Kazuo Ishiguro: Die schöne Traurigkeit der Hingabe

 In FEATURED, Kultur, Roland Rottenfußer

Kazuo Ishiguro

Wie soll man zusammenfassend über einen Autor schreiben, dessen Werke manchmal an Jane Austen, manchmal an Franz Kafka und manchmal an J.R.R. Tolkien erinnern? Der Anglo-Japaner Kazuo Ishiguro durchwandert mit jedem seiner Bücher eine andere literarische Welt, und jeder seiner „Ausflüge“ gelingt ihm. Dafür wurde der 63-jährige in diesem Jahr mit dem Nobelpreis ausgezeichnet – keine unumstrittene Entscheidung, aber eine interessante. Ishiguros Werk strahlt eine schöne Traurigkeit aus, die aus Hingabe, ja Hinnahme widriger Schicksalsumstände erwächst. Damit bieten seine bisher acht Romane einen reizvollen Kontrast zum Heroismus der Willensstärke, der für unsere westliche Kultur typisch ist. (Roland Rottenfußer)

„Seine Bekanntheit unter Literaturfreunden (…) macht ihn zu einem perfekten Kompromiss-Kandidaten, der niemanden richtig enttäuschen, aber auch niemanden richtig glücklich machen dürfte.“ So das Urteil der ZEIT über den Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 2017, Kazuo Ishiguro. Nach der eher „schrägen“ Wahl des Liedermacher Bob Dylan im Vorjahr, herrschte teilweise die Meinung vor, die Nobelpreis-Jury habe aus Risikoscheu diesmal einen blassen Kompromisskandidaten gekürt. Das Urteil, Ishiguro sei eher ein literarisches Leichtgewicht, kann aber nur derjenige fällen, der von „Hochkultur“ die Konstruktion unnötiger Verständnishindernisse erwartet. Die deutschsprachigen Preisträger Elfriede Jelinek und Günter Grass waren da sicher die „typischere“ Wahl. Kazuo Ishiguro indes hält die Textoberfläche transparent, um uns in umso größere Tiefen seelischer und historischer Prozesse schauen zu lassen. Man versteht ihn emotional ganz unmittelbar und fühlt sich auf leise, jedoch eindringliche Weise ergriffen; aber auch der analytische Verstand bekommt genug Futter. Wenn über die Nobelpreis-Verleihung also angeblich „niemand richtig glücklich“ war, so bin ich die Ausnahme.

Ein japanisches „Downton Abbey“

Meine erste Berührung mit dem Autor war – wie für viele andere – die wunderbare Verfilmung seines Romans „Was vom Tage übrig blieb“ mit Anthony Hopkins und Emma Thompson. James Ivory hatte den Streifen unmittelbar nach seinen Filmerfolgen „Zimmer mit Aussicht“ und „Wiedersehen in Howards End“ gedreht, mit denen er im Kino eine Renaissance des britischen „period drama“ einleitete. „Was vom Tage übrig blieb“ schien sich unmittelbar in diese Reihe einzufügen. Aus heutiger Sicht würde man sagen, der Film und seine Buchvorlage seien in einem „Downton Abbey“-Ambiente angesiedelt. In einem vornehmen englischen Herrenhaus verweben sich die Schicksale von Adeligen und ihren Dienstboten vor malerischem historischem Hintergrund. Das einzige, was irritiert, ist der Name des Verfassers, der eben nicht Forster, James oder Austen lautet. Es ist ein japanischer Name: Kazuo Ishiguro.

Ishiguro wurde 1956 in Nagasaki geboren und lebte in seinen ersten sechs Lebensjahren in Japan, bevor er mit seiner Familie nach Großbritannien umzog, wo sein Vater für die britische Regierung als Ozeanograph arbeitete. Kazuo blieb, studierte Englisch und Philosophie an der Universität von Canterbury. Bald besuchte der junge Japaner Kurse für kreatives Schreiben und veröffentlichte erfolgreich Kurzgeschichten. Wie ist jemand drauf, dessen Lebenslauf mit Nagasaki, dem Schauplatz einer unfassbaren Tragödie, beginnt? Eine düstere Grundierung ist allen seinen Werken eigen. Auch die Auseinandersetzung mit Themen wie Schuld und Kollektivschuld spielt in mehreren Romanen eine Rolle. Aber auch Opferschicksale, Völkermord sogar, die Erfahrung radikalen Ausgeliefertseins. Beide Pole – Opfer- und Täterrolle – wurden im Nachkriegsjapan mittels einer Kultur der Verdrängung „bearbeitet“, verstärkt noch durch einen Nationalcharakter, der eher der Affektkontrolle als dem lauten Ausleben von Wut und Verzweiflung zugeneigt ist.

Nagasaki und die Wiederkehr des Verdrängten

Die beiden ersten Romane Ishiguros spielen unter japanischen Menschen und haben speziell diese bedrückende Atmosphäre verdrängten Schmerzes und schwelender Schuld in den Nachkriegsjahren zum Thema. In „Damals in Nagasaki“ (1982) hat die in England lebende Japanerin Etsuko mit der Erinnerung an ihre von einer Atombombe zerstörte Stadt ganz abgeschlossen. „Kaum mehr als eine vage Erinnerung ist ihr davon geblieben, kaum mehr als ein Schleier, der hin und wieder in ihr Jetzt treibt“, heißt es in einer Rezension zum Buch. Das Unterdrücken der Erinnerung, so wenig es langfristig tragfähig ist, dient dem seelischen Selbstschutz. In derselben Rezi werden die „sehr japanischen Dialoge“ angesprochen: „So sind sie einerseits voller Höflichkeitsfloskeln, die den Gesprächsinhalt nicht selten so sehr verzerren, dass er kaum noch als solcher wahrzunehmen ist, andererseits aber auch sehr behutsam und feinfühlig.“

Mit diesen beiden Aspekten haben wir schon fast den ganzen Ishiguro und das psychologische „Aroma“ charakterisiert, in das er seine Figuren taucht: Die Verdrängung des Grauens (und die Wiederkehr des Verdrängten) ist die eine Seite; Gefühlsrepression bis hin zur Verleugnung der eigenen inneren Wahrheit die andere. Japanische „Höflichkeit“ fließt hier zusammen mit der etwas steifen Contenance der englischen Upper class, wie sie in alten britischen Romanen auf das Schönste dargestellt wurde. Angesichts eines nur gedämpften, verklausulierten Selbstausdrucks dieser Romanfiguren gibt es für den Leser dabei immer viel zu erraten und zu erahnen. Stevens, der von Anthony Hopkins dargestellte Butler in „Was vom Tage übrig blieb“, verkörpert den pflichtbewussten Gefühlskrüppel in klassischer Ausformung. Der spröde Domestike verrichtet auch unmittelbar nachdem er die Nachricht vom Tod seines Vaters erhalten hat, ungerührt weiter seine Pflicht. Auch eine mögliche Liebesverbindung zur Haushälterin Miss Kenton verpasst Stevens durch sein abweisendes Verhalten.

Das Opfer des Gefühls

Und noch ein drittes Zentralthema Ishiguros kommt in diesem Meisterwerk zum Tragen: das Opfer des Individuums für die Gemeinschaft. „Das Opfer des Gefühls“ nennt der Astrologe Wolfgang Döbereiner diese Seelenbewegung mit Blick auf das Sternzeichen des Skorpions (es ist tatsächlich Ishiguros Zeichen). Gewiss sollte man vorsichtig sein mit pauschalen Aussagen über Nationen. Dennoch fand ich es aufschlussreich, in einem Internet-„Benimmratgeber“ zu stöbern, in dem Japanreisenden mit der Mentalität des Landes vertraut gemacht werden: „In Japan steht im Gegensatz zu vielen westlichen Gesellschaften nicht Selbstverwirklichung eines Individuums im Vordergrund, sondern stets die Gemeinschaft. Die japanische Erziehung baut demnach auf Selbstlosigkeit und der Bereitschaft, der Gesellschaft zu dienen. Im Angesicht einer Krise hat der wohlerzogene Japaner also nicht in erster Linie an eigene Verluste zu denken oder an das eigene Schicksal.“

Butler Stevens also ist der „englische Japaner“ par excellence. Und auch in dem anderen sehr bekannt gewordenen Roman Ishiguros zeigen sich diese Muster: „Alles, was wir geben mussten“ (2005, verfilmt mit Carey Mulligan und Keira Knightley). Der Roman spielt in einer dystopischen Zukunftswelt, die jedoch statt Raumschiffen und Robotern die gepflegte Atmosphäre eines englischen Internats vor den Lesern ausbreitet. Die Kinder dort, so enthüllt ein schockierender Twist, sind Klone, die einzig dafür aufgezogen werden, um „richtigen Menschen“ als Organersatzteillager zu dienen. Nach zwei oder drei Organspenden werden sie als junge Erwachsene sterben – so ihre unausweichliche Bestimmung.

Fügsame Melancholie

Wie es scheint, traf der Roman einen Nerv, weil er ein Grundgefühl von Jugendlichen transportiert: von Erwachsenen funktionalisiert, verplant und verheizt zu werden – ohne irgendein Mitspracherecht über das eigene Schicksal. Im Gegensatz zu anderen populären Jugenddystopien, etwa „Die Tribute von Panem“, fällt aber in Ishiguros Roman (wieder) dieser irritierend resignative Tonfall auf. Man möchte die Hauptfiguren schütteln und ihnen zurufen: „Nun tut endlich was!“ Aber niemand rebelliert lauthals, alle fügen sich mit einer für den Leser fast schon enervierenden Hinnahmebereitschaft. Ganz japanisch-englisch ist im Dienst der Gemeinschaft notfalls jedes Opfer zu bringen; opfern muss die Protagonistin Kathy auch das private Gefühl zu ihrem Geliebten Tommy, den sie an die zupackendere Rivalin verliert – ein Liebesdreieck nah am Abgrund des sicheren Todes. Man könnte in dem Roman sogar eine Kritik an der Passivität, dem mangelnden rebellischen Impuls der Jugend sehen. Ich meine aber, ein anderer Aspekt ist entscheidender.

Mono no aware heißt die japanische Variante der Melancholie. Gemeint ist ein fügsames Bewusstsein dessen, dass alles auf Erden vergänglich ist. Eine Definition von Wikipedia spricht auch von einer „tiefen, zärtlichen Traurigkeit über die Realität der Dinge“. Ishiguros Nobelpreisträger-Kollege Thomas Mann nannte es die „wissende Wehmut der Sterbensreife“. Was viele Leser an den Werken Kazuo Ishiguros irritiert und zugleich anzieht, könnte auch Mono no aware sein – etwas, was unsere am „positiven Denken“ orientierte Machbarkeitsgesellschaft tief in ihrem Schatten mit sich herumträgt: das bittersüße Gefühl, sich in ein Unausweichliches wehrlos wie ein Ertrinkender hinab gleiten zu lassen. Womit sich zugleich auch alle Ego-Schranken auflösen.

Der Traum von der einen aufrichtigen Liebe

Als Ausweg aus der tödlichen Enge des uns zugemuteten Schicksals kommt bei Ishiguro etwas ins Spiel, das an sich nicht neu ist: der Traum von der einen aufrichtigen Liebe zwischen Mann und Frau. Unter den Klonen des Internats in „Alles was wir geben mussten“ geht zeitweise das Gerücht um, bei „wahrhaft Liebenden“ könne die erste Organspende aufgeschoben werden. Doch auch dieser Hoffnungsfunke erweist sich als Gerücht, die Liebe vermag nicht wirklich vor dem Tod zu retten, aber die vergebliche Hoffnung, die sie spendet, versüßt immerhin die Wartezeit. Das gleiche Motiv finden wir auch in Ishiguros jüngstem Roman „Der begrabenen Riese“, in dem mit Beatrice und Axl ungewöhnlicherweise ein älteres Ehepaar im Mittelpunkt steht. Der Fantasy-Roman, in dem tatsächlich Ritter, Zauberer, Drachen und Kobolde auftreten, entwirft eine mythische Fiktion: Jeder Mensch muss am Ende seines Lebens von einem Fährmann ins Totenreich übergesetzt werden. Mann und Frau können aber nur getrennt fahren, was für Beatrice und Axl mit massiven Verlustängsten verbunden ist. „Gibt es eine Form liebender Gemeinsamkeit, die stark genug ist, um den Tod zu überwinden?“ ist auch hier die Frage.

Schließlich ist auch „Der begrabene Riese“ wieder ein Roman über quälende Erinnerungen und ihre (misslingende) Verdrängung, womit der Schriftsteller zu seinen Anfängen und zu Nagasaki zurückkehrt. Der Roman, der in der Zeit des Artus-Rittertums spielt, berichtet von grausamen Massakern, die zwischen den verfeindeten Stämmen der Sachsen und der Britannier stattgefunden haben müssen. Alles Vergangene ist aber zu Beginn der Handlung in einen „Nebel des Vergessens“ gehüllt. Die Protagonisten können nicht weiter als ein paar Wochen in die Vergangenheit schauen. Der Atem einer riesigen Drachin, so die Fabel, hat diesen Nebel erzeugt. Ist Vergessen eher Fluch oder Gnade? Und was an Verdrängtem kommt zum Vorschein, wenn der Drache getötet, die betäubende Wirkung des Nebels somit verflogen sein wird? Wir können uns diese Frage stellen – als Einzelpersonen wie auch als Deutsche, die wie die Japaner mit dem Schatten einer Kriegsschuld zu kämpfen haben. Welche unserer Fehler im zwischenmenschlichen Bereich würden wir am liebsten dem Vergessen anheim geben? Welche historische Schuld, aber auch welches Opfererfahrung, in die unsere Vorfahren sich verwickelt haben, könnte durch den gnädigen Schleier einer kollektiven Amnesie gemildert werden? Ist Verdrängung Feigheit und eine Verhöhnung der dann ungerächt bleibenden Opfer? Oder könnte Vergessen verhindern, dass gemäß der „Logik“ von Schuld und Vergeltung neues Blut vergossen wird?

Schuld – der „begrabene Riese“

Kazuo Ishiguro selbst interpretierte sein Buch im Interview mit „Deutschlandfunk“ im Sinne aktueller Bezüge: „Ich habe tatsächlich darüber nachgedacht, sie [die Geschichte] in einer zeitgenössischen Umgebung anzusiedeln. Die schrecklichen Sachen, die in Bosnien und im Kosovo passiert sind, haben mich interessiert. In Ruanda ebenso. Fast jedes Land scheint so eine dunkle Vergangenheit zu besitzen. Die Leute erinnern sich nur sehr ungern daran und sie zögern bei der Frage, wie viel soll man erinnern und wie viel soll man vergessen.“ Die dunkle Vergangenheit fast jedes Landes nämlich ist der „begrabene Riese“, der diesem Buch den Titel gab.

Letztlich, so scheinen die Bücher des Anglo-Japaners sagen zu wollen, müssen sowohl Verdrängung als auch die Flucht in betäubende Fantasien scheitern. Also doch kein Autor der Resignation? Jedenfalls gibt es Situationen – so suggerieren die Bücher –, in denen es besser ist, zuzugreifen und sich zu stellen – gerade auch mit Blick auf die Vergänglichkeit: „Man kann nicht einfach sagen, das lassen wir noch einen Moment ruhen und gehen das später noch einmal an, denn es gibt kein Später.“

 

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