»Wir brauchen wirklich radikale Lösungen«

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»Da müsste doch jetzt was passieren!« Wir hören solche Appelle immer wieder, wenn es um die nahende ökologische Apokalypse geht. Aber wie bald ist »jetzt«? Die meisten zeigen sich abgestumpft. »Wie eine träge Herde Kühe schauen wir kurz auf und grasen dann gemütlich weiter«, sang Grönemeyer. Daniel Pinchbecks neues Buch ist ein Weckruf. Und auch sein Übersetzer ins Deutsche ist bemerkenswert: Wolf Schneider, über Jahrzehnte Chefredakteur des engagiert spirituellen Magazins »connection«. Mit ihm sprach Roland Rottenfußer u.a. über das Erbe der 68er, konstruktive Anarchie, die Macken der »spirituellen Szene« und – mit weniger geben wir uns nicht zufrieden – die Rettung der Weltzivilisation.

Wolf, du gehörst von deinem Alter her zu den Spätausläufern der 68er-Generation. Die Sannyas-Szene, die dich entscheidend geprägt hat und der du in Deutschland wichtige Impulse gegeben hast, hat ja vom Lebensgefühl her große Ähnlichkeit mit der damaligen Hippie-Bewegung. Andererseite gibt es heute in Teilen der spirituellen und »integralen« Bewegung große Vorbehalte gegen die 68er, etwa von Seiten Ken Wilbers, der von »Boomeritis« spricht und dem Aufbruchs- und Rebellionsimpuls jener Zeit Narzissmus vorwirft. Wie siehst du die Zeit zwischen 1967 und 1977 heute im Rückblick? Braucht es eine »neue« 68er-Bewegung, und hat Pinchback etwas Wesentliches dazu zu sagen?

Die 68er halte ich heute noch in Ehren, egal wie sehr sie für andere aus der Mode gekommen sein mögen. Sie waren eine echte Gegenkulturbewegung – gegen den Kommerz, gegen Biederkeit und Sicherheitsdenken. Sie waren für die Liebe und den Frieden. Gemäß Erich Fromms zentraler Frage »Haben oder Sein« standen sie auf der Seite des Seins, gegen die ‘Habenden’, deshalb mag ich sie, egal wie sehr die 68er verwässert wurden und sich selbst untreu geworden sind. Vielleicht kann man Schröder und Fischer zu den ‘Untreuen’ rechnen, aber wir wissen ja nicht, wie es ohne ihre Kompromissbereitschaft geworden wäre. Klar brauchen wir heute neue Gegenkulturbewegungen! Das brauchen wir mehr denn je, und da dürfen die 68er durchaus eine Quelle der Inspiration sein – eine unter anderen.

Daniel Pinchbeck hat eine positive Einstellung zum Anarchismus. Das überrascht, propagieren doch viele Protestbewegungen unserer Zeit (z.B. der »Linken«) nicht Herrschaftslosigkeit, sondern eher alternative Autoritäten. In der spirituellen Szene dominieren teilweise neo-autoritäre und konservative Konzepte wie jenes der Hellinger-Schule. Als Gegenbeispiel möchte ich Konstantin Wecker nennen, der Spiritualität die »Anarchieform der Religion« genannt hat. Wie positioniert sich Pinchbeck in diesem Spannungsfeld? 

Pinchbeck ist ein Grenzgänger. In seinem Buch zitiert er klassische Anarchisten aus dem 19. und 20. Jahrhundert und zeigt darin ihre rebellischen Humanismus auf, ihren Widerstand gegen die Vereinnahmung des Bürgers durch den Staat. Pinchbeck ist aber keineswegs gegen Regeln des sozialen Zusammenlebens und deren Einhaltung, er sagt nur, dass diese in Zukunft anders gefunden, entschieden und durchgesetzt werden müssen; nicht so wie jetzt, durch »das Imperium«, durch die 1 % (oder noch weniger) der Herrschenden, die Besitzer des Kapitals. Er argumentiert antikapitalistisch, aber er sieht auch etwas Positives an den Strukturen der heutigen Global Players, die in gewisser Weise gut darin sind, in hohem Tempo technische Innovationen zu realisieren. Das ist bei der jetzigen Ausrichtung auf »Profit über alles« hoch gefährlich, aber wenn die Firmen sich neu ausrichten auf den Erhalt der Biosphäre und Fortsetzung der menschlichen Zivilisation – was sie bisher nicht tun, weil aufgrund unseres Finanzsystems nur der Profit zählt – dann können diese Unternehmenstrukturen, die ja in gewisser Hinsicht die heutigen Herrscher der Welt sind, für gute Zwecke eingesetzt werden. Dazu braucht es allerdings eine Bewusstseinsrevolution. Diesen Wandeln werden diese Firmen nicht von allein vollziehen.

Sind Bewegungen, die das Bewusstsein zu schulen versuchten – etwa Therapie- und Esoterikszene – nicht eher hinderlich gewesen, wenn es um das praktische ökologische und politische Handeln, die Rettung der Weltzivilisation ging? Sie laufen Gefahr, gesellschaftliche Probleme ausschließlich im Individuum zu verorten und dort zu therapieren. Sie argumentieren: »Veränderung beginnt bei dir selbst« und gehen dann über dieses Selbst nie hinaus. Oder bleiben gar bei einer seichten »Alles ist gut«-Haltung stehen, ermutigen uns, die Augen auf das Positive zu richten, um nach dem »Gesetz der Anziehung« Positives zu kreieren. Wie siehst du das als jemand, der derartige Konzepte Jahrzehnte lang studiert und teilweise erlitten hat?

Mit deiner Frage hast du die Schwächen dieser Szene gut auf den Punkt gebracht. Klar habe ich darunter gelitten. Teils persönlich durch unter anderem zerbrochene Freundschaften, aber vor allem als Unternehmer, weil mein Verlag der Seichtspiritualität eben nicht in den Arsch gekochen ist und als solcher nur eine Zielgruppe recht bescheidener Größe bedienen konnte. Nicht groß genug, um den Verlag ohne Selbstausbeutung über die Jahre zu tragen. Das Faszinierende an der Therapie-, Psycho- und Esoterik-Szene ist aber, dass es dort echt Suchende gibt, die sind nicht mit Standardantworten zufrieden geben. Und diese Randgruppe der Unzufriedenen, Suchenden, Interdisziplinären, die sich nicht mit der Dummheit und Ausweglosigkeit der aktuellen Politik (und teils auch Ökobewegung) abfinden, die hat es mir angetan. Die Evolution und Revolution der Gesellschaft – Pinchbeck empfindet sich sowohl als Evolutionär wie als Revolutionär – wird von den Rändern der Gesellschaft kommen, in ihrer Mitte wird nur die Fortsetzung des Bestehenden praktiziert, weil dort die Systeme als sakrosankt gelten (die Banken, die Kirchen, die jetzigen Formen von UNO, WTO und andere), sie gelten als »too big to fail«. Sie werden jedoch in ihrer ‘Bigness failen’, in ihrer Größe versagen, sage ich und sagt auch Pinchbeck, so wie die Titanic auf den Eisberg stieß, in einem Tempo, das ein Wenden nicht mehr möglich machte, und in ihrer Arroganz ohne ausreichende Rettungsboote. 

Der Zustand unseres Ökosystems verlangt nach radikalen Lösungen, nach Revolution statt Reformen. Andererseits stellt sich mit Blick auf vergangene Revolutionen die Frage: Wie vermeiden wir eine Eskalation der Gewalt? Wie vermeiden wir es, im Kampf gegen das Unmenschliche unsere eigene Menschlichkeit zu verlieren? Gibt es eine Revolution, die die Liebe mitnimmt, anstatt sie unterwegs zum Ziel zu verlieren?

Das sind Fragen, die sich auch Pinchbeck stellt in seinem Buch »How soon is now«. Er ist einer der wenigen Öko-Revolutionäre, die sagen: Wir brauchen eine Revolution in der Liebe, in den Beziehungen und im Gemeinschaftsleben. Technisch haben wir die Möglichkeiten, um die Weltzivilisation zu retten, auch wissenschaftlich haben wir sie, aber es fehlt im Menschlichen, im sozialen Miteinander. Wir sind einerseits zu bequem, um irgendetwas an unserem Lebensstil zu ändern – siehe die Fernflüge, bei denen es im Gewissen eines normalen »Spirituellen« und Pacha-Mama-Fans ja nicht einmal zuckt, ehe er sein Ayahuasca-Retreat im Dschungel von Peru bucht. Andererseits sehen die meisten von uns auch nicht die Verbindung zwischen Individualismus, Einsamkeit, Kommerz und Ersatzbefriedigungen. Pinchbeck beschreibt sehr eindringlich die Situation der frustrierten Singles in den Städten und plädiert für ein kommunaleres Leben, was zugleich den Öko-Fußabdruck drastisch verbessern, wie auch die Menschen glücklicher machen würde. Der Mensch ist nicht fürs Alleinsein geschaffen. 

Zum Abschluss noch eine Frage zum »Betriebssystem« der Weltzivilisation auf dem Planeten Erde. Pinchbeck plädiert in seinem Buch ja sehr überzeugend dafür, nicht immer nur neue Apps auf das alte System zu laden, sondern – mit diesem Vergleich aus der Computerwelt – ein ganz neues Betriebssystem zu erstellen und dann zu installieren, welches das Zusammenleben der Menschen auf der Erde regelt.

Ja, das tut er, und das ist für mich eine der beeindruckendstens Stellen in seinem Buch. Wir müssen radikaler werden, wir müssen bis an die Wurzel gehen, bis zum Betriebssystem. Das sagt ja auch Konstantin Wecker, wenn er die nationalen Regierung als die Geiseln des Weltfinanzsystems bezeichnet. So lange wir dieses System nicht ändern, kratzen wir nur an der Oberfläche, und unsere Reformen verpuffen. Oder im »Blob«, dieser Eigenschaft des Systems, fast jeden Widerstand in sich aufzunehmen, ihn zu schlucken, mit den Revolutionären ein Geschäft zu machen; noch mit seinen eigenen Henkern und Totengräbern wird dieses System ein Geschäft machen und – Wunder über Wunder – es wird sie überleben, das ist der Blob. Wir brauchen wirklich radikale Lösungen, und Pinchbecks Buch ist ein Aufruf, sie zu finden, der tief unter die Haut geht. Wer es liest, Seite für Seite, kann nicht anders als sich selbst an der Nase zu packen und zu sagen: »So geht es nicht weiter! Ich trete einer politischen Gruppe bei oder gründe ein, ich ändere meinen Lebensstil!« – »Sei die Veränderung, die du in der Welt sehen willst«, dieses Motto von Gandhi passt auch für Pinchbecks Aufruf an die Weltbevölkerung, an uns alle.

Daniel Pinchbeck, How soon ist now – wie lange wollen wir noch warten. Ein Manifest gegen die Apokalyse. Übersetzt von Wolf S. Schneider. Scorpio Verlag im Februar 2017, 400 S, HC, 24.90 €

Weitere Fragen an Wolf Schneider zum Buch von Daniel Pinchbeck stellte Thomas Schmelzer für »Mystica TV«
http://www.mystica.tv/how-soon-is-now-der-visionaere-autor-daniel-pinchbeck-in-deutschland/

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