V.C. Herz: Die Autobahn

 In FEATURED, Kurzgeschichte/Satire, Umwelt/Natur

Filmszene aus “Batman Rises”

Was tun, wenn man unaufhaltsam auf einen Abgrund zurast? Stehen bleiben? Umkehren? Gott bewahre! Man schärft seine rhetorischen Werkzeuge, um zu begründen, warum man einfach immer weiter fährt, bis… Satire-Talent V.C. Herz lässt seine Stammleser hier aufatmen. Endlich einmal geht es nicht um Tierschutz und vegane Ernährung. Oder vielleicht doch? Wahre Literatur zeichnet sich ja gerade durch Vieldeutigkeit aus. (V.C. Herz, aus dem Buch “Das Lebe ist kein Ponyhof”, http://pflanzliche-kurzgeschichten.de/index.php)

Ich sitze zusammen mit einem Kollegen im Mietwagen. Wir sind auf dem Weg von München nach Hamburg, um dort einem Kunden ein neues Produkt vorzustellen. Das Meeting ist morgen Vormittag, wir haben in Hamburg jeweils ein Doppelzimmer in einem guten Hotel in der Innenstadt gebucht.

Wir haben bereits die halbe Strecke geschafft, als wir eine Pause machen. Eine Zigarette, eine Mahlzeit und einen Kaffee später geht es weiter auf der Autobahn. Mein Kollege liebt es schnell zu fahren, wir haben einen richtig guten Mietwagen erhalten, der hat einiges unter der Haube. Und so rasen wir mit gut 200 Sachen über die gut befahrene Straße.

„Du Henrik, wir sollten demnächst mal eine Ausfahrt nehmen und den Rest der Strecke über die Landstraße nehmen.“

Henrik schüttelt nur den Kopf. „Nein, wir bleiben auf der Autobahn!“, meint er nur.

„Aber Henrik, die Autobahn ist noch nicht fertig. Die Straße endet demnächst bei einer Baustelle für eine neue Brücke. Da geht es mindestens hundert Meter in die Tiefe. Da willst du doch nicht mit 200 km/h drauf zufahren.“

„Ach, wer sagt das?“, fragt Henrik nur genervt.

„Naja, das Navi. Und die ganzen Hinweisschilder hier. Ich habe das eben auch im Internet recherchiert, das steht dort auch überall. Wir müssen dringend von der Straße runter!“

„Du darfst nicht immer alles glauben, was andere Leute behaupten. Die wollen dich nur manipulieren. Ich sehe hier eine einwandfreie Straße. Und ganz ehrlich, es macht viel mehr Spaß, auf der Autobahn zu fahren als auf der Landstraße. Da sind wir viel schneller und angenehmer unterwegs“, erwidert Henrik nur.

„Ja, aber das ist kein Witz. Mensch, da geht es um unser Überleben. Komm, lass uns von der Autobahn runter und sicher über die Landstraße fahren. Ich habe echt keine Lust zu sterben!“

„Jetzt sei mal nicht so. Sterben muss schließlich jeder irgendwann einmal. Und wer sagt, dass wir wirklich hier auf dieser Autobahn sterben? Man kann auf so viele Arten umkommen. Es könnte auch plötzlich ein Atomkrieg ausbrechen, dann wäre es ziemlich egal, ob wir auf der Landstraße oder der Autobahn unterwegs sind. Wir könnten vorher einen Unfall haben. Und außerdem: Mein Vater ist die Strecke früher auch immer gefahren, und der ist immer sicher in Hamburg angekommen!“

„Ja, aber Henrik, gerade weil dein Vater so oft die Strecke gefahren ist, ist sie jetzt kaputt. Deshalb können wir die Brücke jetzt nicht mehr benutzen. Wir müssen hier wirklich runter. Nur weil jederzeit ein Atomkrieg ausbrechen kann, müssen wir uns doch nicht selbst absichtlich ins Verderben stürzen.“

„Mein Vater hat das schon immer so gemacht. Mein Großvater ist auch immer diese Strecke gefahren. Deshalb fahre ich auch diese Strecke. Ist mir egal, was Straßenschilder und Navigationsgeräte sagen. Für mich ist das hier der richtige Weg!“

Wir fahren mit 200 km/h an einer der letzten Ausfahrten vorbei. Verrückterweise ist die Straße nach wie vor gut befahren. Scheinbar denkt niemand daran, die Landstraße zu nehmen, trotz all der Warnschilder.

Henrik holt weiter aus: „Außerdem, die Landstraße ist viel langsamer, da darf ich nicht mit 200 km/h fahren, und es gibt dort auch nicht so viele Spuren. Und so weit ich das sehe, wird ja nur empfohlen, die Landstraße zu nehmen, es ist nicht explizit verboten, auf der Autobahn zu bleiben. Willst du mir etwa verbieten, die Autobahn zu nutzen? Ein wenig Toleranz wäre hier schon angebracht. Ich finde, jeder sollte so fahren dürfen, wie er möchte. Und die anderen fahren hier doch auch. Soll ich jetzt der einzige Idiot sein, der nicht hier fahren darf?“

„Mensch Henrik, das ist doch nicht lustig. Hier geht es um unser Überleben. Wir können entweder jetzt die nächste Ausfahrt nehmen und die Sache gerade noch mal überleben, oder wir fahren in unser Verderben. Sei vernünftig, lass uns rausfahren!“

Henrik lacht nur. Er fährt an der Ausfahrt vorbei, wie unzählige andere Autofahrer auch. Obwohl überall die Warnschilder aufgestellt sind, dass man die Autobahn wegen des Abgrunds an der Baustelle verlassen sollte. Aber das scheint niemanden zu interessieren.

„Der Menschheit ist eh nicht mehr zu helfen. Der ganze Müll, den wir produzieren, die Armut auf der Welt, der Klimawandel, die steigenden Meeresspiegel, die Überbevölkerung, die Atomkraft… Wir werden uns so oder so selbst auslöschen. Auch wenn wir jetzt abbiegen, ändert das doch nichts. Es ist eh schon egal!“, meint Henrik, während er noch weiter beschleunigt.

In der Ferne sehe ich den Abgrund, dichter Rauch steigt aus dem Tal darunter auf. Die Autos rasen trotzdem ungebremst darauf zu. Es scheint allein einfach egal zu sein.

„Verdammt, tritt endlich auf die Bremse. Du siehst es doch klar vor dir, wir müssen sofort anhalten und umdrehen!“, brülle ich, während wir auf den Abgrund zurasen.

Henrik lacht nur: „Ich habe letztens gelesen, dass unsere Vorfahren auch häufig bei Unfällen verunglückt sind. Ist also ganz natürlich, mach dir keine Sorgen. Und bevor ich die Landstraße nehme, genieße ich lieber noch die letzten Meter auf der Autobahn!“

Neben uns sind noch vereinzelt Menschen zur Vernunft gekommen und haben ihr Auto gestoppt, aber die meisten fahren einfach weiter. In hohem Bogen schießen wir über den Rand der Autobahn, zusammen mit unzähligen anderen Autos. Im Tal unten liegen unzählige brennende Karosserien. Ich versuche mich während des Absturzes noch irgendwo im Auto festzuhalten. Henrik schaut jetzt auch etwas entsetzt, scheinbar hatte er nicht damit gerechnet, tatsächlich in den Abgrund zu fallen. „Aber zumindest konnten wir das letzte Stück noch auf der Autobahn fahren“, meint er, während wir in die Tiefe stürzen. Ich höre noch einen lauten Aufprall und spüre, wie meine Beine zerquetscht werden.

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