«Weniger Demokratie wagen!»

 In FEATURED, Politik (Inland), Roland Rottenfußer

Filmszene aus “Die Welle”

Ist ein Faschismus in Deutschland wieder möglich? Mit Sicherheit. Ich wünschte, ich könnte das mit derselben Gewissheit auch in Bezug auf die Demokratie sagen. Ist die repräsentative Demokratie doch gerade dabei, sich Schritt für Schritt zur „repressiven Demokratie“ zu wandeln. Selbst die als gemäßigt geltende Kanzlerin zündelt offen mit “Null-Toleranz”-Sprüchen. Retten wir die Demokratie! Oder vielmehr: Lassen wir erstmals etwas ins Leben treten, das die Bezeichnung „Demokratie“ wirklich verdient! (Roland Rottenfußer)

Manche erinnern sich vielleicht noch an den Film „Die Welle“ mit Jürgen Vogel aus dem Jahr 2008. Zu Recht, denn der Film stellte eine sehr berechtigte Frage und gab darauf ein paar plausible Antworten. „Die Welle“ war überwiegend ein Film über die Organisationsformen und die psychologischen Mechanismen, durch die eine faschistische Bewegung stärker werden kann. Ausgezeichnet ist vor allem der Konformitätsdruck dargestellt, außerdem die äußeren Formen totalitärer Bewegungen: Symbol, Gruß, Uniform, Feier, Disziplin, die Rekrutierung eines treuen Soldatentypus aus dem Pool der Unzufriedenen, vom alten System ausgegrenzten.

Der Film spart die Auseinandersetzung mit den Inhalten faschistischer Ideologien (z.B. Rassismus) sinnvollerweise aus und scheint damit sagen zu wollen, dass die Ideologie auswechselbar ist. Leider weicht das Drehbuch am Schluss von diesem Grundsatz ab, und „Führer“ Jürgen Vogel lässt sich in seiner großen Rede zu Sätzen wie „Die Armen werden immer Ärmer, die Reichen immer reicher“ hinreißen. Hier keimt der Verdacht, dass in einer von Gleichschaltung bedrohten Medienlandschaft bewusst ein Seitenhieb gegen den so genannten „linken Zeitgeist“ (den es ja so nicht gibt, lediglich eine Renaissance gemäßigter sozialdemokratischer Positionen) ins Drehbuch eingebaut wurde.

„Seid vorsichtig“, scheint der Film sagen zu wollen. „Glaubt nicht den linken Populisten, die Euch einfache Lösungen anbieten wollen. Die Freiheit, die Vielfalt (auch in der Wahl der Markenkleidung), die Vernunft ist auf der Seite der etablierten Institutionen.“ Diese Schlusswendung in „Die Welle“ ist perfide. Kaum hat die Erkenntnis „Die Armen werden immer ärmer…“ (was ja nicht nur ein Slogan ist, sondern durch Zahlen zu belegen) einigermaßen im öffentlichen Bewusstsein Fuß gefasst, wird sie diskreditiert. Was auch sollte gegen diesen Satz einzuwenden sein? Da man ihn nicht mit sachlichen oder ethischen Argumenten widerlegen kann, rückt man ihn spielerisch-assoziativ in die Nähe des Faschismus.

Natürlich war der Film seinerzeit trotz allem überwiegend zu begrüßen, trotzdem könnte darin ein weiterer Beleg für die Medienmacht des anti-linken Mainstream liegen. Während vor der einen Spielart des Faschismus gewarnt wird (ein Faschismus der wütenden Systemverlierer), wird die „alte Ordnung“ stabilisiert (die paradoxerweise in ihrer Erscheinungsform pluralistisch und in ihrem Kern geistige Monokultur ist). Ich unterstelle den Machern des Films nichts Bestimmtes (kann ich doch nicht in ihre Gehirnwindungen eindringen), mache nur auf die Gefahr eines Missverständnisses aufmerksam, das sich aus der Filmrezeption ergeben könnte. „Ich bin nicht Teil einer gleichgeschalteten Horde mit einheitlichen Grußformen und Symbolen, bete keinen Führer an und habe nichts gegen Leute, die anders sind. Also bin ich nicht verführbar durch faschistische und autoritäre Strömungen“.

Diese Schlussfolgerung wäre fatal, ebenso wie die Feststellung „Ich bin kein Antisemit/Rassist, ich habe nichts gegen die Ausländer in meiner Nachbarschaft, also bin ich in Ordnung.“ All diese Eigenschaften sind wichtig, aber nicht ausreichend in einer Zeit, in der wir von einer ganz anderen Art von Autoritarismus bedroht sind, von einem (Prä-)Faschismus der Systemgewinner, der ganz ohne Hitlergruß, Springerstiefel und Rassismus auskommt, ja sogar ohne charismatische(n) Führer(in) und mit relativ weniger direkter Gewalt.

Betrachten wir zunächst die Unterscheidung zwischen einem Faschismus der Systemverlierer (Typ A) und einem Faschismus der Systemgewinner (Typ B). Dies ist natürlich eine Verallgemeinerung (wie schon der Begriff „Faschismus“ überhaupt, der, von der Mussolini-Bewegung herkommend, zunehmend auf andere Erscheinungsformen autoritärer Herrschaft angewandt wird). Dennoch halte ich sie für nützlich, um einige Punkte klar zu machen, bevor wir dann zu feineren Unterscheidungen übergehen. Ich halte die Abwehr eines drohenden Übergangs zu einem Faschismus des Typs B für die zentrale Aufgabe, die sich unserer Generation stellt und die von großen Teilen der Bevölkerung leider nicht als solche erkannt worden ist. Die Unterscheidung zwischen Typ A und Typ B bewahrt uns davor, anzunehmen, dass alles in bester Ordnung sei, nur weil die Wahlergebnisse der NPD seit Jahrzehnten bescheiden sind und die AfD trotz ihrer Wahlerfolge noch nicht die Kraft besitzt, den “etablierten” Block aus Union, SPD, FDP und Grünen aufzusprengen. Lösen wir die Aufgabe, “Typ B” einzudämmen, nicht, so droht (wie Rudi Dutschke bezogen auf die späten 60er-Jahre sagte) „eine neue Welle autoritärer Herrschaft – vielleicht ohne Antisemitismus“.

Ein Faschismus der Systemverlierer beginnt als Sammelbecken für die Unzufriedenen, die Ausgegrenzten und materiell schlecht gestellten. Die „Bewegung“ gibt ihnen ein Gefühl von Zugehörigkeit, Achtung, ja sie vermittelt ein Überlegenheitsgefühl gegenüber Nicht-Mitgliedern, den dem labilen Ego dieser „Verlierer“ schmeichelt. Dieser Typ-A-Faschismus hat häufig rassistische, ausländerfeindliche Tendenzen, denn „Rassismus ist der Hass der Verlierer aufeinander“ (Barack Obama). Der Faschismus der Gewinner kommt ohne Rassismus und Ausgrenzung aufgrund äußerer Merkmale aus, denn jede Frau und jeder Mann, jeder Schwarze und jeder Weiße, jeder Homo- oder Heterosexuelle, jeder Rollstuhlfahrer und jeder körperlich Gesunde ist willkommen, solange er dem System dient. Wir haben das bei Obama, Merkel, Schäuble, Özdemir und Westerwelle gesehen. Die Systemgewinner müssen ihre Kräfte nicht im Verteilungskampf um die letzten miesen Jobs, die letzten hundert Euro oder die letzte erschwingliche Wohnung verschleißen. Sie spielen in einer ganz anderen Liga, und ihr Ziel ist der „Klassenerhalt“, die Sicherung der Beute, die Bewahrung der erreichten Status gegenüber dem Neid der Zu kurz Gekommenen.

Systemgewinner benötigen nicht unbedingt einen bestimmten Gruß, eine bestimmte Uniform, um einander zu erkennen. Sie benötigen keine charismatische Führungspersönlichkeit, die Darsteller sind austauschbar wie jene 6 Männer, die bisher in die James-Bond-Rolle geschlüpft sind (manchmal haben sie Charisma, manchmal nicht, eben wie bei James Bond). Die Einzelpersonen können sterben, das System jedoch soll ewig leben. Typ A-Faschisten sind Outlaws, sie kämpfen um Beachtung ihrer vom Mainstream vergessenen Anliegen und gegen die Verachtung durch die Etablierten an. Typ-A-Faschisten greifen an, empören sich, rebellieren; Typ-B-Faschisten verteidigen sich, beschönigen, unterdrücken Aufruhr. Typ-B-Faschisten brechen keine Gesetze, weil sie diejenigen sind, die die Gesetze (zu ihrem eigenen Nutzen) machen. Typ-A-Faschisten kämpfen um Teilhabe, darum, überhaupt ein Stück vom Kuchen zu bekommen; Typ-B-Faschisten wollen den Kuchen ganz für sich und lassen den Überflüssigen gerade so viele Krümel wie nötig, um sie vom Rebellieren abzuhalten. Typ-A-Faschisten sind dauernd in Konflikt mit der Polizei; Typ-B-Faschisten dirigieren die Polizei.

Typ-A-Faschisten lieben die große Geste, den dramatischen Auftritt, die Explosion, den Umsturz; Typ-B-Faschisten verhalten sich gesittet und arbeiten lieber im Verborgenen. Sie bevorzugen das allmähliche Vorgehen, die Scheibchentaktik, das allmähliche Zuziehen der Schlinge, in der unser Hals steckt. Sie erhöhen die Wassertemperatur graduell, damit der Frosch, der zum Kochen bestimmt ist, nicht vorschnell aus dem Topf springt. Ich werde mit Sicherheit nicht lieber von der AfD als von der CDU regiert, aber ich behaupte, dass die Errichtung eines Klasse B-Faschismus heute wesentlich wahrscheinlicher ist als die Etablierung eines Klasse-A-Faschismus, und dass wir deshalb der schleichenden Etablierung eines autoritären Staates von oben vielleicht sogar mehr Aufmerksamkeit schenken sollten als jenen gewalttätigen und dummen Außenseitern, die heute noch den Nationalsozialismus beschönigen.

Ich denke, es ist anhand dieser (fragmentarischen) Auflistung klar geworden, was ich meine. Natürlich können sich Typ A und Typ B vermischen, sie können ineinander übergehen, dann nämlich, wenn eine aus Systemverlierern rekrutierte Gruppierung sich mit Kapitalisten verbündet, selbst die Macht ergreift, selbst „Establishment“ wird. Aus Verlierern werden Gewinner, aus Ausgebeuteten werden Ausbeuter. Sozusagen der Austausch des Personals ohne Veränderung im Grundprinzip. „Menschen“ werden durch „Schweine“ ersetzt (wie George Orwell in „Animal Farm“ ironisch darstellt), und ab einem bestimmten Entwicklungsstadium ist es unmöglich, die einen von den anderen zu unterscheiden. Meine These ist: Autoritarismus (Phase 1), Präfaschismus (Phase 2) und Faschismus (Phase 3) gehen ineinander über, bei uns ist die Entwicklung von Phase 1 schon im vollen Gange. (Wir stehen am Rand des Abgrunds, die USA sind schon einen Schritt weiter, könnte man zynisch sagen). Die Haupt-Trägergruppe des neuen Autoritarismus sind CDU und CSU. Ich unterstelle niemanden in den etablierten Parteien, Phase 2 und 3 bewusst und zielgerichtet anzustreben. Ich sage aber dazu, dass ich nicht gewillt bin, auszuprobieren, was passiert, wenn Phase 1 voll etabliert ist. Wir sind keine Versuchskaninchen, über die eine kleine Clique von Versuchsleitern frei zu verfügen hat.

Daher warne ich davor, auf der SPD überproportional herumzuhacken. Es ist wichtig, ihren Verrat an wirklichen sozialdemokratischen Idealen zu dokumentieren. Man darf aber nicht vergessen: Die SPD hat Ideale verraten, die die CDU gar nicht erst hatte, die sie aber hätte haben müssen, wären die Schlagwörter „christlich“, „demokratisch“ und „sozial“ für sie mehr als bloße Worthülsen. Die SPD verkörpert abgemilderte Formen einer Ideologie, die die CDU in Reinform vertritt: Marktradikalismus, Autoritarismus, Überwachungsstaat, Bellizismus. Es ist eine Schande, dass CDU und CSU seit vielen Jahren die mit Abstand stärkste Partei sind. Das mag in Zeiten der Wiedervereinigungseuphorie, angeheizt durch Papa Kohl, den Scheinriesen der deutschen Nachkriegsgeschichte, noch angehen. In Zeiten von Kriegspolitik, Entdemokratisierung, Behördenschikanen, Umverteilung von unten nach oben und unerträglichem „Zero-Tolerance“-Gerede (für die die CDU mehr als jede andere Partei steht) ist es jedoch schändlich. Vergessen wir nicht, vor lauter Kritik an den Kopien, das Original zu bekämpfen.

Im Büro der Münchner Bewegung „Mehr Demokratie in Bayern“ hängt ein Plakat mit der Aufschrift: „Seit 50 Jahren verhindert die CDU/CSU Volksabstimmungen auf Bundesebene.“ Tatsächlich war (was wenig bekannt) ist der Bundestag schon 2002 kurz davor, Volksabstimmungen auf Bundesebene einzuführen. Dazu wäre aber eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit nötig gewesen. Statt der erforderlichen 66,7 Prozent votierten aber nur 60 Prozent für mehr direkte Demokratie – alle außer der CSU.

Ein Video, das unter U-Tube www.youtube.com/watch?v=zicgrpSYSYQ zu besichtigen ist, zeigt eine von giftiger Aggressivität erfüllte Merkel, die einen sehr weit gehenden Überwachungsstaat fordert. Ohne die CDU/CSU, so Merkel, hätten wir noch heute keine Videokameras in U-Bahnen und auf öffentlichen Plätzen. Über solche Entscheidungen, sagt sie ganz anti-demokratisch, dürfe nicht diskutiert werden, es müsste einfach getan werden. Manche Politiker, sagt sie, hielten es für „nicht so schlimm“, wenn jemand Graffiti sprüht, andere anrempelt oder in der dritten Reihe parkt. Mit großem „Ich aber sage euch“-Pathos verkündet die Kanzlerin: „Keine Toleranz“ selbst gegenüber kleinen Vergehen. (Übrigens ist das ganz „amerikanische Linie“. „Zero Tolerance“ wurde in New York vom damaligen Bürgermeister Giuliani ausgerufen)

Wie viele gelesen haben, wiederholte Merkel diese Aussage beim gestrigen CDU-Parteitag: “Null Toleranz ist unser Motto.“ Und sie fügte hinzu: “Sicherheit ist nicht verhandelbar”. Was meint sie damit? Ist Sicherheit, das “Super-Grundrecht”, heute so unauflöslich mit deutscher Staatsräson verknüpft, dass sie es nicht einmal nötig hat, in Verhandlungen mit anderen wichtigen Werten unseres Gemeinwesens zu treten – mit Würde und Freiheit zum Beispiel? Will Merkel damit sagen, dass das klassische Spannungsfeld zwischen Belangen der Sicherheit und der Freiheit gänzlich aufgelöst werden soll durch eine totale Dominanz der Sicherheit? Zwei sehr gefährliche Äußerung der gern als “blass” und “gemäßigt” verharmlosten deutschen Dauerkanzlerin.

Obwohl es für viele Leserinnen und Leser sicher unmittelbar einleuchten wird, warum die Äußerungen Merkels bedenklich sind, will ich doch noch einmal erklären, was mich daran im Besonderen stört:

  1. Der angemaßte Habitus des strengen Vaters bzw. der Mutter die ihre ungezogenen Kinder zur Ordnung rufen muss.
  2. Die indirekte pauschale Volksbeschimpfung, so als wären wir ein ungezogener Sauhaufen und sie, die Kanzlerin, zum Ausmisten des Stalls bestimmt. Die giftige Aversion einer machtgewohnten „Elite“-Angehörigen gegen die autonome, manchmal Formen sprengende Kraft des Lebens. „Wehe, es handelt einer, wie er es selber will, und nicht wie ich es ihm befohlen habe!“
  3. Die Beschimpfung und Diskriminierung einer Minderheit als Mittel zum Machterhalt (wobei die Mehrheit der „Anständigen“ gegen die Abweichler aufgewiegelt werden sollen). Neben den Alltagssündern, z.B. im Straßenverkehr, sind es häufig die „Sozialschmarotzer“, die als Schattenträger herhalten müssen. Im aufgeheizten-Klima des Nach-2015-Deutschland sind es vor allem kriminelle und “nicht integrationswillige” Ausländer, denen die Erziehungsmaßnahmen der Mutter der Kompanie zu gelten hat.
  4. Die maßlose Übertreibung, die Kleinlichkeit und Spießigkeit, die daraus spricht, „keine Toleranz“ ausgerechnet gegen Falschparker zu verkünden. Die damit verbundene selbstverständliche Annahme, selbst zu den Anständigen zu gehören, denen keine Fehler passieren können (um es in einem christlichen Bild zu sagen: Merkel sieht nur den Splitter in den Augen des anderen).
  5. Die implizite Annahme, dass es eine zentrale Aufgabe der Bürger sei, „ihre“ Regierung durch Wohlverhalten gnädig zu stimmen (anstatt dass umgekehrt die Politiker zusehen müssen, wie sie Übereinstimmung mit den Bürgern herstellen).
  6. Schließlich die demokratischen Grundwerten völlig entgegen gesetzte direkte Angriff auf die Toleranz – ursprünglich ja ein positives Leitbild, das für Großzügigkeit, Pluralismus und Freiheit steht. Intoleranz ist das Erkennungsmerkmal eines schwachen Staats (wie schon Nietzsche wusste: „“). Und ein schwacher Staat ist gefährlich, weil er um sich schlagen könnte, Sündenböcke suchen und Ablenkungsmanöver inszenieren, auf einem Kriegsschauplatz verlorene innere Stabilität durch äußere Kraftentfaltung kompensieren.

Ich sage hier warnend: Was nicht unmittelbar Faschismus ist, könnte dennoch (gewollt oder ungewollt) zu ihm hinführen. Wenn die Führer eines Landes offen die Toleranz bekämpfen, wenn hinzukommt, dass Volk, Medien und „intellektuelle Elite“ dies unwidersprochen hinnehmen, dann, so fürchte ich, bereiten sie damit verschärften Formen der autoritären Herrschaft den Boden. Sie könnten dann ebenso sagen: „Null Güte“, „Null Großzügigkeit“ oder gleich: „Null Freiheit“, und es wäre zu befürchten, dass die Öffentlichkeit diese Beschimpfung ihrer wichtigsten Grundwerte klaglos hinnimmt.

In den USA (oder im Auftrag der US-Regierung) wurden bald nach der Zero-Tolerance-Kampagne (begonnen im Jahr 1993 in New York) Kriege vom Zaun gebrochen, Menschen ohne Gerichtsverhandlung eingesperrt und gefoltert, polizeistaatliche Strukturen gestärkt und dem Präsidenten umfangreiche Notstandsrechte zugestanden. Bei aller Kritik an Merkels Reden muss man natürlich zugestehen, dass zwischen den USA und Deutschland noch ein Unterschied besteht. Wurden ihr „Null-Toleranz“-Aufrufe aber nicht flankiert durch eine ganze Reihe von überwachungsstaatlichen Maßnahmen, für die heute vor allem die Name Wolfgang Schäuble und Thomas de Maizière stehen? Die CDU/CSU hat sich jedenfalls – in Umkehrung der wahren Bedeutung der Worte „christlich“, „demokratisch“ und „sozial“ – als die Partei der organisierten Gnadenlosigkeit, des Demokratie- und Sozialabbaus etabliert.

Wenn wir einmal die Metapher vom „Vater Staat“ weiterspinnen – was für eine Art von Vater zeigt sich uns da? Stellen wir uns einen Vater vor, der seinen Kindern mit grundsätzlichem Misstrauen begegnet, der auf jeder kleiner Verfehlung unnachsichtig herumhackt und sie streng ahndet, der das (die überwiegende Zeit vorherrschende) Wohlverhalten als selbstverständlich hinnimmt und Belohnung und Würdigung überhaupt nicht in seinem Verhaltensrepertoire hat. Wie würden wir einen solchen Vater bezeichnen? Man müsste sich da schon einen bösen, kranken alten Mann vorstellt, einen freudlosen und kleinlichen Haustyrannen, der sein Kinder argwöhnisch belauert, um aus der Ahndung ihrer Fehler eine Art giftiger Befriedigung zu ziehen.

Ich möchte an dieser Stelle auf eine Buchveröffentlichung aufmerksam machen, die für mich – neben dem Film „Die Welle“ – die stärkste Aussagekraft besitzt, und zwar bezüglich der Frage, ob Faschismus heute in den westlichen kapitalistischen Demokratien wieder möglich wäre: Naomi Wolfs Buch „The End of Amerika“, das ich vorab im Original gelesen habe, wird im September unter dem Titel „Wie zerstört man eine Demokratie?“ erscheinen.

Wie also zerstört man nun eine Demokratie? Naomi Wolfs Ansatz ist folgender: Amerikaner und Europäer, schreibt sie, neigen dazu, die freiheitliche Demokratie, in der sie leben, als unsterblich zu betrachten. Eine pure Selbstverständlichkeit, für deren Bewahrung man sich nicht einsetzen muss. Die Geschichte, sagt die Autorin, spricht allerdings eine andere Sprache. Nicht die Demokratie, sondern die Tyrannei ist unsterblich und findet nach Zeiten des Rückzugs immer wieder Wege zurück auf die Bühne der Geschichte. Wir fragil die historisch noch jungen Errungenschaften von Demokratie und Menschenrechten sind, zeigen Einschränkungen von Bürgerrechten im Zweiten Weltkrieg und die Hexenjagden der McCarthy-Ära.

Mit all diesen Rückschlägen ist das demokratische System der USA bisher fertig geworden. Was aber, wenn wir es nicht mehr mit einem erkrankten (also heilbaren) System zu tun haben, sondern wenn das System selbst zu einer Krankheit wird? „The End of America“ spricht eine deutliche Warnung aus: Wenn die Bürger nicht jetzt sofort entschlossen gegensteuern, wird sich in den USA ein „Übergang zum Faschismus“ vollziehen, der bereits begonnen hat. „Eine ruhig gestellte, angsterfüllte amerikanische Bürgerschaft könnte das Ende jenes Amerika bedeuten, das die Gründerväter intendiert hatten“, schreibt Wolf. „Wir haben nur noch wenig Zeit, um zu verhindern, dass dies geschieht.“ Übrigens schrieb sie das einige Jahre vor Beginn der Ära Trump.

Um ihre Faschismustheorie zu untermauern, zieht die Autorin historische Vergleiche aus verschiedenen Epochen und Weltgegenden heran: Wie haben Hitler, Mussolini und Pinochet ihre Schreckensherrschaft etabliert? Meist geschah dies nicht mit einem „großen Knall“, sondern auf geordnete Weise, gemäß den Regeln von Demokratien, die dem gefährlichen Flirt mit der Selbstzerstörung nicht widerstehen konnte. Faschismus, sagt Naomi Wolf, hat nicht immer ein spektakuläres, offen grausames Gesicht. Er offenbart sich in seiner Anfangsphase selten durch Massenerschießungen oder die rauchenden Schlote von Vernichtungslagern. Manchmal ist er zunächst nur daran zu erkennen, dass wir beginnen, unsere Worte abzuwägen.

Naomi Wolf zeigt Entwicklungen auf, die in ihrer Dramatik den wenigsten bewusst sind. Der amerikanische Präsident kann heute veranlassen, dass Menschen, die als feindliche Kombattanten eingestuft werden, ohne Urteil, ohne Anwalt und demokratische Kontrolle für Monate in geheimen Gefängnissen verschwinden. „Zero Tolerance“ ist zum Wahlspruch einer neuen Epoche autoritärer staatlicher Unduldsamkeit geworden. Angriffskriege und der unverhüllte Griff nach der Weltherrschaft („Global Leadership“) sind zu legalen Mitteln der Politik geworden. Folter gilt in diesem neuen Amerika längst als „Kavaliersdelikt“. Welches Bürgerrecht, welche Errungenschaft der Zivilisation wird als nächstes fallen?

„The End of America“ ist unbequemes, ein schockierendes, ein aufrüttelndes Buch, das in den USA nicht umsonst für Furore gesorgt hat. Dieses Buch kann auch als von grimmigem Humor getränkter Kurzlehrgang für Diktatoren gelesen werden: Wie installiere ich in einer funktionierenden freiheitlichen Demokratie ohne gewaltsamen Umsturz eine autoritäre Gewaltherrschaft? Die Rezepte dafür sind historisch vielfach erprobt, und es sind immer die gleichen:

  1. Beschwöre eine äußere und innere Bedrohung herauf
  2. Richte Geheimgefängnisse ein
  3. Gründe paramilitärische Einheiten
  4. Überwache den Normalbürger
  5. Unterwandere Bürgerbewegungen
  6. Inhaftiere und entlasse Bürger willkürlich
  7. Nimm herausragende Persönlichkeiten ins Visier
  8. Lege der Presse Beschränkungen auf
  9. Brandmarke Kritik als „Spionage“ und abweichende Meinungen als „Verrat“
  10. Untergrabe die Herrschaft des Gesetzes

Diese 10 Sargnägel der Demokratie zeichnen ein erschreckendes Porträt der präfaschistischen Phase, in die die USA heute eingetreten sind. Sie geben aber auch Anhaltspunkte dafür, wie wir neuere politische Entwicklungen in Deutschland richtig einschätzen können. In Zeiten von Datenspeicherung, Neo-Autoritarismus und Sicherheitshysterie läuft es einem bei der Lektüre manchmal kalt den Rücken runter. „Wer die Freiheit für die Sicherheit opfert, wird beides verlieren“, sagte Benjamin Franklin.

Eine aktive Rezeption von Naomi Wolfs Thesen legt nahe, sich zu überlegen, welche der 10 Schritte in einen faschistischen Staat heute in Deutschland schon im Gange sind (in den USA gibt es laut Wolf zu allen 10 Punkten Ansatzpunkte). Nach meiner Einschätzung sind Punkt 1 (eine Bedrohung heraufbeschwören) und Punkt 4 (Überwache den Normalbürger) am weitesten fortgeschritten. Mit Punkt 8 ist das so eine Sache. Die Presse darf fast alles schreiben, der einzelnen Journalist jedoch nur das, was mit der Linie der Medieninhaber übereinstimmt. Die verfolgen vor allem ihre eigenen Interessen (also die der Wohlhabenden, der Vermögensbesitzer, der Arbeitgeber). Wann werden wir in unserer Presselandschaft einen „Linksruck“ erleben? Dann, wenn sich kleine Angestellte, Arbeitslose und Obdachlose die Herstellungs- und Druckkosten für eine Zeitschriftenproduktion leisten können. Oder wenn sie sich für Millionenbeträge in den etablierten Medien Anzeigen und Werbspots leisten können. Dieses paradoxe Beispiel macht deutlich, warum die Presse bis auf weiteres unternehmerfreundlich sein muss.

Ich möchte den 10 „Sargnägeln“ noch ein paar weitere hinzufügen (und die Leserinnen und Leser animieren, sich selbst Gedanken zu machen, welches die Vorboten eines heraufdämmernden Faschismus sein könnten.

  1. Erkläre alles zu einer „Sicherheitsfrage“ und untergrabe Schritt für Schritt das positive Image, das die Freiheit in der Öffentlichkeit genießt.
  2. Gewöhne das Volk daran, jederzeit selbst wegen kleinster Verfehlungen Strafen zu erwarten und sich reflexartig an die jeweilige Erlaubnis- und Verbotslage anzupassen.
  3. Verfolge eine Minderheit mit unduldsamer Härte und gewöhne die Mehrheit daran, dabei unbeteiligt zuzusehen.

Wenn man alle 13 Punkte als demokratiefeindlich definiert, zeigt sich, dass auch in Deutschland die Entwicklung hin zu einem ungesunden Autoritarismus schon weiter fortgeschritten ist, als wir geglaubt hatten. Bei Punkt 13 („Verfolge eine Minderheit mit unduldsamer Härte …“) sind vor allem so genannte „Sozialschmarotzer“, Menschen, die bei kleineren Ordnungswidrigkeiten erwischt wurden, „Terrorverdächtige“ (wie immer man die definieren mag) und in einigen Fällen auch „Ausländer“ zu nennen. Der neoliberale, autoritär gesinnte Mainstream lenkt die kämpferische Energie möglicher Kritiker auf solche Randgruppen um, um sich selbst zu entlasten. Man kann nur gegen eine Sache gleichzeitig ankämpfen. Wenn man seine Energie darin verschleißt, sich über den „faulen Hartz-IV-Empfänger“ aufzuregen, verschwindet das kapitalistische Menschenverwertungssystem für einige Zeit aus dem Blickfeld.

Der schwerwiegendste Schlag gegen die Demokratie ist die Einschränkung des Rechts und der praktischen Möglichkeit für die Bürger, Gegenwehr zu organisieren. Sind der kritischen Gegenöffentlichkeit erst einmal die Zähne gezogen, ist weiterem Demokratieabbau Tür und Tor geöffnet. Der KZ-Überlebende Max Mannheimer sagte deshalb am 21. Juni auf einer Demonstration gegen das neue bayerische Versammlungsrecht in München, man könne Nazis nicht bekämpfen, indem man Bürgerrechte einschränke. Damit tue man den Feinden der Demokratie vielmehr einen Gefallen. Überspitzt gesagt, besteht die Gefahr, dass man Nazis so lange und so „hart“ bekämpft, bis deren Sieg eigentlich gar nicht mehr nötig ist, weil die „Guten“ dann selbst eine Welt erschaffen haben, die dem von Nazis erträumten autoritären Überwachungsstaat aufs Haar gleicht.

Man kann das Böse nicht bekämpfen, indem man sich ihm immer ähnlicher macht. Gegen die Menschen verachtende Ideologie der Neonazis muss man mit Aufklärung und offenem Meinungsstreit vorgehen, mit Festigkeit und Zivilcourage, mit fairer, gewaltloser Gegenwehr in jedem Wohnzimmer, an jedem Stammtisch und auf jedem Marktplatz. Die Einschränkung von Grundrechten ist dagegen ein gefährliches Spiel. Selbst wenn sich Maßnahmen gegen eine andere, den Grundrechten feindlich gesinnte Gruppe richten, sollten Linke und Bürgerlich-Liberale hier nicht unüberlegt Beifall klatschen.

Manchmal hilft es, unabhängige Künstler zu befragen, die noch nicht den Gipfel medialer Popularität erklommen haben, dafür aber ein Gespür für die unterschwelligen Strömungen der Zeitgeschichte. Der Liedermacher Heinz Ratz hat einen fiktiven Monolog Hitlers an die heutigen Deutschen geschrieben („Hitlers letzte Rede“). Darin sagt der gealterte „Führer“: „Ein totalitäres Regime besitzt immerhin die Schwäche, dass sein Terror Stille erzeugt, dass seine Macht die Mäuler verschließt. So wird einer, der trotzdem spricht, von hundert ängstlichen Ohren zumindest gehört. In einer Demokratie schreien hunderttausend durcheinander, jeder ist damit beschäftigt, seine dümmliche Meinung herauszuposaunen. Da geht jeder ernsthafte Mahner unter, da wird jeder tiefsinnige Kritiker von zehn Idioten überbrüllt!“

Dies zeichnet ein treffendes Bild der momentanen Verhältnisse. Es ist für die Machtelite gar nicht erforderlich, Kritiker „zum Schweigen zu bringen“ (dies gäbe nur hässliche Bilder und Berichte, die man vermeiden will); damit Kritik nicht gehört werden, reicht es völlig, so viele konkurrierende Reize dagegenzusetzen, dass sie untergeht. Das Volk mit Nichtigkeiten beschäftigt zu halten ist das ideale Herrschaftsinstrument der sensiblere Naturen, die vor Gummiknüppel und Verhaftungswellen (noch) zurückschrecken.

Demokratie wird von „Hitler“ bzw. vom Autor Heinz Ratz als einen Freiraum definiert, der den Menschen von den Mächtigen vorübergehend zugestanden wird, solange ruhige Zeiten das zulassen und die Bürger sich insgesamt systemkonform verhalten: „Und womit könntet ihr mich auch aufhalten, nicht wahr? Mit eurer lachhaften Demokratie etwas, auf dem Buckelrücken eines Geldstücks gebaut? Ahnt ihr denn nicht, dass Demokratie nur ein Luxus des Wohlstands ist? Die nachsichtige Erlaubnis der Mächtigen, sich von den Schwachen hin und wieder ärgern zu lassen? Glaubt ihr wirklich, dass die losen Zügel lose bleiben, wenn die Herren Galopp befehlen? Dass die Peitsche nicht gebraucht wird, heißt noch lange nicht, dass es keine Peitsche gibt!“ Damit führt Ratz die allgemeine Annahme, dass ein mündiges Wahlvolk Politikern Macht auf Zeit gewähret, einfach um. Vielmehr gewähren die Mächtigen den Bürgern Freiheit auf Zeit und nur zu bestimmten Bedingungen.

Auch Sozialstaat, Gesundheitssystem und die rasante technische Beschleunigung werden von Heinz Ratz in die Nähe „Hitlers“ gerückt: „Und wie ich in meine Konzentrationslager pferchte, was mir nicht passte, das wird von diesem so genannten demokratischen Staat in Altenheime, Psychiatrien und Gefängnisse verbannt. Alles, was dem Befehl der Uhr nicht gehorcht, was dem Ruf des Wohlstands nicht folgt, was der Faszination der Technik nicht erliegt, was sinnlos und nicht verwertbar ist, was an dem zu schnellen Leben zerbricht oder sich dagegenstellt! Und wie sich die Fortschrittsdiktatur als Demokratie tarnt, tarnt sich das Abschieben von Lästigem als soziale Großtat, als Wohlfahrt!“

Wäre ein Faschismus in Deutschland wieder möglich? Mit Sicherheit. Ich wünschte, ich könnte das mit derselben Gewissheit auch in Bezug auf die Demokratie sagen. Ist die repräsentative Demokratie doch gerade dabei, sich Schritt für Schritt zur „repressiven Demokratie“ zu wandeln. Was ist damit gemeint? Aus einem Pool ähnlich gesinnter Politiker (und ohne echte Alternativen zu haben) darf sich der Bürger alle vier Jahre diejenigen heraussuchen, von denen er lieber gegängelt, von der Teilhabe am demokratischen Prozess ausgeschlossen und der Wirtschaft zur möglichst effizienten Verwertung ausgeliefert wird.

Die Politik von Merkel, Gabriel und ihren Gesinnungsgenossen in anderen Ländern lässt sich am kürzesten in Umkehrung des bekannten Spruches von Willy Brandt formulieren: „Weniger Demokratie wagen!“ Das kann es nicht gewesen sein. Retten wir die Demokratie! Oder vielmehr: Lassen wir erstmals etwas ins Leben treten, das die Bezeichnung „Demokratie“ wirklich verdient!

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