Offner Brief an Sigmar Gabriel zu CETA und TTP

 In Allgemein, Christine Wicht, Politik (Ausland), Politik (Inland), Wirtschaft

Sozial zu sein, erwartet ja schon niemand mehr von der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Aber für demokratisch hatte man die SPD lange noch gehalten. Auch diesen Minimalkonsens opfern die Mannen und Frauen um Parteichef Gabriel jetzt auf dem Altar des “Freihandels”. CETA hat Gabriel durchgedrückt, und auch TTIP werden seine Befürworter sicher nicht kampflos aufgeben. Damit hat eine lange “sozialdemokratische” Verratsgeschichte ihren vorläufigen Tiefpunkt erreicht. Statt Gestaltungsmacht für die Bürger und die gewählten Volksvertreter zurückzuerobern, treiben die Genossen einen dann fast unumkehrbaren (Neo)liberalisierungsprozess voran und ketten noch künftige Generationen an das gefährliche Wahnsystem der Schröder- und Merkel-Ära. “Was ist für die SPD eine Demokratie? Ein Hindernis beim Geschäfte machen?”, fragt die Autorin zu Recht. (Christine Wicht)

Sehr geehrter Herr Gabriel,

mit den Freihandelsabkommen TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) und CETA (Comprehensive Economic and Trade Agreement) wurde Deutschland und die Europäische Union in eine Zwickmühle gebracht, denn egal ob der CETA- oder der TTIP-Stein in eine der vorbereiteten Mühlen gesetzt wird, die Mühle ist zu. US-amerikanische Firmen, die einen Sitz in Kanada haben, können beispielsweise auch über CETA EU-Staaten verklagen, auch wenn das TTIP-Abkommen zwischen den USA und der EU angeblich gescheitert ist. Es ist zu erwarten, dass das TTIP-Abkommen demnächst wieder auf den Tisch kommt.

Wenn eines der Freihandelsabkommen ratifiziert ist, darf es nicht mehr verändert werden, es ist somit in Stein gemeißelt. Änderungen wären dann nur mit Zustimmung aller Beteiligten möglich, und die kann man praktisch ausschließen. Auch ein neues Parlament, selbst nach Neuwahlen, dürfte dann von den ratifizierten Verträgen nicht mehr abweichen. Diesbezüglich ist es unverantwortlich CETA zu unterschreiben, da das Bundesverfassungsgericht verlangt, dass die vorläufige Anwendung von CETA jederzeit durch eine Entscheidung eines Mitgliedsstaates beendet werden kann. Wenn dies nicht der Fall ist, entmachten sich nationale Parlamente selbst und bleiben für alle Zeiten festgezurrt in einem System, das keine Spielräume für eigene Entscheidungen mehr zulässt. Die Demokratie wird ad absurdum geführt und die Bevölkerung wird von einer Wirtschaftsdiktatur regiert. Ich sehe es als meine demokratische Pflicht, meine Meinung zu äußern, auch um meinen Kindern und Enkeln sagen zu können, dass ich mich dagegen ausgesprochen habe. Eines Tages werden wir uns vor der nächsten Generation verantworten müssen. Es ist mir absolut unverständlich wie Sie, als Sozialdemokrat, ein solches Abkommen forcieren können. Freihandelsabkommen klingen nach Freiheit, doch Freiheit für wen?

Allein schon der undemokratische Prozess und das Nichtöffentliche Verhandeln war einer Demokratie, die ständig hochgehalten wird, nicht würdig. Wie undemokratisch dieser Prozess ist, wird unter anderem daran deutlich, dass die Bundestagsabgeordneten, die darüber abstimmen, den Vertrag nur unter absurden Auflagen einsehen durften. Ein wesentliches Merkmal der immer neoliberaler werdenden EU ist der sich ständig ausdehnende Lobbyismus auf allen Ebenen. Mit CETA soll die neoliberale Politik nun auch jenseits der Europäischen Union unumkehrbar abgesichert werden. Dieses Abkommen ist jedoch – wie viele andere – gleichfalls nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einer weltweiten grenzenlosen Bewegungsfreiheit für Investoren und zu Handelsfreiheit für internationale Konzerne, ohne steuernde Einflussmöglichkeiten demokratischer Gesetzgebung. Dank ihres gerade schon filzartigen Netzwerks an Lobbygremien innerhalb Europas und weltweit, sind Gewinner dieser Entwicklung die großen Konzerne. Verlierer sind die nur national oder regional orientierte Wirtschaft, die nationalen Parlamente und vor allem die Bürger, deren demokratische Rechte noch stärker durch internationale Vorgaben verbarrikadiert werden.

Auch die Vergabetechnik öffentlicher Aufträge steht im Fokus der EU-Kommission, flankiert vom Liberalisierungsbestreben des Dienstleistungsmarktes und den Veränderungen der Investitionsbedingungen, damit Investoren in Drittlandsmärkten frei und unreglementiert investieren können. Dabei sollten der Staat und seine Vertreter doch die Daseinsvorsorge für die Bürger schützen. Transnational agierende Konzerne, deren Lobbyverbände und Denkfabriken träumen seit geraumer Zeit von einem globalen Markt ohne Schranken. Lobbyorganisationen und Politik verbünden sich im Freihandelsfieber, um die Führungsrolle in der Weltwirtschaft zu halten und auszubauen. Mit lockenden Parolen, wie mehr Wirtschaftswachstum oder der Schaffung neuer Arbeitsplätze, soll Akzeptanz in der Bevölkerung für Handels- und Investitionsabkommen geschaffen werden. Eine transatlantische Freihandelszone, frei von sozialen und moralischen Verpflichtungen, ohne Kontrolle, ohne Rechenschaftspflicht und ohne politische Gegenmacht, fördert aber eine anarchische Weltwirtschaft, der dadurch eine nie dagewesene Macht zuteil wird.

Mit CETA soll ein Eldorado für Investoren geschaffen werden, die in der Ausübung ihrer Geschäfte nicht mehr durch nationale Umweltauflagen, Arbeitnehmerrechte oder Verbraucherschutz gehemmt werden wollen. Dieser Traum könnte allerdings zu einem Albtraum für EU-Bürger werden, weil politische erkämpfte Standards und Schutzrechte mit dem Investor-Staat-Klageverfahren sturmreif geschossen werden. Der „Mechanismus zur Beilegung von Investor-Staat-Streitigkeiten“ verlagert die Gerichtsbarkeit auf die Wirtschaftsebene und schafft eine dem Gewaltenteilungsprinzip widersprechende Sondergerichtsbarkeit. Das kommt einer Teilprivatisierung der Justiz gleich. Schiedsgerichte sind obendrein undemokratisch und ein Selbstbedienungsmodell mit Steuergeldern, die dringend für den von Ihrer Partei geschleiften Sozialstaat benötigt würden.

Wirtschaftsmacht, Medien und Politik bilden eine Allianz gegen die Interessen einer großen Mehrheit der Bevölkerung, mit dem Ziel die soziale Marktwirtschaft einem modernen Feudalismus zu unterwerfen. Diese Entwicklung führt zunehmend zu einer Unterordnung des Verhaltens des Einzelnen unter den Willen der Wirtschaft. Das sind im Kern Wesenszüge eines totalitären Regimes. Der Staat als Hüter der wirtschaftlichen und sozialen Ordnung verliert seine Bedeutung und seine Macht, weil global agierende Konzerne ihre Regeln für allgemeingültig erklären. Dabei wird ignoriert, dass der Wettbewerb Augenmaß und soziale Verantwortung braucht. TTIP und CETA sind neuerliche Versuche, die Demokratie und die soziale Ordnung aus den Angeln zu heben.

Die Bürger sind nicht hysterisch, wie Sie behauptet haben. Nein das sind die Bürger nicht, sie befürchten aber, dass sie der sozialen und ökologischen Errungenschaften beraubt, in den Zustand des längst überwunden geglaubten Manchesterkapitalismus befördert werden. Die Mehrheit der Bürger wollen kein solches Freihandelsabkommen, das die Bürger nicht mitnimmt, das nur einseitig die Interessen der Wirtschaft vertritt. In erster Linie entscheiden Lobbyisten, Konzerne und einige Politiker über das Leben von fast 500 Millionen Menschen in der EU mit Freihandelsabkommen, die Demokratieabbau, eine weitere Absenkung von Arbeitnehmerrechten sowie von sozialen und ökologischen Standards bringen, was tief in das Leben jedes einzelnen EU-Bürgers eingreift. Deshalb wehren sich die Bürger, weil über ihren Kopf hinweg Entscheidungen getroffen werden (in einer Demokratie wohl bemerkt), die sie nicht akzeptieren, da sie keinen Abbau der Errungenschaften, egal auf welchem Gebiet, hinnehmen wollen, nicht weil die Bürger hysterisch sind.

Die SPD ist, man kann es drehen und wenden wie man will, eine neoliberale Wirtschaftspartei und schon lange keine sozialdemokratische Partei mehr. Bei allen Entscheidungen muss sich der Bürger die Frage stellen „Wem dient die Sache?“ CETA und TTIP dienen mit Sicherheit nicht den Bürgern, schon gar nicht den Arbeitnehmern, sie dienen ausnahmslos der Wirtschaft. Beide Abkommen greifen tief in die Wirtschafts- und Sozialpolitik ein.

Wie weit hat sich die SPD vom Bürger entfernt, um nicht zu erkennen, dass die Bürger weder CETA noch TTIP wollen? Sind 320.000 Demonstranten nicht deutlich genug? 3,26 Million Unterschriften von EU-Bürgern und Bürgerinnen zeigen, dass die Bürger weder CETA noch TTIP wollen, de facto sind es noch weit mehr. Die Macht geht vom Volke aus, so steht es in der Verfassung, nicht vom Willen der Wirtschaft. Nach CETA und TTIP geht die Macht von Konzernen aus. Wollen Sie das?

Würden Sie einen solchen Vertrag in Ihrem Privatleben unterschreiben? Wohl kaum. Für die Folgen übernimmt die SPD keine Verantwortung. Wenn das Land komplett von der Wirtschaft regiert wird und Errungenschaften (auch die der SPD) nur noch als Handelshemmnis betrachtet werden, ist es zu spät, weil sich die Bürger den Direktiven der Wirtschaft erbarmungslos unterordnen müssen. Noch ist Deutschland ein Rechtsstaat! Und mit Ihrer Unterstützung wird er ausgehebelt, weil die Wirtschaft den Hals nicht voll bekommt – auf Kosten der Bürger! Wie ignorant muss man sein, um ein solches Abkommen zu forcieren?

Das Verhalten der SPD wirft diverse Fragen auf:

Was ist für die SPD eine Demokratie? Ein Hindernis beim Geschäfte machen?

Warum katapultiert uns die SPD freiwillig in eine Wirtschaftsdiktatur? Was haben die SPD-Abgeordneten davon?

Was ist der SPD der Bürger noch wert? Offensichtlich Nichts.

Was hat die SPD aus den Wahlergebnissen in jüngster Zeit gelernt? Nichts.

Erst wenn die SPD auf 12% oder darunter dahin dümpelt, kommt sie vielleicht zum Nachdenken. Bevor die SPD nicht wieder zum Bad Godesberger Programm zurückgekehrt ist, bleibt sie unwählbar für jeden sozial und demokratisch denkenden Bürger.

Agenda 2010, HartzIV, der Lissabon-Vertrag, die Teilprivatisierung der Rente, Senkung des Rentenniveaus, Drehtüreffekte usw. die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Was ist aus der SPD geworden? Sie ist verantwortlich für steigende Armut, dafür, dass Menschen aus der unteren Gesellschaftsschicht, die einmal Wähler und Unterstützer der SPD waren, keine Chance mehr haben, immer unten und arm bleiben. Sie wurden von der SPD verraten.

Die SPD ist absolut unwählbar für einen sozial und demokratisch denkenden Bürger.
Sie ist eine neoliberale Wirtschaftspartei ohne Gewissen und ohne die geringste Wahrnehmung für Arbeitnehmer, Arme, Rentner, Behinderte usw geworden. Sie ist eine Partei, ohne Rückgrat, die nur noch den Vorgaben der Wirtschaft folgt, ohne selbst zu denken. Für mich und mein Umfeld ist die SPD nicht mehr wählbar.

Hochachtungsvoll

Christine Wicht

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