Vom rebellischen Geist der Mystiker

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Merkwürdig, manchmal nervig, aber irgendwie auch innovativ: Solche Kulte (hier: Sannyasin) gibt es heute kaum mehr - außer im connection-Haus

Merkwürdig, manchmal nervig, aber irgendwie auch innovativ: Solche Kulte (hier: Sannyasin) gibt es heute kaum mehr – außer im connection-Haus

Eine Edelfeder der angesehenen New York Times beklagte in einer viel beachteten Kolumne Ende September unter der Überschrift »The Cult Deficit«, dass mit den Sekten und anderen freakigen Randgruppen auch einiges an sozialer Innovation und gesellschaftlicher Herausforderung verschwunden sei. So wie den religiösen Institutionen ihr Eigentliches, der Geist der Mystik, essentiell zuwider ist, so sind auch den säkularen Teilen jeder Gesellschaft ihre innovativen Randgruppen zuwider, ihre Freaks, Sonderlinge, Aussteiger und Erneuerer. Aber wenn sie weg sind, fehlt doch etwas. (Wolf Schneider)

Jesus, der war doch super, und Buddha auch! Was aber dann gesellschaftlich draus geworden ist, widerspricht dem Geist dieser beiden hoch verehrten Figuren so essentiell, dass man sich fragen muss, wie schizophren wir eigentlich sind, wenn wir Menschen wie Jesus und Buddha verehren, die Institutionen aber, die in ihrem Namen handeln, kritisieren. Es sind ja nicht alles Idioten oder Verräter, die da Jesus predigen oder Buddhas Lebensregeln befolgen. Doch offenbar ist da bei der Vermittlung der Botschaft irgendwas ziemlich blöd gelaufen. Manchmal scheint es geradezu so zu sein, dass diejenigen, die im Namen eines anderen handeln, mit wie viel ehrlicher Verehrung und Hingabe auch immer, sich gegen etwas noch viel Tieferes versündigen – vielleicht das: Du kannst nur du selbst werden, nicht ein anderer. Auch wenn Buddha, Jesus oder ein Dichter wie Rumi noch so großartig waren: Werden kannst du das nicht. Folgen kannst du nur dir selbst, dem Skript deines eigenen Lebens, und dann der werden, der du bist.

Der ewige Gegensatz

Das sagen auch die Mystiker aller Zeiten. Wenn Thomas von Kempen eine »Imitatione Christi« predigt, meint er vielleicht nicht, dass du ein Jesus werden sollst oder ein Thomas von Kempen, sondern darin folge Jesus: Sei so echt du selbst, wie Jesus es war! Werde nicht Buddhist, sondern ein Buddha. Was zur Folge hat, dass du dich mit den Brahmanen deiner Zeit konfrontierst, und die dich wahrscheinlich nicht akzeptieren werden.

Der Mystiker steht immer in einem gewissen Gegensatz zu den religiösen Institutionen der Gesellschaft. Die Traditionen des Zen und der Sufis haben diesen Gegensatz zu integrieren versucht. Die Rebellionen gegen Institutionen zu institutionalisieren, das gelingt aber immer nur teilweise. Irgendwann muss auch der Schüler eines Erwachten, eines wirklich freien Menschen, zu sich kommen und sich vom Lehrer befreien und von allen erlernten Regeln. Mystik lässt sich nicht institutionalisieren. Aber immerhin darauf können wir achten: dass wir diejenigen unter den Institutionen, die Religiosität – also im Kern die Mystik – zu tradieren versuchen, nicht gegeneinander ausspielen.

Klein und groß

Religionswissenschaftler sind sich einig, dass Kirchen und Sekten sich nur hinsichtlich der Größe unterscheiden und im Hinblick auf das, was ein Verbleiben an der Macht bzw. ein Verbleiben am Rand der Gesellschaft in der betreffenden religiösen Organisation hinterlässt. Sonst keine Unterschiede. Beides sind soziale und politische Organisationen, die aus religiösen Erlebnissen einzelner oder den Erzählungen hierüber entstanden sind. Das Christentum ist hierfür nur ein Beispiel unter vielen: Es entstand aus einer Sekte, die sich aus Berichten über die religiösen Erlebnisse und Ereignisse um eine Gestalt in Palästina gebildet hatte, im damaligen Römischen Reich. Die Christen wurden dann in recht kurzer Zeit von einer verfolgten Sekte über eine akzeptierte Sekte zur erst nur willkommenen, dann staatstragenden Kirche, die bald andere religiöse Bewegungen als Sekten ausgrenzte und schließlich ebenso brutal verfolgte, wie die Christen einst verfolgt worden waren.

Die Sezession

Ist eine Sekte vielleicht eine Art von Abspaltung, eine Sezession aus einer Religion oder Kirche? Dann wäre das Christentum eine jüdische Sekte, der Protestantismus eine christliche Sekte und der Buddhismus eine brahmanische Sekte. Passt irgendwie nicht in unsere Begriffswelt. Also zurück zu dem, was die Religionswissenschaftler sagen: Es gibt große Sekten, die werden Kirchen genannt und sind gesellschaftlich akzeptiert; und es gibt kleine Kirchen, die werden Sekten genannt und sind gesellschaftlich nicht akzeptiert. Wenn eine Sekte so groß und wichtig geworden ist, dass sie »too big to fail« ist, zu groß, um scheitern zu dürfen, so wie die nach 2008 von den Staaten geretteten Banken, dann wird sie vom Staat gestützt. Sie darf nun nicht mehr scheitern, weil der Staat fürchtet, bei einem solchen Scheitern mit in den Strudel der Katastrophe gerissen zu werden.

Mystik ist die Wurzel

Und was für eine Rolle spielt da die Mystik? Die gilt ja gemeinhin als die Wurzel aller Religionen und jeglicher Religiosität. Mystik ist das Erlebnis der Transzendenz, der Ergriffenheit vom Göttlichen, das einem einzelnen oder einer ganzen Gruppe widerfährt. Es ist die direkte Verbindung mit dem Numinosen, mit Gott, mit dem transpersonalen Ganzen, aus dem wir entstehen und in das hinein wir wieder vergehen. Darf aus solch einem Erlebnis der Transzendenz eine soziale Struktur entstehen, die karitativ oder lehrend tätig ist? Es könnte ja sein, dass der von solchen mystischen Erlebnissen ergriffene Mensch – oder eine ganze Gruppe – daraufhin den Impuls verspürt, die ganze Welt zu umarmen, und dass er oder sie das ganze folgende Leben darauf ausrichten will, wie ein Bodhisattva zu leben und nur noch für andere da zu sein. Nein, das darf nicht sein. Denn wenn er aus solchen Transzendenz-Erlebnissen eigene soziale Strukturen entstehen, bedrohen diese die bestehenden sozialen Strukturen, und ihre Urheber werden als Sektengründer gebrandmarkt.

Die Angst der Kirchen

Wer in den vergangenen Jahrzehnten einen eigenen, nicht kirchlich sanktionierten spirituellen Weg verfolgte, weiß, was es heißt, so gebrandmarkt zu werden. Denn da war die Angst der christlichen Kirchen, es könne eine kleine Sekte aufkommen und groß werden, so wie damals die frühen Christen. Und diese religiös bewegte Gruppe könne die Bastion der bisherigen religiösen Strukturen im Sturm nehmen und auf den Müllhaufen der Geschichte werfen. Die Angst davor war so groß, dass die Kirchen jede soziale Strukturbildung religiös bewegter Menschen jahrzehntelang als »Sekte« verunglimpften und wo immer möglich zu behindern suchten.

Trotz der in unseren westlichen Verfassungen garantierten Religionsfreiheit waren diese Diffamierungen so erfolgreich, dass sie in vielen Fällen zur de facto sozialen Vernichtung der betroffenen Randgruppen führten, in Einzelfällen bis zu deren physischer Vernichtung, wie etwa bei der Aktion des FBI gegen die Branch Davidians in Waco, Texas, im April 1993.

Ende September griff nun eine der Edelfedern der New York Times dieses durch Verdächtigungen und Diffamierungen entstandene weite Feld verbrannter Erde auf und beklagte es als »cult deficit« – als Defizit an Kult und Kulten (übersetzt »Sekten«). Zu meditieren ist gut, aber wehe, du gründest einen Ashram, weihst Schüler ein oder baust aufgrund deiner religiösen Erlebnisse eine soziale Struktur auf! Tut heute ja kaum einer mehr. Irgendwie doch schade, oder? Fand jedenfalls der Kolumnist Ross Douthat von der New York Times in seinem Artikel vom 27. September, und erzeugte damit in den folgenden kaum drei Tagen fast dreihundert leidenschaftliche Kommentare (http://www.nytimes.com/2014/09/28/opinion/sunday/ross-douthat-the-cult-deficit.html?_r=0).

Trendwende?

Auch wenn die New York Times eine sehr angesehene Zeitung ist, muss der Artikel von Ross Douthat noch nicht der frühe Vogel sein, der die Trendwende ankündigt. Das Ancien Régime ist stark, die Trägheit der Massen ist kaum zu überschätzen, und die Kirchen tun nach wie vor das ihrige, um ihre Interessen zu schützen und Konkurrenten möglichst gar nicht erst aufkommen zu lassen. Aber auch in den Kirchen gibt es Menschen, für die Jesus nicht ein Kirchengründer und Sohn Gottes ist, sondern ein Mensch, der von seinen Erfahrungen der Einheit und Verbundenheit mit dem Ganzen so überwältigt war, dass er den Mund nicht halten konnte, darüber sprach und sich eine Gefolgschaft um ihn bildete. Als von der jüdischen Kultur seiner Herkunft Geprägter drückte er diese Erfahrung als Verbundenheit mit »dem Vater im Himmel« aus, von dem er sich unterstützt und getragen fühlte. Im Thomas-Evangelium findet man diesen mystischen Jesus noch viel stärker als in den von den Kirchen sanktionierten Evangelien.

Auch wenn Ross Douthat in seinem Artikel in der New York Times schrieb, dass einige seltsame Experimente mittlerweile respektiert sind (»some strange experiments have aged into respectability«), erwarte ich nicht, dass die Besten unter den einst Ausgegrenzten, Exkommunizierten, nun rehabilitiert oder gar geheiligt werden. Viel eher glaube ich, dass sich die Religiosität und Bereitschaft, das Phänomen des Religiösen zu betrachten, in den nächsten Jahrzehnten noch mal stark ändern werden.

Die Bedeutung der Freaks

Ob jemand als Kirchenmitglied oder Sektenangehöriger bezeichnet wird, spielt für die soziale Reputation eine große Rolle, obwohl doch damit eigentlich nur gemeint ist, dass die religiöse Organisation, der du dich angeschlossen hast oder in die du hineingeboren wurdest, in deiner Gesellschaft an der Macht ist oder nicht. Namen und Begriffe prägen eben unsere Wertvorstellung, das gilt im Religiösen ebenso wie im Politischen. Wenn ein Folterknecht »Sicherheitskraft« genannt wird und der von ihm qualvoll befragte Rebell »Terrorist«, weil das politisch gerade herrschende System die Folter als Mittel gegen die Rebellion gutheißt, macht das die Sache für den Gefolterten ja nicht weniger schlimm.

Von Gandhi ist der Satz überliefert: »Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich, und dann gewinnst du.« In einigen Fällen ist das so, in anderen nicht. Gott sei Dank gewinnen nicht alle, die von der Gesellschaft ignoriert oder belächelt werden, denn es gibt oft genug auch wirklich Durchgeknallte unter ihnen. Aber es braucht den Hefeteig der sozialen Innovation, die bei den Verrückten am Rande der Gesellschaft geschieht, bei den Außenseitern, die zur Avantgarde werden können, zu Pionieren, zu Prototypen für notwendige Innovationen. Einiges davon wird man für die Gesellschaft von morgen brauchen können, das meiste wird man verwerfen wollen und tut gut daran. Was hier die Spreu, und was hier der Weizen (sorry: der Dinkel) ist, weiß man in der Experimentierphase natürlich noch nicht. Das gilt für die religiösen Randgruppen, insbesondere aber auch für die ökologisch orientierten Gemeinschaften, die eine nachhaltige, ressourcenschonende Lebensweise ausprobieren und die für diesen Verzicht auf den Konsumwahnsinn unserer Zeit eine andere ideelle Grundlage brauchen, als der Mainstream unserer Kultur sie heute bietet.

Wenn Innovation Kult ist

Die Mystiker von heute werden nur zum geringsten Teil, so wie die Kirchen es mit Jesus gemacht haben (ohne ihn zu fragen), von Verspotteten zu Heiligen. Eher schon kann es sein, dass sie eines Tages als Pioniere gewürdigt werden, die dabei halfen zu erkennen, wie sehr klerikale Organisationen das Eigentliche des Religiösen – die Meditation und Mystik – behindern können und dies meist auch tatsächlich behindern, womit sie zu Gegnern dessen werden, was sie zu vertreten und zu schützen beanspruchen.

Wenn Ross Douthat feststellt, dass »jedes wirklich innovative Projekt einige kultische Elemente und Impulse enthält«, und dann räsoniert, dass »das Verschwinden dieser Impulse ein Zeichen dafür sein mag, dass der innovative Spirit selbst im Niedergang ist«, könnte er sich auf die »goldenen 70er Jahre« bezogen haben, die doch in verschiedener Hinsicht noch bewegter waren als die »Goldenen 20er« der Weimarer Republik. Musikalisch, künstlerisch und was alternative Lebensprojekte anbelangt, waren die 70er Jahre jedenfalls innovativer, fröhlicher und optimistischer als die Jahrzehnte davor und danach.

Das Projekt des Homo sapiens

Wir müssen es ja nicht genauso machen wie die Beatles in Indien oder die Sannyasins in »Sommer in Orange«. Aber ein bisschen mehr Innovation sollten wir doch wagen, darin stimme ich Ross Douthat zu. Ein Bremsen des Natur und Mensch zerstörenden Wachstumswahnsinns unserer heutigen Weltwirtschaft erfordert Mut zu tatsächlich gelebten Utopien – spirituellen, ökologischen, politischen. Das Risiko, dabei in jedem Einzelfall scheitern zu können, sollten wir eingehen, meine ich. Denn wenn wir es nicht eingehen, wird das ganze Projekt des Homo sapiens scheitern, auf das »wir« spätestens seit der Kambrischen Explosion vor 541 Millionen Jahren hinzusteuern scheinen – so viel ist sicher.

Entnommen aus der Zeitschrift Connection Spirit 1-2/2015 (www.connection.de)

Wolf Schneider, Jg. 1952. Autor, Redakteur, Kursleiter. Studium der Naturwiss. und Philosophie (1971-75) in München. 1975-77 in Asien. Seit 1985 Hrsg. der Zeitschrift connection. Seit 2007 Theaterspiel & Kabarett. Kontakt: schneider@connection.de, www.connection.de

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