tragen Sie.

So wird ein Schrank angeliefert. Die Verantwortung für den Aufbau tragen Sie.

«Crowdsourcing», die Verlagerung von Arbeiten auf den Endkunden, boomt. Wir schrauben für Ikea, kellnern für McDonalds und montieren unsere Fahrräder selbst. Service, das bedeutet zunehmend Dienst des Kunden am Anbieter. Großfirmen, die ihre Käufer zu 0-Euro-Jobbern umerziehen, begründen dies mit Kostenersparnissen für die Verbraucher – und sparen sich selbst Milliardenvermögen zusammen. Nebenbei leiden Qualität und Wertbeständigkeit der Produkte. Und Möbeldesign verkommt zur Kreation einer gleichgeschalteten Kästchenwelt. (Roland Rottenfußer)

Ich wollte nur ein Badezimmerschränkchen kaufen, 30 x 60 cm aus Holz mit Trübglasfenster. Ich ging bewusst nicht zu Ikea, weil ich mich beim Zusammenschrauben der Möbel oft im Dschungel der Gebrauchsanleitungen verlaufen hatte. Daher versuchte ich es beim «Dänischen Bettenlager». Da es sich nur um ein kleines Schränkchen handelte, dachte ich, man würde mir die Endmontage ersparen. Da war ich schon in die Falle gegangen. Die Verkäuferin kassierte erst die 60 Euro, dann sagte sie: «Warten Sie bitte einen Moment» und brachte mir aus dem Lager eine Kiste zurück – im Format deutlich kleiner als der Schrank im Ausstellungsraum.
«Was soll das?», fragte ich. «Ich gebe Ihnen meine Geldscheine ja auch nicht in kleinen Papierfetzchen und verlange von Ihnen, dass Sie sie selber zusammenkleben.» Die Verkäuferin lächelte überlegen wie über die dumme Bemerkung eines Kindes. Dann erklärte sie, ohne die Endmontage durch den Kunden würden erheblich mehr Lager- und Arbeitskosten anfallen. Der Schrank könne nie zu einem so niedrigen Preis abgegeben werden. Und ich beklagte mich auch noch, statt dankbar dem genialen Geschäftskonzept zu huldigen! Ich murrte zwar noch: «Das nächste Mal verkaufen Sie mir wahrscheinlich einen Baumstamm und eine Säge» – aber in Wahrheit hatte ich längst resigniert. Ein Teil meines Feierabends war für das Studium der Montageanleitung reserviert.
Nun bin ich sicher kein großer Handwerker. Aber ein paar selbst gebaute Regale und CD-Ständer zieren mein Wohnzimmer. An einem grossen Schrank mit Schubladen und Schwingtür hätte ich mich fast überhoben: Stunden konzentrierter Arbeit waren nötig. Den schwierigsten Teil, die Einhängevorrichtung, bekam ich nicht gut hin. Die beiden Türen waren leicht gegeneinander verschoben. Was hätte ich tun sollen? Ich konnte bei Ikea kaum reklamieren, denn schliesslich war ich es, der einen Fehler gemacht hatte. Und ich scheute die Mühe, den Schrank wieder zu zerlegen, zu verpacken, einen neuen zu bestellen und aufzubauen … Also stand er, und der Baufehler war meiner Frau und mir ständig ein Dorn im Auge. Schließlich landete der Schrank im Keller. Stellt man diese kurze «Karriere» des Möbelstücks und die aufgewendete Arbeit in Rechnung, war es dann doch teuer.
Von den Möbelkonzernen wird uns eingeredet, alles geschehe nur zu unserem Besten. Wie kommt es aber dann, dass die Besitzer solcher Großhandelsketten meist Multimilliardäre sind, während wir immer noch im unteren bis mittleren Einkommensbereich herumkrebsen? Das Vermögen des heute 84-jährigen Ikea-Gründers Ingvar Kamprad wird vom US-Magazin Forbes mit 31 Milliarden Euro angegeben. «Ich bin geizig, und ich bin stolz darauf!», sagte der Unternehmer, der sich gern «Social Entrepreneurship» auf die Fahnen schreibt. Der Gesamtumsatz von Ikea stieg von 6,3 Milliarden Euro 1998 auf 23,1 Milliarden im Jahr 2009/10. Ist es also nötig, dass ich für einen solchen Mann noch ehrenamtlich Bretter zusammenschraube und ihm Lagerkosten spare, weil ein Bretterstapel weniger Raum einnimmt als ein komplettes Billy-Regal? Könnte er nicht ein paar von seinen Milliarden rausrücken, um ein kostengünstigeres Liefer- und Servicesystem zu schaffen?
Mir geht es hier nicht darum, ein bestimmtes Unternehmen anzugreifen. Wichtiger ist es, ein Geschäftsprinzip zu durchschauen, das auch anderswo zu einer ungesunden Machtkonzentration geführt hat. Kein 1-Euro-Jobber kommt den Unternehmen so billig wie ihr bester Mitarbeiter: der Kunde. Er arbeitet umsonst. Da die Belastung für den Käufer/Handwerker relativ gering ist, glaubt er sich durch einen Preisnachlass meist entschädigt. Für viele stellt sich die Alternative zwischen selbst zusammen geschraubten Brettern und solider Schreiner-Ware nicht. Ihnen fehlt das Geld, um heikel zu sein. Früher waren Möbel oft eine Anschaffung fürs Leben. Heute sind eine windige Bauart, offen liegende Schrauben und abgesplitterte Furniere in bürgerlichen Wohnzimmern eher die Regel. Kritiker sprechen in diesem Zusammenhang schon von moderner Sklavenhaltung. Natürlich hinkt der Vergleich. Sklaven in der Zeit vor dem amerikanischen Bürgerkrieg bekamen für ihre Arbeit Unterkunft und Verpflegung. Schraubende Kunden bekommen nicht einmal das. Wir tun also, was die uns zugedachte Aufgabe im globalen Kapitalismus ist: Wir ersparen Investoren Kosten.
Wir kennen dieses Prinzip auch aus anderen Branchen: Warum müssen wir z.B. in immer mehr Restaurants den Kellner spielen? Wenn ich ein Fahrrad kaufen will, bin ich erst mal überrascht, dass es so billig ist: nur 300 Euro. Dann fragt die Verkäuferin, ob ich zu meinem Fahrrad auch noch ein Licht wünsche. Selbstverständlich. Das hilft, um nicht nachts auf der Motorhaube eines Autos zu landen. Dann sind es noch mal 40 Euro extra. «Und wünschen Sie eventuell auch einen Ständer?» «Nein, ich lasse mein Fahrrad immer auf die Strasse klatschen, wenn ich es abstelle.» Nach einem ausgedehnten Frage- und Antwortspiel erhalte ich dann eine Rechnung über 445 Euro. «Aber der Preis auf dem Schild ist nur 300 Euro». «Jaja», sagt die Verkäuferin mit spitzem Tonfall. «Aber der Preis versteht sich natürlich vor Montage.» Nun stehe ich im Keller: mit einem Fahrradfragment und sieben Einzelteilen. Beim Gepäckträger muss ich passen. Dabei hatte mir die Verkäuferin versichert, dass es ganz leicht sei, den selbst zu montieren. Also muss ich wohl der letzte Trottel sein, da mir nicht einmal etwas «ganze Leichtes» gelingt. Also noch mal zurück zum Fahrradgeschäft …
Die Perspektive des «Handwerkers wider Willen» ist jedoch nicht die einzige. Hinzu kommt, dass Crowdsourcing arbeitsmarktpolitischer Unsinn ist. Wie viele Möbelschreiner, Kellner und Bankangestellte blieben ohne Job, weil der Kunde, ohne es zu wollen, selbst zu ihrem grössten Konkurrenten geworden ist? Da in allen Branchen, die Crowdsourcing betreiben, die Jobs rar werden, kann man mehr Druck auf diejenigen ausüben, denen man gnädigerweise noch einen gibt. Nicht nur als Endkunden werden wir also unverhältnismäßig belastet, auch als Steuerzahler müssen wir die Sparbemühungen von Multimilliardären finanzieren: durch Arbeitslosengeld für die Ausgesiebten. Wie so oft gilt: Gewinne bleiben privat, die Folgen von Einsparmassnahmen trägt die Gemeinschaft.
Als dritte Gruppe der Leidtragenden sind Handwerksprofis zu nennen, die unter dem Konkurrenzdruck durch die Multis zusammenbrechen. Möbelriesen stehen alle Möglichkeiten der Massenproduktion zur Verfügung – und das Millionenheer der «ehrenamtlichen» Arbeiter/Kunden. Vor einem solchen Gegner gehen viele der «Schreiner um die Ecke» in die Knie. Dieses schöne Handwerk wäre ein Musterbeispiel nicht entfremdeter Arbeit. Ein Schreiner vom Idealtyp eines Meister Eder sieht sein Werk von der Holzauswahl bis zum fertigen Möbelstück unter seinen Händen wachsen. Das Kundengespräch bringt ihn in lebendigen Kontakt mit Menschen. In den Arbeitsprozess kann er selbst bei einfachen Modellen etwas von seiner Persönlichkeit einbringen. Dieser ganzheitliche Arbeitsprozess wird bei Ikea & Co. in simple Einzelschritte zerlegt.
Ein Kritiker der Ikea-Kultur ist auch der Möbeldesigner Cuno Frommherz aus Burgdorf. Er hat das Schreinerhandwerk gelernt und erarbeitet heute Vorlagen für Möbel in der Fabrikfertigung (nicht für eine der grossen Firmen). Für Frommherz gehen Massenfertigung und Abholmöbel-Kultur mit einem Verlust an Qualität und Schönheit einher. Der «Schreiner um die Ecke» erzeugt haltbarere Möbelstücke, er arbeitet materialgerecht und feilte an den Details. Man kann sich heute kaum mehr vorstellen, dass es andere Holzverbindungen gibt als die allgegenwärtige Schraube. Etwa Zinkung oder Überblattung. Ein Stuhl oder Sofa aus «Fastfood»-Möbelkauf behält heute 2 oder 3 Jahre lang seine ursprüngliche Qualität. Dann zeigen sich Verschleisserscheinungen. Bei einem Schreiner vom «alten Schlag» kann das Möbelstück dagegen 20 Jahre lang wie neu aussehen. Frommherz bitteres Fazit: «Wer regelmäßig bei Ikea kauft, braucht langfristig nicht weniger Geld.» Was er beim Einzelstück einspart, verliert er langfristig, indem er es in kurzen Abständen ersetzen muss.

 

Fast noch schlimmer findet der Designer allerdings den psychologischen Aspekt: Das System Ikea ist Ausdruck einer Wegwerfkultur und gibt dieser immer neue Nahrung. Beim konventionellen Möbelkauf entsteht eine Beziehung zwischen Handwerker und Kunden. Der Käufer setzt sich länger mit dem Produkt auseinander, sucht das Holz aus, wählt Details, freut sich während des Fertigungszeitraums auf den Tag der «Enthüllung». Der Kunde identifiziert sich sehr stark mit dem Produkt. Dies ist heute selten geworden. Moderner Abhol-Möbelhandel bedeutet auch Gleichschaltung. «Mich wundert eigentlich, dass die Käufer dies akzeptieren, obwohl die Gesellschaft insgesamt immer individualistischer wird.» Hinzu kommt der ökologische Wahnsinn der Möbelfertigung in immer schnelleren Rhythmen. «Dies macht mich jedes Mal wütend», bekennt Frommherz. Es ist Ressourcenverschwendung pur in einer Zeit, in der sich jeder bewusste Mensch wegen der Abholzung der Wälder sorgt.

 

Ein weiterer Aspekt ist die Verarmung des Formenrepertoires, die Vertreibung der Schönheit aus der Möbelherstellung. Eigenbau-Möbel müssen zwei Kriterien genügen: Sie müssen extrem kostengünstig sein und dürfen Laien wie mich bei der Montage nicht überfordern. Dies begünstigt eine Diktatur des rechten Winkels und erschafft eine Kästchenwelt der Primitiv-Designs. Komplexe Formen oder gar verspielte Ornamente sind kaum mehr möglich. Der Hauptvorwurf des Schreiners und Designers: «Das Sinnliche, Erotische geht verloren». Oscar Wilde sagte: «Das Geheimnis des Lebens liegt in der Suche nach Schönheit.» Cuno Frommherz liebt dieses Zitat. Er sieht in Schönheit nichts Oberflächliches, sondern einen Aspekt von Wahrheit. «Wichtig in meinem Leben sind immaterielle Dinge. In der Schönheit der Form drücken sich meine Werte auch materiell aus.» Auch die Hässlichkeit in unseren Wohnzimmern ist Ausdruck einer Werte-Priorität: Unserer Gesellschaft geht es um Funktionalität und Kostenersparnis – eine traurige Verarmung.

 

Weniger kritisch ist Frommherz allerdings gegenüber dem Prinzip «Crowdsourcing». «Wenn man als Kunde etwas selbst zusammenbaut, hat man wenigstens eine Beziehung zu dem Möbelstück». Gerade die Beziehung also, die verloren geht, wenn man das Produkt nicht im Dialog mit dem Handwerker entwickeln kann. Auch sieht Cuno Frommherz bereits Licht am Horizont. Immer mehr Kunden sehnen sich nach Sorgfalt, Schönheit und Wertbeständigkeit. Eine neue Generation von Schreinern freut sich, ihnen dieses Bedürfnis mit Möbel-Slowfood erfüllen zu können. Frommherz weist noch auf einen praktikablen Kompromiss hin: den Möbelfachhandel. «Eine gewisse Individualisierung ist dort möglich, z.B. eine grosse Auswahl an Bezugsstoffen, verschiedene Hölzer oder diverse Metalloberflächen. Die Auseinandersetzung mit dem Produkt ist in der Regel auch größer als beim Mitnahmeprodukt. Die Lebensdauer der Produkte entspricht in etwa der der handwerklich produzierten Möbel.»

 

Die meisten von uns fällen mit dem Möbelkauf eine Wertentscheidung. Zumindest, wenn sie etwas finanziellen Spielraum haben. Wollen wir Ästhetik, Individualität und Nachhaltigkeit? Oder wählen wir Kästchen-Design, Massenfertigung und Ressourcenverschwendung? Wünschen wir Service und Bequemlichkeit, oder sind wir zufrieden, zur Montage-Herde der Möbel-Multis zu gehören. Auch das letztere ist respektabel, denn es gibt Bastler, denen der Möbelbau Freude macht. Und «Denkertypen» wie mich, denen es auch mal ganz gut tut, Hand anzulegen. Trotzdem: Ökologie und Ästhetik sollten nicht auf dem Altar der Effizienz geopfert werden. Und die Lasten wie auch die Profite sollten gerecht zwischen den Beteiligten aufgeteilt werden. Dann kann bald auch wieder vom «goldenen Boden» des Handwerks die Rede sein – nicht nur von der goldenen Nase, die sich die Multis verdienen.

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