Volkskrankheit Gehorsam

 In FEATURED, Politik (Inland), Roland Rottenfußer

“Wollt ihr den totalen Krieg?” Ja brüllende Menge bei Goebbels Sportpalast-Rede

Warum Zivilcourage Mangelware ist und warum wir künftig mehr von ihr brauchen. Der Homo Sapiens ist eigentlich ein Homo Obidiens, ein gehorchender Mensch. Der Gehorsam gehört zu den unverwechselbarsten und zugleich rätselhaftesten Merkmalen dieser Spezies. Die menschliche Bereitschaft zum Gehorsam ist ein Phänomen und übertrifft die des Hundes oder des Pferdes insofern, als es keinerlei Grenzen bei der Anwendung zerstörerischer und selbstschädigender Verhaltensweisen zu geben scheint. Wollen wir den Ungehorsam verweigern und als die Generation in die Geschichte eingehen, die selbst schreiendes Unrecht nur mit einem zaghaften Flüstern des Protests zu beantworten wagte? (Roland Rottenfußer)

Die potenziell unbegrenzte Neigung des Menschen, zu gehorchen, lässt sich an einem einfachen Beispiel demonstrieren: Keine Hinrichtungsart, keine noch so grausame Foltermethode, kein Krieg, keine Massenvergewaltigung und kein Völkermord ist wohl jemals daran gescheitert, dass sich niemand bereit gefunden hätte, die entsprechenden Befehle auszuführen. Ob Kindermord zu Bethlehem oder Atombombenabwurf in Hiroshima – überall fand sich mindestens ein Gehorsamer, jemand der Ja gesagt hat.

Die Bereitschaft von Normalbürgern, sich Befehlen von Autoritäten auch im Widerspruch zum eigenen Gewissen fast unbeschränkt zu unterwerfen, wurde 1964 aussagekräftig mit Hilfe des berühmten „Milgram-Experiments“ getestet. Versuchspersonen sollten andere, ihnen unbekannte Teilnehmer auf Anweisung eines autoritär auftretenden Versuchsleiters mit Stromstößen traktieren, um den Zusammenhang zwischen „Bestrafung und Lernerfolg“ wissenschaftlich zu untersuchen. Natürlich waren die Stromstöße nicht echt, die „Bestraften“ waren Schauspieler, die ihre Schmerzen nur spielten, wichtig ist hier nur, dass die Versuchspersonen an die Echtheit des Versuchsaufsbaus glaubten. Das Ergebnis des Experiments: 62,5 Prozent der Versuchspersonen waren bereit, ihrem Gegenüber einen Stromstoß von 450 Volt zu versetzen, bei 300 Volt waren es noch 100 Prozent.

„Die Menschheitsgeschichte begann mit einem Akt des Ungehorsams, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie mit einem Akt des Gehorsams ein Ende findet“. Erich Fromm schrieb diese Worte 1980 noch unter dem Eindruck des kalten Krieges, der drohenden atomaren Katastrophe. Ohne Zweifel: Hätte einer der damaligen sowjetischen oder amerikanischen Machthaber den Atomangriff auf die gegnerische Macht und die Auslöschung von Millionenstädten befohlen, irgendjemand hätte sich gefunden und diesen Befehlen gehorcht. Heute läuft es uns bei Fromms Satz vor allem mit Blick auf die eskalierende Klimakatastrophe – Hurricanes, wachsende Wüsten, ausgetrocknete Riesenseen und kahl geschlagene Urwälder – kalt den Rücken hinunter. Auch den Vernichtern unserer Lebensgrundlagen fehlt es selbstverständlich nicht an willfährigen Handlangern. Tatsächlich könnte die Geschichte der Menschheit in naher Zukunft unter den Händen von „Gehorsamen“ ihr Ende finden – gemeint sind aber nicht nur jene Waldarbeiter, die in Brasilien selbst Hand anlegen an die Baumriesen des Amazonas-Urwalds; gemeint sind wir alle – in unserer Untätigkeit. Untätigkeit ist die am weitesten verbreitete Spielart von Gehorsam.

Bernhard Fricke, seit 20 Jahren Öko-Akivist und Gründer der Münchner Umwelt-Initiative „David Goliath“ stellte anlässlich der Jubiläumsfeierlichkeiten resigniert fest, dass es schwerer geworden sei, Menschen zum Engagement gegen Umweltzerstörung und für Solarenergie zu motivieren: „Unsere ökologischen Probleme wachsen, aber die Bereitschaft der Menschen, etwas dagegen zu unternehmen, schwindet.“ Vielleicht ist es Mangel an Information, Mangel an Bereitschaft, sich die entscheidenden Informationen zu besorgen und sich der Wahrheit zu stellen. Aber auch die Selbstverständlichkeit und Arroganz, mit der Politiker und Wirtschaftsführer vorgehen, schüchtert ein, vermittelt uns das Gefühl, dass das, was geschehen soll, längst entschieden ist und dass wir uns zu fügen haben – und sei es in unseren eigenen Untergang. Woran es fehlt, ist die Courage, uns hinzustellen und zu sagen: „Stopp! Ihr habt euch das alles schön ausgedacht. Aber habt ihr uns gefragt, ob wir die Welt, die ihr geschaffen habt, auch wollen?“ Was Not tut ist eine Renaissance der Zivilcourage.

Menschen sind nicht immer so verzagt, so kleinmütig gewesen, wie wir es heute sind. Der Film „Gandhi“ mit Ben Kingsley enthält eine Stelle, die mich so beeindruckt hat, dass ich sie Wort für Wort von durch laufendes Stoppen und Abspielen meines Videorecorders abgeschrieben habe. In dieser Szene des Films lebt Gandhi noch in Südafrika und organisiert eine Widerstandsbewegung der indischen Bevölkerungsminderheit gegen ein diskriminierendes Gesetz der britischen Besatzungsmacht. „Alle Inder müssen sich Fingerabdrücke nehmen lassen – ganz wie Verbrecher. Keine Ehe, außer einer christlichen, wird für gültig erklärt. Nach dem neuen Gesetz sind unsere Frauen und Mütter nichts als Huren.“ Gandhi hält seinen Vortrag vor einem großen Saal indischer Menschen, die empört die Tötung der Polizisten fordern. Gandhi aber ruft zur Gewaltfreiheit auf und schließt seine Rede mit den Worten: „Sie können, wenn sie wollen, meinen Körper foltern, mir meine Knochen brechen, mich sogar umbringen. Dann haben sie zwar meinen Leichnam, aber keineswegs meinen Gehorsam. Wir sind Hindus und Moslems, sind Kinder Gottes – jeder von uns. Lassen Sie uns einen feierlichen Eid ablegen, dass, komme was wolle, wir uns diesem Gesetz auf keinen Fall unterwerfen!“

Das Fantastische an dieser Rede ist, dass sie wirklich stattgefunden hat – und dass sich Gandhi mit seinem Widerstand gegen das Gesetz am Ende durchsetzte. Wann ist es bei uns je vorgekommen, dass das Volk oder Teile des Volkes aufstehen und sagen: „Wir werden uns diesem Gesetz auf keinen Fall unterwerfen!“? Die Mehrheit der Bevölkerung ist nicht einmal dann zum Widerstand bereit, wenn ihr weit weniger droht als Folter und Tod. Wir schauen zu, wie man unsere Natur zerstört und wie man uns – durch beispiellose Umverteilung des Reichtums von unten nach oben – buchstäblich die Butter vom Brot nimmt. Herbert Grönemeyer sang: „Wie eine träge Herde Kühe schauen wir kurz auf und grasen dann gemütlich weiter.“

Warum ist das so? Halten wir die Entscheidungen unserer „Altvorderen“ wirklich für sakrosankt? Der Blick auf die Geschichte zeigt, wie unsinnig es ist, den von den Mächtigen verordneten Ideologien blind zu folgen. Vor 150 Jahren hielt man in den amerikanischen Südstaaten die Verschleppung und Versklavung dunkelhäutiger Afrikaner für eine gute Sache. Noch vor 40 Jahren (!) fand man es in der Schweiz legitim, den Frauen das Wahlrecht abzusprechen. Und vor 51 Jahren galt in den USA das Gesetz, dass Schwarze, in einem Bus aufzustehen hätten, wenn ein Weißer den Platz für sich beanspruchte. Die Bürgerrechtlerin Rosa Parks gilt als erste Schwarze, die sich der Aufforderung des Busfahrers, für einen Weißen Platz zu machen, widersetzte. Sie wurde für diese „Vergehen“ von der Polizei verhaftet und zu einer Geldstrafe verurteilt. Rosa Parks Weigerung stand am Anfang von monatelanden Busstreiks der Schwarzen unter der Führung von Martin Luther King.

Warum in alles in der Welt meinen wir, dass gerade heute den bestehenden Gesetzen eine besondere, unantastbare Bedeutung zukommt? Heute redet man uns ein, dass die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums durch Zins- und Zinseszins eine Notwendigkeit ohne Alternative sei. Ebenso redet man uns (zumindest in Deutschland) ein, dass das Volk nicht reif sei für Plebiszite auf Bundesebene) und dass es gut sei, einen stärkeren Schulterschluss mit US-Präsident Bush zu suchen, einem Mann, dessen Namen mit Angriffskriegen, mit der Rückkehr der Folter in das Verhaltensrepertoire demokratischer Nationen und mit schreiender Ignoranz in ökologischen Fragen verbunden ist. Genügen uns diese Beispiele nicht, um wachsamer zu werden gegenüber dem, was man uns heute als „unvermeidlich“ verkaufen möchte?

Lassen wir uns nicht blenden! Mächtige versuchen ihren Ideen immer den Anschein des Allgemeingültigen und Unantastbaren zu verleihen. Die Unerbittlichkeit und Arroganz, mit der Gesetze und Ideologien von den Mächtigen durchgesetzt werden, ist oftmals umso größer, je kleiner die inhaltliche Substanz dieser Ideologien ist. Wer etwas Gutes, für die Menschen Nützliches beschließt, benötigt kein autoritäres Auftreten. Nur wer etwas zu verbergen hat – vielleicht die Tatsache, dass die verhängte Maßnahme zum Schaden der Mehrheit ist –, der hat keine andere Wahl als Drohung mit Gewalt und Strafe.

Einer der größten Weisen der Philosohiegeschichte, Laotse, schreib über den Staat: „Der, des Verwaltung unauffällig ist, des Volk ist froh. Der, des Verwaltung aufdringlich ist, des Volk ist gebrochen.“ Aber kann man von einem Staat erwarten, dass er sich freiwillig zurückzieht, wo er zu aufdringlich geworden ist, wo er zu anmaßend auftritt gegenüber den Freiheitsrechten seiner Bürger? Müssen wir uns nicht vielmehr selbst behaupten und seinen Einfluss, wo er zu „frech“, vielleicht sogar bedrängend geworden ist, zurückdrängen auf ein gesundes Maß? Macht hat eine sich selbst verstärkende und verfestigende Grundtendenz. Für viele Mächtige hat die Macht Suchtcharakter – nicht anders als für den Trinker die Flasche. Wer einmal davon gekostet hat, will immer mehr haben. Mit der Dynamik der Macht ist es wie mit der Zinsdynamik: Große Ansammlungen davon neigen dazu, immer weiter zu wachsen – auf Kosten der Schwächeren. Und ein permanentes Wachstum von Macht ist nur möglich, wenn auch die Anzahl derer, die gehorchen müssen, immer mehr steigt, oder wenn das Ausmaß, die Unbedingtheit des geforderten Gehorsams ausgeweitet wird.

Wenn wir uns dieser Dynamik bewusst werden, wächst vielleicht die Erkenntnis, dass das Volk für das Ausmaß seiner eigenen Macht – im Widerstreit zum Machtanspruch des Staates – zum großen Teil selbst verantwortlich ist. In gewisser Weise bekommt wirklich jeder die Regierung, die er verdient. Wenn man von pathologischen und extrem bösartigen Fällen wie Hitler absieht, ist der durchschnittliche Machtinhaber in einer Demokratie durchaus berechenbar. Manchmal kommen mir Politiker wie verhaltensauffällige Jugendliche vor, die geradezu darauf warten, dass man ihm Paroli bietet. Kinder brauchen Grenzen. Staatenlenker, die mit dem Spielzeug der Macht nicht umgehen können, ebenso. Und was die Machtjunkies betrifft, so ist zu sagen, dass wir ihnen keinen Gefallen tun, wenn wir ihre Sucht durch „Co-Abhängigkeit“ stützen. Wenn wir ihre destruktiven Verhaltensauffälligkeiten dulden, stabilisieren wir nur ihre Krankheit – und jene Auflösungssymptome, an denen unser Planet krankt.

Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 hat diesen Zusammenhang sehr gut dargestellt. Dort heißt es, dass „Leben, Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit“ die Endzwecke des Staates seien. Es heißt aber auch, „dass zu jeder Zeit, wenn irgend eine Regierungsform zerstörend auf diese Endzwecke einwirkt, das Volk das Recht hat, jene zu ändern oder abzuschaffen, eine neue Regierung einzusetzen, und diese auf solche Grundsätze zu gründen, und deren Gewalten in solcher Form zu ordnen, wie es ihm zu seiner Sicherheit und seinem Glück am zweckmäßigsten erscheint.“ Die amerikanischen Gründerväter schränken ein: „Klugheit zwar gebiete, schon lange bestehende Regierungen nicht um leichter und vorübergehender Ursachen willen zu ändern” Allerdings sagen sie ebenso deutlich, dass diese Geduld Grenzen haben muss: „Wenn aber eine lange Reihe von Missbräuchen und rechtswidrigen Ereignissen (…) die Absicht beweist, ein Volk dem absoluten Despotismus zu unterwerfen, so hat dieses das Recht, so ist es dessen Pflicht, eine solche Regierung umzustürzen.“

Zwischen den beiden Extremen – alles erdulden oder das ganze System umstürzen – gibt es meines Erachtens aber auch eine Menge Zwischenstufen. Es ist legitim, wenn ein Volk einzelne Maßnahmen der Regierung zurückweist, andere duldet. Dies geschieht auch immer wieder. In Bolivien z.B. ereignete sich in den Jahren 2004 und 2005 folgendes (ich zitiere, wo es sich anbietet, aus dem hervorragenden Buch von Jean Ziegler: „Das Imperium der Schande“): „Unter dem Druck der Weltbank hat die Regierung das öffentliche Wasserversorgungsnetz an Privatgesellschaften verkauft. Diese beeilten sich, eine Verdoppelung des Wasserpreises anzukündigen, was für zahlreiche Bolivianer bedeutete, dass sie für Wasser mehr ausgeben müssen als für ihre Ernährung.“ Selbst das Sammeln von Regenwasser auf eigenem Grund und Boden war für die oft armen bolivianischen Bauern bewilligungspflichtig. Alles Wasser im Land – ob Grund- oder Regenwasser – „gehörte“ dem Wasser-Multi Aguas de Illimani. Doch dann kam die Wende: „Die Bolivianer und vor allem die von Evo Morales organisierte indianische Bevölkerung haben sich das nicht gefallen lassen. Die Regierung hat das Standrecht verhängt. Aber angesichts des Widerstands des Volkes hat sie einlenken und das Gesetz über die Privatisierung widerrufen müssen.“

Solche Beispiele haben vielleicht für viele eine irritierende Wirkung. Sie zeigen, dass es eine Alternative gibt zur fraglosen Akzeptanz aller Zumutungen, die unsere Regierungen über uns verhängen. Widerstand ist möglich, und er ist in vielen Fällen sogar Erfolg versprechend. Vaclav Havel hat, als er noch Widerstandskämpfer gegen das von ihm so genannte „posttotalitäre“ System des kommunistischen Ostblocks war, deutlich gemacht, wie wichtig die Rebellion des Einzelnen ist – mag er mit seiner Tat auch anfangs noch so allein stehen: „Solange das Leben in Lüge nicht mit dem Leben in Wahrheit konfrontiert wird, gibt es keine Perspektive, die seine Verlogenheit enthüllen könnte. Sobald sich aber eine Alternative zeigt, werden sie in ihrem Wesen, in ihren Grundlagen und in ihrer Ganzheit bedroht.“ Auch das von Margret Thatcher als alternativlos beschworene neoliberale Wirtschaftssystem („There ist no alternative“) fürchtet praktikable Alternativen wie der Teufel das Weihwasser.

Um die Lüge möglichst „flächendeckend“ zu gestalten, so beschreibt es Havel in seinem Aufsatz „Versuch in der Wahrheit zu leben“ sehr schön, versucht das System große Teile des Volkes zu Mitläufern und Komplizen zu machen. Dadurch entsteht ein geistiges Feld der Scham und der (Selbst-)Unterdrückung – vergleichbar der „omertà“, dem Schweigegebot in mafiaverseuchten Landstrichen Italiens. Die Grenze zwischen Tätern und Opfern weicht auf, jeder ist beides zugleich. „Nur ein oberflächlicher Blick erlaubt (…), die Gesellschaft in Herrscher und Beherrschte aufzuteilen“, sagt Havel. In dem posttotalitären System führt diese Linie de facto durch jeden Menschen, denn jeder ist auf seine Art ihr Opfer und ihre Stütze.“ Havel bringt ein Beispiel: In der kommunistischen Tschechoslowakei war er Usus, dass jeder Geschäftsinhaber ein Schild mit der Aufschrift „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“ im Schaufenster platzierte. Jeder, der solcherart seinen Gehorsam gegenüber dem System demonstrierte, übte zugleich Druck auf alle anderen Bürger des Landes aus, sich ebenso zu unterwerfen. Wer ist da Opfer, wer ist Stütze des Systems? Jeder ist beides zugleich. Was den Kommunisten ihr „Proletarier“-Spruch und den Nazis ihr Hitler-Gruß war, das ist im marktradikalen kapitalistischen System unserer Tage vielleicht das Bekenntnis zu grenzenlosem Wachstum und zur „Alternativlosigkeit“ des Sozialabbaus.

Wer zum Teil des Systems geworden ist, gegen wen sollte er rebellieren? Etwa gegen sich selbst? Schon aus dieser Überlegung heraus neigen Machtsysteme dazu, möglichst viele Bürger zu Klein-Komplizen zu machen. Beim Militär wird Wert darauf gelegt, dass jeder Mannschaftsdienstgrad einmal in eine Situation verwickelt wird, in der er seine Leidensgenossen mit Befehlen wie „Stillgestanden“ erniedrigen muss. Durch dieses Erlebnis, selbst im kleinen Rahmen „Täter“ geworden zu sein, wird der Widerstand wirksamer gebrochen als durch noch so schlimme Erfahrungen als „Opfer“. Im kapitalistischen System werden Bürger zum Beispiel dadurch zur Mittäterschaft verleitet, indem es faktisch keine Alternative gibt, als direkt (über das Bankkonto) und indirekt (über die Pensionskasse) Zinsen zu nehmen. Je höher der Zinssatz, desto größer ist ja die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwo in der Kette jemand schamlos ausgebeutet wird. Je billiger die Preise im Markendiscounter um die Ecke, desto wahrscheinlicher, dass für Ihren billigen Einkauf die Arbeiter in den Herstellerländern bluten mussten. So gibt es in den westlichen Industrienationen eigentlich niemanden, der sich dem System der Schande vollkommen und konsequent entziehen kann. Das ist – vor allem für die sensibleren Gemüter – mit einem unterschwelligen Gefühl der Scham verbunden. Wer würde mit ganzer Kraft gegen ein System aufstehen, von dem er selbst klammheimlich profitiert? Da rechtfertigt und verharmlost man lieber fleißig.

Was tun? Man kann über vergangene Feigheit lamentieren und sagen: „Ich bin nun mal kein Held“ oder man kann es bei der nächsten Gelegenheit besser machen. Im Gegensatz zur Situation, der indischen Minderheit in Südafrika zur Zeit Gandhis, können wir uns nicht darauf berufen, nur Opfer zu sein. Dennoch müssen wir die Scham über unsere Komplizenschaft ablegen, unsere Würde wiedererlangen, unsere Verwobenheit mit dem System so weit es geht auflösen und aktiv werden. Ich denke, in gewisser Weise warten die Mächtigen schon längst auf unseren Aufstand. Sie wundern sich vielleicht insgeheim, wie viel wir uns bieten lassen. Auch sie fühlen sich sicher oft machtlos gegenüber scheinbar unabweisbaren Sachzwängen, dem Konkurrenzdruck und der Eigendynamik des monetären Systems (etwa des Zinseszinseffekts). Vielleicht warten sie auf ein starkes, ein mutiges Volk, das ihnen Impulse gibt und sie als unbequemer Stachel aus ihrer realpolitischen Lethargie aufschreckt. Vielleicht müssen wir auch unsere Politiker von ihrer Scham befreien, noch in größerem Maße als der Normalbürger Teil eines schädlichen, zerstörerischen Systems zu sein.
Und wenn Sie sich nicht als „Held“ fühlen, sollten Sie doch bedenken, dass es unterhalb der Schwelle des „Opfertods für die gerechte Sache“ noch eine Menge Zwischenstufen gibt. Zivilcourage heißt auch:

– das Netz der Manipulation gedanklich zu durchdringen und Lügen nicht zu glauben

– seine eigene Wahrheit zu finden, zu unabhängigen Informationsquellen vorzudringen

– seine Meinung in Wort und Schrift weiter zu verbreiten

– seine Meinung im privaten und beruflichen Umfeld frei vertreten und den Widerspruch einer Mehrheit aushalten

– sich aus Täterstrukturen befreien (z.B. durch bewussten Einkauf, ethisches Investment)

– seinen Protest den Mächtigen mitteilen: durch Briefe, Artikel, Demonstrationen oder – bei Gelegenheit – mündliche Mitteilung

– an positiven Gegenmodellen mitarbeiten

– alle legalen Wege des Protests und des Massenprotests, der Wahl und Abstimmung zu beschreiten

Erst wenn das geschehen ist und wenn man es nicht für ausreichend erachtet hat, kann man die letzte Stufe der Zivilcourage in Erwägung ziehen: den bewussten Ungehorsam gegen gültige Gesetze mit allen möglicherweise damit verbundenen Folgen.

„Der Mensch hat sich durch Akte des Ungehorsams weiterentwickelt“, schreibt Erich Fromm in „Über den Ungehorsam“. „Nicht nur, dass seine geistige Entwicklung nur möglich war, weil es einzelne gab, die es wagten, im Namen ihres Gewissens und Glaubens zu den jeweiligen Machthabern ‚nein’ zu sagen – auch die intellektuelle Entwicklung hatte die Fähigkeit zum Ungehorsam zur Voraussetzung, zum Ungehorsam gegenüber Autoritäten, die neue Ideen mundtot machen zu machen suchten, und gegenüber der Autorität lang etablierter Meinungen, die jede Veränderung für Unsinn erklärten.“

Wollen wir also in unserer geistigen Entwicklung wirklich länger stagnieren? Wollen wir den Ungehorsam verweigern und als die Generation in die Geschichte eingehen, die selbst schreiendes Unrecht nur mit einem zaghaften Flüstern des Protests zu beantworten wagte?

Nicht weil es aussichtslos ist, leisten wir keinen Widerstand, sondern weil wir kein Widerstand leisten, erscheint es aussichtslos.

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