Muslime – die «Sich-Gott-Hingebenden»

 In FEATURED, Roland Rottenfußer, Spiritualität

Ein Beitrag zur Rehabilitierung einer viel geschmähten Religion. Der Anschlag auf eine Moschee mit über 235 Toten im Sinai (Ägypten) hat die Angst vor einem unkontrollierbaren und gewalttätigen Islam wieder einmal geschürt. Dabei genügt ein zweiter Blick, um die Sache differenzierter zu sehen: Auch die Opfer waren Muslime, Sufis zum großen Teil, islamische Mystiker, die von Fundamentalisten als Ketzer betrachtet werden. Wenn man das Gefühl hat, eine Gruppierung soll in Teilen der Öffentlichkeit zum Feindbild aufgebaut werden, ist es immer ratsam, sich näher mit besagtem „Feind“ auseinanderzusetzen. Mag es sich dabei um Russen, Juden oder Muslime handeln. Man sollte die Motive und die Mentalität der betreffenden Menschen erforschen – und zwar so wie sie sich selbst verstehen –, bis sich aus dem „Fremden“ das Nahe und Nachvollziehbare herausdestilliert. Weigern wir uns Feinde zu sein – überall, wo man uns etwas derartiges aufzuschwatzen versucht! (Roland Rottenfußer)

Einer Religion kann man sich nur schwer nähern, wenn man Spiritualität nicht zumindest als eine legitime Welthaltung anerkennt. Gerade säkulare Linke sind da ja häufig zwiegespalten: Eigentlich halten sie das alles für Humbug – Gott, Gebete, Wallfahrten und so –, aber im Kontext einer antirassistischen und antifaschistischen Debatte meinen sie trotzdem, für Muslime Partei ergreifen zu „müssen“. Gerade der Feminismus, der als Errungenschaft im besten Sinn des Wortes, im Europa Fuß gefasst hat, scheint mit einer patriarchalischen Religion, die viele als „mittelalterlich“ empfinden, unvereinbar. Konservative Patrioten, Abendlandverteidiger, Kirchenchristen indes sind traditionellen Muslimen in vielem so ähnlich, dass der Hass beider Gruppen aufeinander geradezu wie Spiegelfechterei wirkt. Wie also kann man zu einer Haltung gelangen, die geeignet ist, sowohl im Inneren wie im Außenkontakt mit Muslimen Frieden zu stiften. Wie verscheucht man die Gespenster der Islamophobie – ohne falsche Idealisierung und ohne preiszugeben, worin wir anders fühlen als die Zuwanderer?

Zunächst, meine ich, gilt es genau hinzuschauen. Und den konkreten Kontakt zu suchen. Über meiner Wohnzimmertür hängt eine wunderschöne Kalligrafie in arabischer Schrift, reich verzierte goldene Buchstaben auf schwarzem Grund, eine Art islamischer Haussegen, der die Größe Allahs preist. Mein türkischer Vermieter (und Vormieter) hatte mir den Haussegen überlassen, nachdem meine Frau und ich bei der Unterzeichung des Mietvertrags bei einer Tasse türkischen Kaffees die Schönheit der Schrifttafel gelobt hatten. Einzige Bedingung: Sie müsste in Ehren gehalten werden, dürfte nie unterhalb der Höhe des menschlichen Kopfes aufgehängt werden, da dies der Respekt vor Allah gebiete.

Die Kalligrafie hängt seither unverrückbar an ihrem Platz über der Tür, und es scheint, als habe sie die Kraft, weitere islamische Einflüsse in mein Leben zu ziehen und eine Brücke zwischen meinem christlich geprägten, teilweise auch sehr weltlichen Geist und dem meines islamischen Vormieters zu schlagen. Leider sind, was den Haussegen betrifft, witzelnde Bemerkungen von Besuchern, ob ich meine Wohnung denn nun zur islamistischen Terrorzelle umfunktionieren wolle, nicht selten. Alles nicht böse gemeint, gewiss, aber doch ein Symptom für die Atmosphäre des Misstrauens gegenüber dem Islam, in die wir uns von interessierten Politikern und Journalisten haben einlullen lassen. Es ist der unausgesprochene und oft uneingestandene Generalverdacht in unseren Köpfen, dass hinter Kopftüchern, schwarzen Schnurrbärten und dunklen „stechenden Blicken“ Unheil lauern könnte, Mordlust, Fanatismus und der gefährlichste Angriff auf unsere „freie“ Zivilisation seit den Hunnenstürmen.

Offenbar haben sich breite Teile auch der deutschen Öffentlichkeit in eine „Kulturkampf“-Stimmung hineintreiben lassen, die man 72 Jahre nach dem Untergang des Dritten Reichs und 28 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer nicht mehr für möglich gehalten hätte. Wir bewundern Künstler wie Sting (“Russians”) und Billy Joel (“Leningrad”) dafür, dass sie in der Zeit des Kalten Krieges positive Lieder über Russen geschrieben und in den Feinden die Menschen gesehen haben. Heute leben wir in einer Art „Kaltem Krieg“ mit dem Islam, und die geistige Gegenwehr einer angeblich aufgeklärten Gesellschaft gegen die Suggestionen der Kriegstreiber fällt beschämend halbherzig aus. Mit einer Schwemme von Erfahrungsberichten nach dem Strickmuster „Verschleiert, missbraucht und in den Harem entführt“ sollen Linke, Alternative und Frauen gegen den Islam eingenommen werden, während konservative Bürger mit „Mir-san-mir“-Mentalität schon immer vor einer „Überflutung“ durch das Fremde gewarnt hatten.

Dabei geht es gar nicht darum, die „dunklen Seiten“ des Islam, etwa die Unterdrückung der Frau in islamistisch geprägten Ländern zu beschönigen. Es käme jedoch darauf an, dass wir uns eine gewisse geistige Freiheit bewahren und die von interessierten Kreisen verbreiteten Halb- und Viertelwahrheiten über den Islam ergänzen zu einem vollständigeren Bild, das die Schönheit und Würde dieser Religion zur Kenntnis nimmt. Wer sich umfassender über den Islam informiert, vorzugsweise auch aus Quellen, die von Muslimen selbst stammen, immunisiert sich gegen einen Hass, der sich durch Provokation und Gegenprovokation tatsächlich zu einem neuen Kulturkampf aufschaukeln könnte. Mit unkalkulierbaren Gefahren für beide „Lager“. Schon heute müssen Träger langer schwarzer Bärte und arabisch klingender Namen in der schönen neuen Post-9/11-Welt um ihre körperliche Unversehrtheit fürchten. Wie der Deutschtürke Murak Kurnaz, der, weil er zur falschen Zeit am falschen Ort war, kurzerhand nach Guantanamo verschleppt wurde, in das schlimmste Foltergefängnis des freien, christlichen Abendlandes. Die Bemühungen der deutschen Behörden, Kurnaz frei zu bekommen, hielten sich in Grenzen – etwa weil es sich „nur“ um einen Muslim handelte?

Nicht viel anders ging es einem gewissen Yusuf Islam, dem im September 2004 die Einreise in die USA wegen Sicherheitsbedenken verweigert wurde. Er stand auf einer Liste von Terrorverdächtigen. Die US-Behörden leiteten einen Flug von London nach Washington, D.C. um und verhörten Yusuf nach der Landung, um ihn dann umgehend des Landes zu verweisen. Yusuf Islam ist niemand anderer als der Sänger und Weltstar Cat Stevens („Father and Son“), der 1978 zum Islam übertrat – alles andere als ein gefährlicher Terrorist. Ich las dann im Stern ein Interview mit Yusuf, der gerade nach 30 Jahren seine erste CD („Another Cup“) herausgebracht hatte. Der Sänger und Komponist sagte, dass ihm der Islam mehr als andere Religionen einen direkten Zugang zu Gott (ohne Vermittlung durch Priester, “Gottes Sohn” usw.) ermögliche. Er erklärte außerdem, der Prophet Mohammed sei in den ersten 13 Jahren seiner Mission Pazifist gewesen und habe sich später lediglich gegen die Angriffe Mekkanischer Feinde verteidigen müssen.

Das für mich schönste Lied auf der CD ist „The Beloved“, das Mohammed gewidmet ist. „Er öffnete die Türen der Liebe für jedes Herz, das ausgedörrt ist von Durst und brachte den Welten Gnade.“ Wir müssen diese schwärmerische Einschätzung der historischen Person Mohammeds nicht teilen, das Beispiel zeigt nur, dass man alles aus verschiedenen Perspektiven betrachten kann. Mir fiel bei meinen Studien des Islam und islamischer Künstler auf, welche Liebe diese Menschen für den Propheten und für Gott hegen. In den westlichen Medien wird es oft so dargestellt, als ob Muslime sich nur notgedrungen unter der Knute eines rigiden Regimes beugen. Von Liebe und Begeisterung erfährt man wenig, geschweige denn von Hingabe an Gott (wie die Definition des Wortes „Islam“ lautet).

Ungefähr zu der Zeit, als ich Yusufs CD zum ersten Mal hörte, las ich auch ein Interview mit dem vielleicht populärsten islamischen Schauspieler der Welt, Shah Rukh Khan (auch bekannt als der „König von Bollywood“. Obwohl er weltlich erzogen wurde, sagte der Schauspieler, „bin ich der überzeugteste Muslime der Welt, und ich glaube an Allah – genau deshalb bin ich kein Fundamentalist.“ Khan erzählte dann, dass seine Frau Hindu sei, was zu einigen bösen Angriffen seitens religiöser Fanatiker geführt habe. „Unsere beiden Kinder wachsen mit beiden Religionen auf, mit Hindu-Gebeten und Koran. Und jedem, dem das nicht passt, kann ich nur sagen: Der Islam hat mich Toleranz gegenüber allen Bräuchen und Religionen gelehrt.“

Wie kommt es zu solch unterschiedlichen Auffassungen des Islam, dass man aus ihm ebenso den Aufruf zur Intoleranz herauslesen kann wie (bei Shah Rukh Khan) den Aufruf zu Toleranz? Stehen im Koran etwas nicht Sätze wie diese: „Tötet die Ungläubigen, wo ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie und lauert ihnen auf“ (Sure 9,5)? Es gibt sie. In einem beiderseits vergifteten Klima tun wir allerdings gut daran, uns bewusst über die guten Seiten einer oft denunzierten Religion zu informieren. Hetze und einseitige, teilweise schikanöse Koran-Interpretationen sind kein neues Phänomen. Schon Martin Luther schrieb im 16. Jahrhundert: „Viele Theologen zwacken zu viel hitzig und heftig allein das allerschändlichste und ungeheuerste aus dem Koran heraus. Was gut darin ist, das verschweigen sie.“

Was gut ist im Koran sind zum Beispiel die vielen explizit toleranten Stellen, vor allen gegenüber Christen und Juden: „All denen – seien es Gläubige, Juden, Christen oder Sabäer -, wenn sie nur an Gott glauben, an den Jüngsten Tag und das Rechte tun, wird einst Lohn von ihrem Herrn, und weder Furcht noch Traurigkeit wird über sie kommen.“ (Sure 2, 63) Interessant ist auch die folgende Stelle, in der sich der Prophet gegen leeren Formalismus wendet und auf die wahren Werte hinweist: „Die Gerechtigkeit besteht nicht darin, dass ihr das Antlitz (beim Gebet) nach Ost oder West richtet, sondern jener ist gerecht, der an Allah glaubt und an den Jüngsten Tag und an die Engel und an die Schrift und die Propheten; der voll Liebe von seinem Vermögen gibt: den Verwandten, Waisen und Armen und den Pilgern, überhaupt jedem, der darum bittet; der Gefangene löst, das Gebet verrichtet, Almosen spendet; der an geschlossenen Verträgen festhält; der geduldig Not und Unglück und standhaft die Schrecken des Krieges erträgt. Dieser ist gerecht.“ (Sure 2, 178)

Die ethisch begründete Sozialgesetzgebung des Koran hat einigen Missständen Einhalt geboten, die zu Mohammeds Lebzeiten gang und gäbe gewesen sein müssen: etwa den häufigen Mädchenmorden und Tötungen „überzähliger“ Kinder in armen Familien, der Blutrache und der rechtlose Stellung der Frau, die durch den Islam in einen geordneten und geachteten Status überführt wurde. Die Almosensteuer (zakât) hat als eine der fünf Säulen des Islam eine im Vergleich zu anderen Religionen außerordentlich große Bedeutung und half über Jahrhunderte, die nackte Existenz und die Würde der Armen zu sichern.

Die religiöse Pflicht der Muslime, ihren irdischen Besitz mit weniger begüterten Glaubensbrüdern zu teilen, hat vielleicht auch dazu beigetragen, dass der neoliberale Ökonomismus, mit seiner nackten Gier, immer größere Vermögen zusammenzuraffen, in der islamischen Welt nie in dem Maß Fuß fassen konnte wie im „christlichen Abendland.“ Der Koran verbietet den Zins – als Reaktion auf die an moderne Zeiten erinnernde vorislamische Gewohnheit, geschuldete Geldsummen zu verdoppeln (!), wenn bei Fälligkeit die Zahlung ausblieb. „O Gläubige, greift nicht so gierig nach dem Wucher mit allen seinen Verdopplungen.“ Kein Wunder, dass der global operierende Raubtierkapitalismus sich gerade den Islam zum Erzfeind erkoren hat und keine Gelegenheit auslässt, ihn als mittelalterlich und intolerant zu brandmarken.

Ist die islamische Hingabe-Religion, die den Gläubigen nahe legt, ihr Schicksal ganz in die Hände Allahs zu legen, doch die größtmögliche Provokation für die im Westen florierende Ego- und Willens-Religion. Neuere spirituelle Richtungen und Methoden eines kapitalistisch inspirierten Erfolgs- und Mentaltrainings verkünden fast einhellig, dass der Mensch sich zum alleinigen Herrn seines Schicksals machen könne. Positives Denken, NLP, sektiererische Seminarangebote und der Tiefgründigkeit unverdächtige Vertreter einer populärer Ratgeber-Literatur setzen den Menschen quasi an die Stelle Gottes, indem sie ihn lehren, die vordergründigen Wunschvorstellungen seines Egos (Reichtum, Gesundheit, guten Sex) als Imaginationsbilder in eine gewünschte Zukunft zu projizieren. Dabei bedienen sie sich nicht selten aus dem Zusammenhang gerissener Bibel-Zitate wie „Dir geschehe nach deinem Glauben“.

Im Islam wäre eine solche vulgärmagische Selbstüberschätzung menschlicher „Schöpferkraft“ undenkbar. In der Schilderung der Größe und Allmacht Allahs verwendet der Koran ausnahmslos sehr poetische Begriffe: „Bei ihm sind die Schlüssel des Geheimnisses, die niemand kennt außer ihm. Er weiß, was auf dem trockenen Land und was im Meer ist. Es fällt kein Blatt vom Baum, von dem er nicht weiß. Es ist kein Samenkorn in der dunklen Erde, es gibt nichts Grünes und nichts Dürres, das nicht in seinem deutlichen Buch aufgezeichnet wäre. Er ist es, der euch des Nachts zu sich nimmt, er weiß, was ihr am Tag tut. Er erweckt euch zum neuen Tag, bis euer Ziel erreicht ist, und wird euch zu euerer Heimkehr zu ihm wiedererwecken.“ (Sure 6, 60) Der Islam-Bewunderer Goethe schrieb: „Wenn Islam ‚Gott ergeben’ heißt, in Islam leben und sterben wir alle.“

Versucht man den Koran vorurteilsfrei einzuschätzen, so offenbart sich ein deutliches Übergewicht von Werten wie Liebe, Gnade und Barmherzigkeit gegenüber den negativen Emotionen. Die berühmte Eröffnungsformel des Koran „Bismillah Ar-Rahman Ar Rahim“ (Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Allerbarmers) kehrt im Text nicht nur unzählige Male wieder, sie ist den Gläubigen auch durch das tägliche Pflichtgebet (salât) vertraut. Ausdrücklich – und damit den Evangelien im Christentum ähnlich – predigt die heilige Schrift der Muslime auch die Vergebung: „Denn Allah liebt die guten Menschen. Aber auch die, welche, nachdem sie Böses getan und sich versündigt haben, Allahs eingedenk sind und um Vergebung ihrer Sünden bitten (…) werden Gnade von ihrem Herrn erhalten.“ Gewiss gehören auch drastische Schilderungen von Höllenqualen zum Repertoire des Korans. Für uns Außenstehende erscheinen diese Beschreibungen oft abstoßend, zumindest aber widersprüchlich. Solche (scheinbaren oder tatsächlichen) Widersprüche gibt es aber auch in den heiligen Büchern anderer Religionen wie im Alten Testament, im Neuen Testament und in der Bhagavad Gita.

Es ist anzunehmen, dass jede Religion der Erde das gesamte Spektrum an Geisteshaltungen hervorgebracht hat: von Engherzigkeit, Hass und Diskriminierung Andersgläubiger bis hin zu äußerster Großzügigkeit, gedanklicher Weite und allumfassender Vergebung. Muslimische Gelehrte und Mystiker wie Ibn Arabi haben die Drohung der Höllenstrafe relativiert und sie als vorübergehendes, mehr mental bedingtes Leiden im Angesicht der Gottesferne gedeutet. Und von der Sufi-Heiligen Rabia al Adawiyya (8. Jahrhundert) ist folgende Anekdote überliefert: Man habe sie in den Straßen von Basra gesehen, mit einem Eimer in der einen Hand und einer Fackel in der anderen. Gefragt, was das bedeute, habe sie geantwortet: „Ich will Wasser in die Hölle gießen und Feuer im Paradies legen, damit diese beiden Schleier verschwinden und niemand mehr Gott aus Furcht vor der Hölle oder in Hoffnung aufs Paradies anbete, sondern nur noch um Seiner ewigen Schönheit willen.“

In allen Religionen neigen Mystiker, die von unmittelbarer Gotteserfahrung berichten, und besonders herausragende Persönlichkeiten dazu, die Grenzen von Kult, Regel und Konfession zu überschreiten und in einen transkonfessionellen Raum vorzustoßen. So schrieb der vielleicht berühmteste Dichter des islamischen Mittelalters, Dschelaladdin Rumi (13. Jahrhundert): „Von Glauben und Unglauben liegt jenseits ein Land,/ Uns liegt eine Leidenschaft dort an dem Strand./ Der Wissende, der dorthin kommt, beugt sein Haupt.“ Und in einem anderen Gedicht aus seinem „Diwan“: „Ich bin weder Christ noch Jude,/ auch Parse und Muslim nicht; (…) Nicht Körper bin ich noch Seele –/ ein Glanz nur von Seinem Licht./ Die Zweiheit hab ich verworfen,/ ich sah in zwei Welten nur eins:/ Ich suche und kenne und rufe/ nur ihn, bis das Auge mir bricht.“ Rumis Aussage, er wolle aus Liebe zu Gott nicht einmal mehr Muslim sein, erinnert an die paradoxen, für „Normalchristen“ schockierenden Texte eines Meister Eckhart.

Manche Westler geben an, dass sie den Islam, vor allem den Sufismus zwar respektieren, mit dem Propheten Mohammed aber nichts anfangen können. Für seine Anhänger repräsentiert Mohammed aber nichts Geringeres als den in jeder Hinsicht vollendeten Menschen, der seine Lebensaufgabe in staunenswerter Weise erfüllt hat. Dies schließt neben seinem spirituellen Werk auch Glück in der Liebe und die Rolle als guter Familienvater mit ein. Ebenso wie Erfolg und Durchsetzungskraft auch in den äußeren Angelegenheiten, wo es notwendig erscheint eben auch im Krieg. Der Opfertod Jesu oder die Vorstellung, „dem Bösen nicht zu widerstehen“ war Mohammed offenbar fremd, dafür erreichte er noch zu seinen Lebzeiten, dass sich der Islam in seiner Heimat, dem heutigen Saudi-Arabien, durchsetzte. Dabei forderte der Prophet nie, den Glauben mit dem Schwert zu verbreiten, lediglich „gesunde Selbstbehauptung“ legte er seinen Gläubigen nahe.

Bekannt ist das folgende Prophetenwort: „Ein Muslim soll alles nur in seiner Macht stehende tun, um einen Krieg zu vermeiden. Wenn es aber zu einem Krieg kommt, so soll er alles in seiner Macht stehende tun, um diesen Krieg zu gewinnen.“ Das arabische Wort „Dschihad“, das im Kalten Krieg gegen den Islam besonders gern herangezogen wird, um den gewalttätigen Charakter dieser Religion zu beweisen, bedeutet nichts anderes als „Streben“. Gemeint ist das Bemühen des Gläubigen, in jeder Lebenslage nach Gott zu streben. Als Mohammed und seine Anhänger 630 Mekka friedlich eingenommen hatten, soll er gesagt haben: „Wir sind vom kleinen heiligen Krieg (Dschihad Al-Asrar) zum großen heiligen Krieg (Dschihad Al-Akbar Asrar) zurückgekehrt.“ Zur Erklärung fügt er an, dass damit der „fortwährende Kampf gegen die niederen Anteile der Seele“ gemeint sei.

Der Islam verhält sich zur Figur von Jesus außergewöhnlich respektvoll, ja liebevoll, kommt aber ohne die Vergöttlichung ihres Propheten, ohne Erbsünde, im Übrigen auch ohne einen „muslimischen Papst“ aus. Ein berühmtes Sufi-Wort lautet: „Ihr habt zwar das Kreuz, aber wir haben Jesus“. Damit ist ausgesagt, dass die Sufis die Gebote der Nächstenliebe und des ständigen Gottesgedenkens vielleicht konsequenter verwirklichen als die mit Macht und Reichtum prunkende Kirche. Vielleicht steckt darin auch eine Abgrenzung zur „negativen Anthropologie“ des Christentums, die den Menschen als grundsätzlich sündig betrachtet. Kritik auch an der Reduktion Christi auf seine Rolle als Leidender und Sterbender, die der Kirche als Vorwand zur Manipulation der Christen mittels Schuldgefühlen diente („Christi Blut für dich vergossen“).

Zu den herausragenden Unterschieden zwischen Christentum und Islam gehört auch, dass letzter einen strengen Asketismus und das Mönchsleben (zumindest als dauerhafte Einrichtung) ablehnt. Als ein Gefährte des Propheten, Uthman Ibn Mazun, diesen bat, sich endgültig aus der Welt zurückziehen und als Asket leben zu dürfen, soll Mohammed geantwortet haben: „Deine Augen haben ihre Rechte, der Körper hat seine Rechte und deine Familie hat ihre Rechte. Also bete und schlafe, faste und breche dein Fasten.“ Ebenfalls bekannt ist das Prophetenwort: „Mir wurde die Liebe zum Parfum und zu den Frauen gegeben und die Erfrischung meiner Augen liegt im Gebet.“ Ich bin in einer Religion aufgewachsen, deren herausragender erotischer Mythos darin bestand, dass sich Luther nach Jahrzehnten des Mönchstums eine Frau genommen hat, die er „in der Woche zween“ zu beglücken trachtete. Da ist Mohammed, dem zwei Hauptfrauen (Aischa und Hafza), sieben Nebenfrauen und mehrere Sklavinnen nachgesagt werden, natürlich ein anderes Kaliber.

Die Folge von Mohammeds ausgiebig praktizierter „Liebe zu den Frauen“ war natürlich auch, dass sich im Islam niemals eine sexfeindliche bzw. leibfeindliche Komponente etablieren konnte. Der Islam besitzt unter den westlichen Religionen vielleicht die größte Körperintelligenz. Auch die täglichen, körperlich von Niederwerfungen begleiteten Gebete sind Zeichen einer intuitiven Weisheit, die Gott nicht „gegen den Körper“ und an ihm vorbei zu finden trachtet. „Yoga der Muslime“ ist der körperlich anspruchsvolle und abwechslungsreiche Gebetsritus auch genannt worden. Interessant ist auch, dass Mohammed keinen Sohn, jedoch vier Töchter hinterließ. Er wurde wohl zu seiner Zeit – wie man heute sagen würde – als „Büchsenmacher“ verspottet. Vielleicht hat seine Rolle als Tochtervater aber auch dazu beigetragen, dass er sich im Koran streng gegen die zu seiner Zeit gängigen Mädchenmorde aussprach.

Der Status der Frau wurde unter Mohammed zweifellos aufgewertet, wenn auch von völliger Gleichberechtigung nicht die Rede sein konnte. Der Islam-Experte Walter M. Weiss schreibt dazu: „Mohammed war es, der anstelle der bis dahin meist unverbindlichen Verhältnisse zwischen den Geschlechtern die polygame Ehe und die Möglichkeit der Scheidung im Gesetz festschrieb und dessen Bruch hart bestrafen ließ. Auch gestand er der Frau einen Anspruch auf Erbschaft und Besitz zu. Dank der neuen Normen wurde sie vom völlig schutzlosen Objekt zum Individuum mit eigener Rechtspersönlichkeit.“ Weiss meint sogar: „Vor Gott betrachtet der Islam beide Geschlechter als völlig ebenbürtig. (…) Biologisch und psychologisch jedoch seien sie verschieden und sollten ihrer Natur gemäß in der Gesellschaft unterschiedliche Rollen spielen.“

Die Verbannung der Frau aus dem öffentlichen Leben wie auch der Schleierzwang wurden, so Weiss, erst nach dem Jahr 750 in einigen Regionen üblich. Der Koran enthält an keiner Stelle das Gebot, dass Frauen einen Gesichtsschleier tragen müssten. Ein solcher war zu Zeiten des Propheten kaum in Gebrauch. Neben der Abwehr gieriger Männerblicke hatte eine Kopfbedeckung auch eine nicht zu unterschätzende praktische Bedeutung: als Schutz vor Sand, Wind und Sonne (weshalb Kopfbedeckungen auch bei arabischen Männern bis heute Usus sind. Was nun krasse Formen der Unterdrückung der Frau durch selbsternannte Tugendwächter – etwa in Afghanistan oder im Iran – betrifft, so spricht vieles dafür, dass diese eher der menschlichen (speziell: männlichen) Natur zuzuschreiben sind als dem Islam. Manche Unsitten oder historisch verbriefte Grausamkeiten sind im selben Maße „muslimisch“ wie Hexenverbrennung und Kreuzzüge „christlich“ sind.

Hinsichtlich des immer wieder angeführten Arguments, das christliche Abendland habe zwar historische Schuld auf sich geladen, sei aber wenigstens heute „weiter“ als die islamische Welt, sind Zweifel angebracht. Es ist vor allem zweifelhaft, ob irgendeine, selbst noch so verabscheuungswürdige geistige Strömung auf unserem Globus derzeit mehr Unheil anrichtet als jenes Phänomen, das Viviane Forrester als „Terror der Ökonomie“ bezeichnet. Mohammed an den Taliban zu messen wäre ebenso unsinnig, wie die Evangelien mit Blick auf den „gläubigen Christen“ Trump als Keimzelle von Folter, Angriffskrieg und Umweltzerstörung zu brandmarken. Die indische Schriftstellerin Arundhati Roy erwiderte dem damaligen amerikanischen Präsidenten Bush, „dass die Menschen in dieser Welt noch eine andere Wahl haben als die zwischen einer boshaften Mickey Maus und den verrückten Mullahs.“

Wir dürfen eine Religion und ihren Gott niemals an deren engherzigsten, psychisch labilsten Anhängern messen. Die Art, wie jemand eine Religion versteht und umsetzt, sagt doch immer mehr über diese Person selbst aus als über ihre Religion. Der moderne Sufi-Meister André Shanteem schreibt: „’Dunkle’ Charaktere lesen im Koran eine Aufforderung zu Engstirnigkeit und Fanatismus, wohingegen ‚helle’ Charaktere im Koran eine Aufforderung zu Toleranz, zu aktiver Gottes- und Nächstenliebe sowie zur unmittelbaren Erkenntnis der Schöpfung und des höchsten Seins erkennen. (…) Jeder finde im Koran genau das, was er zu finden bestrebt sei.“ Also bemühen auch wir uns – gerade in Zeiten einer perfiden Anti-Islam-Kampagne –, das Gute darin zu finden!

Jedes Mal, wenn brave Bürger eine Überfremdung und Überflutung mit islamischer Kultur befürchten, möchte ich gern erwidern: Ein spirituell ausgehöhlter, wirtschaftshöriger, in seinem Anspruch auf ethische Vorbildhaftigkeit immer weniger glaubwürdiger Westen täte gut daran, sich ein wenig von islamischem Gedankengut „überfluten“ zu lassen. Dann sollte es aber bitte eine Religion der Liebe und der Hingabe sein, wie sie der Dichter Rumi oder der Sufi-Meister André Shanteem vertreten. Der islamischen Haussegen über meiner Tür jedenfalls soll nie schief hängen. Versprochen!

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