Heilige Wut – oder: Die Suche nach dem „radikalen“ Leben

 In FEATURED, Spiritualität

Bruder Thomas Quartier

Thomas Quartier ist seit seiner Jugend fasziniert von Klosterleben, Revolution und Bob Dylan. In seinem im Februar erschienen neuen Buch „Heilige Wut. Mönch sein heißt radikal sein“ (Freiburg i.Br.: Herder Verlag 2018; ISBN 978-3-451-37987-1; 18 Euro) beschreibt er, wie das nicht nur vereinbar ist, sondern warum es nicht ohne geht, zumindest nicht für ihn. Konstantin Wecker hat einen Umschlagtext zu diesem Werk beigetragen. Er schreibt: „Thomas Quartier ist ein wahrer Bruder all derer, für die Rückzug und Einmischung, Meditation und gesellschaftliches Bewusstsein keine Gegensätze sind. Zu oft sieht man in Mönchen nur Welt-Flüchtlinge und übersieht das rebellische, ja subversive Element, das ihrer Lebensweise innewohnt. Der Mönch bewahrt sich und seine Menschlichkeit, und schon das ist Widerstand“. (Thomas Quartier OSB)

Das Klosterleben ist für Quartier eine Provokation, die jeden innerhalb und außerhalb der Klostermauern wachrütteln kann. Diese Provokation erlebbar machen, das will Quartier in diesem Buch. Schon in der Einleitung wird klar: hier werden keine Klischees bedient, sondern hier beschreibt jemand sein Engagement in Dienste eine Wut, die ihm im wahrsten Sinne des Wortes heilig ist. Der Verlag nennt ihn auf seiner Homepage „die neue Stimme aus dem Ordensbereich“. Diese hat für alle, die radikales Engagement suchen, etwas zu sagen. Der folgende kurze Auszug, der uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt wurde, macht Lust auf mehr: mehr zu lesen und sich zu engagieren!

Heilige Wut – Verstörungen

„Warum sind Sie Mönch geworden?“ Der Unterton mit dem mir diese Frage oft gestellt wird, schwankt zwischen Neugier und irritierter Ablehnung. Die einen finden es erstaunlich, dass ein Wissenschaftler und Buchautor, Mitte vierzig, ein Leben als Klosterbruder führt. Die anderen ärgern sich, werfen mir vor, mich aus der Verantwortung zu stehlen: „Sie hätten in der Welt doch so viel bewegen können und verkriechen sich stattdessen in einem Kloster!“ Viele Außenstehende verstehen nicht, dass Klosterleben sich nicht nach gängigen Maßstäben bemessen lässt. Die Bemerkung zweier älterer Damen, an denen ich einmal mit einem gleichaltrigen Mitbruder in der Stadt vorbeilief, hat mir dahingehend die Augen geöffnet: „Ach, wie schade!“, sagten sie. Und ich gehe fest davon aus, dass sie uns nicht als potenzielle Flirtpartner im Auge hatten. Vielmehr empfanden sie, was wir tun als Verschwendung.

Andere wiederum stellen sich das Klosterleben als Idylle, fern vom „wirklichen Leben“ vor: „Sie haben es gut im Kloster. Die Ruhe und die Ausgeglichenheit, die hätte ich gerne“, sagen mir viele. Ich kann diesen Eindruck nicht teilen. Das Kloster ist keine heile Welt! Oft genug war ich in den letzten Jahren verstört, musste immer wieder lernen, die Stille und den Raum des Klosters zu ertragen. Solche Erfahrungen assoziiere ich mit dem Wort „Verstörung“, das der österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard für die Abgründe des Lebens verwendet. Seinem Roman mit gleichem Titel stellt er ein Zitat von Blaise Pascal voran: „Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume macht mich schaudern“. Die Fragen und Bemerkungen von Lesern und Zuhörern konfrontieren mich stets aufs Neue mit meinen eigenen Verstörungen. Mit jenen Erfahrungen, die einem alles abverlangen. Anders als bei Bernhard hoffe ich jedoch, dass mich jede Verstörung einen Schritt weiterbringt, dass das „Schweigen des unendlichen Raumes“ zu einem heiligen Schweigen wird. Ich glaube, dass man Verstörungen in seinem Leben suchen und daran wachsen muss. Es ist unsere Aufgabe, sie zu heiligen.

Das Klosterleben gehört eindeutig nicht mehr zu den gesellschaftlich anerkannten Wegen, seinem Leben Sinn zu verleihen. Es stellt eigentlich keine realistische Lebensperspektive mehr dar. Menschen haben von der Tradition gehört, wissen, dass es Mönche und Nonnen gab. Aber heute kann doch kein normaler Mensch mehr auf die Idee kommen, diese Lebensform zu wählen, so mysteriös sie auch sein mag. Viele sagen mir das ins Gesicht: „Sie sind doch noch so jung…“. Es ist wohl nicht als Kompliment gemeint. Auch werde ich immer wieder gefragt: „Zu wie vielen sind Sie noch in Ihrer Abtei?“ Das finde ich taktlos. Was heißt hier „noch“? Diese Fragen zeigen, dass die Lebensform als solche – wie viele heilige Lebensformen und -bereiche – heute eine Verstörung ist.

Es gibt tatsächlich immer weniger Ordensberufungen. Das stimmt die meisten Leute pessimistisch, was die Zukunft des Klosterlebens angeht. Ob sie ahnen, welche Wut, Irritation, Unsicherheit und Orientierungslosigkeit jeder einzelnen Entscheidung zum Eintritt in ein Kloster vorangehen? Da sind die vielen Zweifel an der Sinnhaftigkeit und der Relevanz des Klosterlebens; das erschaudernde Schweigen; der große Mut, gesellschaftlichen Trends und persönlichen Wunschvorstellungen zu trotzen. All das hat viel mit einer Wut im Bauch zu tun. Mit dem unruhigen Gefühl, dass die Welt einem nicht geben kann, wonach man sucht. Es mag manchen überraschen, dass ein Gefühl wie „Wut“ mit dem Klosterleben zu tun haben kann. Wut ist längst nicht immer so zweck- und zielgerichtet, dass man sie direkt in ein Lebensprojekt umsetzen könnte. Sie verlangt die Bereitschaft, sich dem Leben auszusetzen, einschließlich seiner destruktiven Seiten. Im Kloster kann man nämlich gerade nicht wegrennen. Die unbestimmte Wut im Bauch, die Heimatlosigkeit in der Welt, wird zu einer großen Zerreißprobe. Aber wenn man die akuten Krisenmomente übersteht, kommt man dem Ideal des Klosterlebens gerade durch seine Wut ein Stückchen näher. Man muss seine Wut heiligen, wenn man ein klösterliches Leben führen will.

Es gibt verschiedene Gründe, warum ich ins Kloster eingetreten bin. Heutzutage ist eine solche Lebensentscheidung für jeden ein sehr persönlicher Prozess. Ich selbst habe ein Leben in Kloster bis kurz vor meinem Eintritt nie für mich als realistische Möglichkeit in Betracht gezogen. Noch heute erschrecke ich mich morgens manchmal, wenn ich in meiner Klosterzelle aufwache. Habe ich tatsächlich diesen Schritt gewagt? Lebe ich nun so, wie ich es mir nie vorstellen konnte? Die Verstörung ist keineswegs aus meinem Leben verschwunden. Aber ich habe seit dem Tag meines Eintritts keine Stunde als sinnlos erfahren. Es lohnt sich, das Ganz-Andere zu tun, sich verstören zu lassen. Nur so lassen sich Bereiche des Lebens erreichen, von denen man gar nicht wusste, dass es sie gibt.

Man dringt bis zur Wurzel der eigenen Wut vor. Radix, das lateinische Wort für „Wurzel“, liegt unserem Wort „radikal“ zugrunde. Ich muss bekennen, dass es mich immer fasziniert hat, wenn Leute radikal leben. Aber was heißt das? Bedeutet es, ausgeflippt oder fanatisch zu sein? In der Alltagssprache denken viele an diese Bedeutungen. Radikalität fasziniert „junge Rebellen“ und schreckt Menschen in einer gesetzteren Lebensform ab. Im eigentlichen Sinne geht es weder um Extravaganz noch um Extreme. Es geht vielmehr darum, sein Leben von der Wurzel her konsequent zu gestalten. Ich bin sicher, dass viele scheinbar radikale Menschen in bestimmten Lebensbereichen ganz anders sind, als es ihr radikales Engagement vermuten lässt. Mönche sind das nicht. Ihr ganzes Leben entsprießt sozusagen derselben Wurzel, nämlich radikal dem Ruf Gottes ins Kloster zu folgen. Ausnahmen gibt es im Idealfall nicht, auch keine Freizeit im eigentlichen Sinne. Mönch sein heißt radikal sein, und zwar radikaler als die „Radikalinskis“, die gerade in unserer bewegten Zeit immer wieder für Schlagzeilen sorgen.

Viele Leute können sich nicht vorstellen, was Mönche den ganzen Tag lang tun. Sie wissen wenig von ihren Empfindungen und von jenem schwierigen Gleichgewicht zwischen klösterlicher Zurückgezogenheit und gesellschaftlichem Engagement, zwischen persönlicher Eigenheit und klösterlicher Disziplin, zwischen Aufgeschlossenheit und Absonderung. Wenn man dieses Gleichgewicht sucht, bringt es nichts, seine spontanen Gefühle zu unterdrücken. Denn früher oder später würden sie auch im Kloster wieder zum Vorschein kommen, im „Schweigen des unendlichen Raumes“. Man muss sich seiner Wut stellen, und zwar radikal, von Grund auf. Das Kloster hilft, dabei nicht verrückt zu werden. Es bietet eine Struktur, die hilft, nicht in der Verstörung stecken zu bleiben. Man öffnet sich im geschlossenen Raum. Radikalität in diesem Sinne schottet nicht ab und verstellt nicht den Blick. Im Gegenteil, sie zwingt einen, die Augen zu öffnen.

Oft frage ich mich, worauf sich Wut und Radikalität eigentlich richten: auf einen selbst, auf die Menschen in der direkten Umgebung, auf die Gesellschaft oder die Politik? Alles das ist nicht falsch, aber der Kern ist ein anderer. Die Wut sitzt tiefer, sie ist selber radikal: unbestimmt und dadurch allumfassend. Heiligt man sie, öffnet man sich für den eigenen Lebensentwurf. Ich lebe im Kloster mit einer Gruppe von Menschen, die ich mir nicht selber ausgesucht habe. Es geht nicht um meine persönliche Vorliebe, nicht um Sympathie oder Antipathie, sondern um das gemeinsame Ideal. Nicht die Wut aufeinander bestimmt unseren Tagesablauf, auch wenn es in einer Gruppe von Junggesellen weiß Gott genug Irritationen gibt. Nein, uns alle treibt die Wut auf eine Scheinwirklichkeit an, die uns ein menschenwürdiges Leben, das für Gott offen ist, unmöglich zu machen droht.

Dieser Antrieb ist Zweck an sich und heiliges Ziel zugleich. Es kann durch keine schlechten Prognosen für die Zukunft des Ordenslebens ins Wanken gebracht werden. Ob nun viele oder wenige denselben Weg gehen wie ich, ist mir persönlich relativ egal. Natürlich freue ich mich, wenn es in unserem Kloster neue Berufungen gibt. Aber letztlich würde ich auch mit nur zwei Mitbrüdern dasselbe tun wie heute: „Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20). Auch die Meinung, dass ich als junger Wissenschaftler „einen toten Gaul reite“, weil ich mich für das Klosterleben entschieden habe, wie mir ein guter Freund letztens scherzhaft bei einem Bier sagte, berührt mich nicht wirklich. Solange ich auf diesem Weg bin, existiert er. Ich habe mich genug darüber aufgeregt, mich daran gerieben und darunter gelitten.

Ich habe meine Verstörungen aus den letzten Jahren vor und währen des Noviziats und meine Versuche, meine Wut zu heiligen, aufgeschrieben. Sie sind wahrscheinlich ganz und gar nicht, was sich Außenstehende unter der ersten Phase eines Klosterlebens vorstellen. Ich habe den Versuch unternommen, meiner Entwicklung radikal auf den Grund zu gehen. Dabei sind für mich sehr merkwürdige Erfahrungen und Gefühle ans Tageslicht gekommen. Daher eignen sich die folgenden Seiten absolut nicht als Einführung ins Klosterleben. Sie bieten auch keinen Leitfaden für jene, die sich von Klosterweisheiten inspirieren lassen wollen. Aber sie können Mönche und Nonnen, Assoziierte (bei uns heißen sie „Oblaten“), Gäste und viele andere, die ihre eigene heilige Wut und ein radikales Leben suchen, zum Nachdenken anregen. Wenn meine Verstörungen ein Spiegel sind, in dem sie alle sich betrachten können, haben sie ihren Zweck mehr als erfüllt.

 

Einen Kommentar hinterlassen

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen