Schwimmen im Glück

 In Allgemein, FEATURED, Holdger Platta, Kurzgeschichte/Satire

Holdger Platta gibt in dieser kleinen Erzählung eine ganz persönliche Jugenderinnerung an den St. Martins-Tag preis – warmherzig, humorvoll und präzise im Detail. Dabei bedient er sich teilweise des Dialekts “Mülheimer Platt” – wohl ein gerechter norddeutscher Ausgleich für die bayerischen und österreichischen Sprachfetzen, die wir unseren LeserInnen gelegentlich zumuten. (Holdger Platta)

Erwin hatte ihnen den Tipp gegeben. Es war schon dunkel, als er den Jungen unterhalb der Eintrachtstraße an der Bahnstrecke die geheime Nachricht zuflüsterte. Bei der Konditorei Hoffmann würden sie noch ganz tolle Sachen kriegen, richtige Tortenstücke zum Beispiel, Teilchen und so…

Es war der Sankt-Martins-Tag des Jahres 1952, ziemlich kalt und windig, manchmal auch Regen, aber kein Schnee bisher. Unten polterte soeben ein Güterzug vorbei. Andreas war gerade acht geworden. Und die Fuchsgrube, die Waldgegend, in der die Villen der Schlotbarone standen, war der reinste Reinfall gewesen.

„Ist aber ganz schön weit weg!“ maulte Emil.

Aber Andreas und Hotte hatten schon die herrlichsten Windbeutel im Kopf. „Dann bleib eben hier!  W i r  gehen!“

Natürlich kam Emil mit. „Ssinter Mätes Vögelsche hat son root Kapögelsche…“ Wäre auch noch schöner gewesen, Andreas und Hotte allein die Tortenstücke kriegen zu lassen!

„Na also“, sagte Hotte, „Aber geht schnell, sonst haben uns die von der Blötte schon alles weggeschnappt!“ Andreas wusste natürlich Bescheid. Die von der Straße drüben auf der anderen Seite der Bahngeleise, hoch über dem Tal, waren seit Jahren ihre Todfeinde.

Sie nahmen ihre Stoffbeutel wieder auf und marschierten los. Erst über die Holzbrücke an der Bahnebeeke, dann den Nonnenstieg hoch. Nur im Osten, dort, wo die Abstichflammen der Hochöfen loderten, war am Himmel noch Licht zu sehen.

„Nachher sollten wir nochmal die gizzige Kressmann ärgern!“ sagte Hotte.

„Stimmt!“ sagte Emil. „So eine geizige Ziege!“

Andreas erinnerte sich. Vor drei Jahren, als die furchtbare Alte aus der Haustür herausgeschossen war und die Jungen angeschrieen hatte. „Weg da, Ihr Blagen, weg da, ich gebe nichts!“ Als ob sie in ihrem Keller Hänsel und Gretel eingesperrt hätte. Seitdem hatten sie es immer wieder gerufen, wenn sie an dem schwarzen Häuschen der bösen Hexe vorbeigekommen waren: „Dat Huus, dat steiht uff eenem Pinn, da wohnt die gizzige Kressmann drin!“ (*) Sie hatten die Alte, die ihnen zum Sankt-Martins-Tag nichts hatte geben wollen, nie mehr gesehen seither. Komisch eigentlich.

„Leben tut sie aber noch!“ sagte Hotte. „Meine Mutter hat sie mal beim Metzger getroffen.“

Inzwischen hatten sie die Saarner Straße erreicht. Links ab nun, rauf über den Berg an der Eisengießerei Klosters vorbei, dann, bevor es nach unten zur Rennbahn in Raffelberg ging, rechts die Duisburger Straße hinunter zur Konditorei Hoffmann. Manchmal hörten sie in der Dunkelheit auch andere Kinder irgendwo singen. Sie waren nicht die einzigen, die noch unterwegs waren. Manche sangen furchtbar falsch, fand Andreas. Ob die wohl trotzdem in den Himmel kämen?

„Weiß einer von Euch, wie spät es eigentlich ist?“ Emil sah Hotte und Andreas fragend an.

„Och, sicher noch vor acht!“  Na, ob das stimmte? Hotte ging schon rüber auf die andere Straßenseite. Andreas und Emil folgten ihm. Sie waren alle etwas aufgeregt, denn so spät waren sie noch nie unterwegs gewesen!

„Heiiih, es fängt ja an zu schneien!“ Andreas zeigte auf die Flocken, die man im Licht einer Straßenlaterne tanzen sah. Jetzt gingen sie direkt auf den hellen Schein am östlichen Himmel zu. Emils Vater arbeitete dort, direkt am Hochofen. Die Mutter von Andreas mokierte sich immer darüber. „Auffe Arbeit“ hatte Emils Vater einmal gesagt. Und „mir“ und „mich“ verwechselte er auch immer. Eigentlich sollte Andreas gar nicht mit Emil befreundet sein, hatte Mutter gesagt, der sei zu dämlich. Andreas war aber trotzdem mit Emil befreundet.

Sie hatten jetzt die katholische Volksschule erreicht. Rechts im Dunkeln hinter dem ge-pflasterten Hof konnte man das Gebäude kaum erkennen. Und schon gar nicht, mitten in dieser steinkohlenschwarzen Nacht hinter den Büschen, das Gartenhäuschen daneben, die Unterkunft des alten Sawicki, den einige Halbwüchsige vor drei, vier Jahren zusammengeschlagen hatten.

„Polackensau!“ hatten die zu ihm gesagt, bloß weil er ein bißchen gebrochen sprach. Andreas hatte das nicht verstehen können, und Emil und Hotte auch nicht.

„Da drüben ist es schon!“ sagte Hotte. „Prima, überall ist noch Licht an!“

Links, hinter den Wiesen, konnte man etwas von den Pappeln an der Rennbahn erkennen, denn auch über der Nachbarstadt, die gleich dahinter lag, jenseits von Schleuse und Ruhr, sah man am Himmel den Widerschein der Hochöfen. Was die Kinder wohl bekommen würden? Die Köpfe platzten fast vor Erwartung.

Und dann sangen sie auch schon vor der Konditorei Hoffmann ihr Lied: „Ssinter Mätes Vögelsche hat son root Kapögelsche – geflogen, gestohlen, wiiiet, wiiiet över de Rhien, wo die fetten Ferkels siiien! Jutt Frau, giv uns watt, all die Hünerkes legen watt. Da boowen in de Höghte, da hang de langen Wööschte, giv uns die langen, lott die kotten hangen!  Lott uns nit so lange ston, wii wolle auch noch weiterjonn…!“ (**)

 Die Tür öffnete sich, eine Frau mit freundlichem Gesicht schaute heraus: „Ihr seid aber spät dran!“ sagte sie. „Na, woll’n mal sehen, was wir noch haben…“

Und dann drehte sie sich um, und Hotte und Emil und Andreas bekamen jeder eine große bunte Tüte, und als sie hinterher nachsahen,  waren erstklassige Kekse und Schokolade und Apfelsinen und Nüsse und sogar ein richtiger Mohrenkopf darin, und Hotte rief: „Habe ich es nicht gesagt!?“ Und Andreas und Emil schrieen vergnügt: „Jetzt noch die Kressmann ärgern! Schellemänneken machen ist das mindeste!“ (***)

Wie durch das Glück trotteten sie bei Klosters über den Berg zurück, ganz so, als hätten sie was fürs Leben gelernt. Der Schnee fiel dichter und dichter, auf den Zaunpfählen begannen, weiße Zylinder zu wachsen, und alles, was man im Licht der Straßenlaternen erkennen konnte, fing an, rundlich auszusehen. Die Jungen wußten, wenn sie die gizzige Kressmann geärgert hätten, stünde auch schon fast das Weihnachtsfest vor der Tür.  Und Andreas  ahnte bereits,  was  er  endlich  bekommen  würde:  ein  richtiges  Fahrrad!  Das  würde reichen für seine Weltreisen bis zum Entenfang, dem Badeteich hinter den Wäldern, und zum Baldeneysee und zum Seerosenteich mit der Schinderhanneshöhle im Duisburger Wald  und zu allen Geheimnissen des Erdballs – fast bis an die Grenzen der eigenen Fantasie.

„Feine Sache die Konditorei Hoffmann!“ sagte Emil.

„Guter Tipp von Erwin gewesen!“ sagte Hotte.

Andreas aber hielt den Mund, weil er gerade so im Glück schwamm.

 

(*)      „Das Haus, das steht auf einem Pfahl, da wohnt die geizige Kressmann drin!“ (Übersetzung: HP)

(**)    „ Sankt Martins Vögelchen hat ein rotes Köpfchen, geflogen, gestohlen, weit, weit über den Rhein, wo die fetten Ferkel sind. Gute Frau, gib uns was, all die Hühnerchen legen was! Da oben auf dem Dachboden, da hängen die langen Würste. Gib uns die langen, laß die kurzen hängen! Lass uns nicht so lange stehen, wir müssen auch noch weitergehen!“ (Übersetzung: HP. Die Bedeutung des Wortes „Kapögelsche“ ist übrigens umstritten; manche Kenner des Mülheimer Platts meinen, damit sei nicht ein Köpfchen gemeint, sondern ein Mantel, andere, man habe darunter eine Kapuze zu verstehen. Entsprechend unterscheiden sich die Auffassungen, um welchen Vogel es sich hier eigentlich handelt: um einen Truthahn oder um eine Gans oder…?)

(***)   Aus Schabernack an fremden Haustüren klingeln.

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