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Birgit Vanderbeke, Foto: Reiner Binkowski

Zu Norbert Nicolls Buch “Adieu Wachstum”. Als “Décroissance” oder “Degrowth” wurde seit den 70er-Jahren eine Bewegung bekannt, für die es bezeichnenderweise keinen deutschen Namen gibt. Deutschland – immerhin das grüne Musterländle, das lange als Vorreiter in puncto Umweltschutz galt, dessen Ressourcenverbrauch jedoch ebenso anschwillt wie die Anzahl der Öko-Produkte, die hierzulande den Lifestyle einer sich “bewusst” gebenden wohlhabenden Elite bereichern. Kein schlechtes Gewissen hilft da, meint die Romanschriftstellerin Birgit Vanderbeke, keine Mehr des noch so gut Gemeinten – nur radikale Selbstbeschränkungen im Sinn des Satzes “Weniger ist mehr”. Das geht nicht ohne “Verzicht”, der eigentlich keiner ist, weil er den Menschen, vom Konsumdruck befreit, zu neuer selbstbestimmter Lebensqualität führt. (Birgit Vanderbeke)

1. Eine etwas längere, aber notwendige Vorbemerkung

In Frankreich spielt die Agrikultur eine sehr viel größere Rolle als in Deutschland. Gleichzeitig wurde in der französischen Landwirtschaft die längste Zeit fröhlich mit Pestiziden herumgeballert, was das Zeug hält.

Die Franzosen sind keine Freunde von schlechtem Gewissen und moralinsauren Diskursen. Sie sind Pragmatiker.

Dazu gehört, dass sie sich, zwar mit langer Verzögerung, aber dann trotzdem doch irgendwann der Wirklichkeit stellen.

Im vergangenen April haben sie nun – im Alleingang, und ohne Brüssel um Erlaubnis zu fragen – ein Gesetz verabschiedet, das den Einsatz von Pestiziden in öffentlichen Parks und auf öffentlichen Plätzen verbietet, demnächst wird der Einsatz auch in privaten Gärten nicht mehr erlaubt sein.

Eine interessante politische Bewegung, die seit Anfang der siebziger Jahre darauf hin gewirkt hat, dass ökologische Vernunft in Frankreich heute erstaunlich populär und vermutlich verbreiteter ist als in Deutschland, heißt „Décroissance“.

Ihre Väter waren merkwürdige Typen mit merkwürdig wurzelloser Identität: unter anderem der in Wien geborene französische Sozialphilosoph André Gorz, der ebenfalls in Wien geborene Theologe, Priester, Philosoph Ivan Illich und der rumänische Mathematiker und Ökonom Nicholas Georgescu-Roegen, der nach dem Krieg vor den Sowjets in die USA floh, wo er – in Nashville – ab 1950 eine Professur innehatte. Kurz bevor der „Club of Rome“ im Jahr 1972 seinen Bericht „Grenzen des Wachstums“ herausgab, der weltweit Beachtung fand, hatte Georgescu-Roegen, fast an der Öffentlichkeit vorbei, 1971 das physikalische Entropiegesetz auf ökonomische Prozesse angewandt. Das, was er dabei auf wissenschaftlichem Wege herausgefunden hatte, ist etwas, das jedes Kind weiß: Wachstum geht nicht ewig. Quod erat demonstrandum.

André Gorz formulierte das so:

„Nur ein Ökonom, Nicholas Georgescu-Roegen, hatte soviel gesunden Menschenverstand, um festzustellen, dass der Konsum der Ressourcen – selbst wenn er auf stabilem Niveau bleibt – diese ganz zwangsläufig verbraucht, bis sie vollständig zur Neige gehen. Somit lautet das Gebot der Stunde nicht, immer mehr zu konsumieren, sondern immer weniger.“ (in: Ecologie et Liberté)

1979 publizierte Georgescu-Roegen eine Aufsatzsammlung unter dem Titel „Decline“, die ins Französische übersetzt wurde. Da hieß sie dann – wohl in Anlehnung an den Philosophen André Amar, der den Begriff 1976 erstmals verwendet hatte, „Décroissance“.

Etwa zur selben Zeit begann Pierre Rabhi international bekannt zu werden. Auch er hatte zwei nationale Identitäten (oder auch gar keine): „Auf der einen Seite gab es eine Zeit, die sich seit tausenden von Jahren nicht bewegt hatte, auf der anderen gab es Zahnbürsten und Hygiene.“ Als Kind hat Rabhi in einer Oase in Algerien gelebt, später kam er nach Frankreich, und 1960 begann er in den Cevennen ein Lebensprojekt mit so gut wie keinem Geld und war Jahre später ein weltweit nachgefragter Spezialist für Agroökologie.

Die Sache selbst, die „Décroissance“, war und ist unbeliebt, und zwar – in den Zeiten des Kalten Krieges –  war sie es gleich auf zwei Seiten, weil der Westen wie der Osten auf Fortschritt setzten und unter Fortschritt Wachstum verstanden.

Unter der Weigerung der industrialisierten Welt, aus den glasklaren Befunden von Georgescu-Roegen und seither vieler anderen Kritiker der Wachstumswirtschaft beizeiten die notwendigen Schlüsse zu ziehen, hat der Planet inklusive seiner Flora und Fauna bis heute zu leiden.

In den siebziger Jahren indes wuchs eine  Zeitlang die Zahl jener, die Zweifel an der „reinen Lehre“ des Immer-Mehr äußerten und beispielsweise nicht glauben mochten, dass verschärftes Dauer-Shoppen dem menschlichen Leben einen Sinn oder auch nur einen Hauch der versprochenen Glückseligkeit verschaffen könnte.

Dies allerdings ist der Kern allen Fortschrittsglaubens, den wir seit 1989 nicht mehr in seiner östlichen, sondern nur mehr in seiner kapitalistisch-westlichen Form genießen, in der er zum verhängnisvollen umfassenden Wachstumsdogma geschrumpft, jeglicher Vernunftbezüge beraubt und zur Religion geworden ist.

Die herrschenden Wirtschaftssysteme beschlossen, gegenüber der Décroissance-Bewegung eine stoische Haltung zu bewahren. Sie ignorierten sie, ähnlich wie einst Palmström seinen Autounfall ignoriert hat,

„weil, so schloss er messerscharf,

nicht sein kann, was nicht sein darf.“ (Christian Morgenstern)

Das hat die Zweifler nicht am Nachdenken gehindert, wenngleich sie dieses Nachdenken spätestens seit den neunziger Jahren fernab der konsumfixierten Menge zu betreiben haben, mit der sie möglichst nicht in Berührung kommen sollen.

Und hier jetzt wird die internationale Geschichte der Décroissance spannend, weil sie in verschiedenen Ländern und Regionen ganz vielfältige und unterschiedliche Richtungen nahm, von denen ich die deutsche kurz erörtern möchte, weil sie einen historischen Sonderfall darstellt, der dazu geführt hat, dass die gesamte Bewegung mitsamt ihren höchst eigensinnigen Protagonisten, Büchern und sonstigen Publikationen, Ideen, Projekten so gut wie nicht angekommen bzw. zur Kenntnis genommen worden ist (es gibt Ausnahmen, nur wenige sind zu öffentlicher Bekanntheit gelangt).

Deutschland galt bis gegen Ende der neunziger Jahre als vorbildlich in Sachen „Grün“.

Die Partei „Die Grünen“ wurde gerade rechtzeitig gegründet, als in den siebziger Jahren die Welt über die „Grenzen des Wachstums“ und die Schändung der Umwelt durch industrielle Produktion in Aufregung und in Deutschland linkes Denken durch die RAF in Verruf geraten war.

Interessanterweise war übrigens schon seit längerem die Schändung der Umwelt sehr vorangetrieben worden durch eine andere grüne Bewegung, nämlich die sogenannte „grüne Revolution“, die in einigen Ländern der Dritten Welt in Gang gebracht, unter anderem in den 40er Jahren von der Rockefeller Foundation für Mexiko, später von der Ford Foundation für Indien finanziert wurde und in deren Verlauf – vorgeblich zum Zwecke der Hungerbekämpfung –  Hochleistungs- sowie genmanipulierte Getreidesorten entwickelt, hemmungslos Pestizide eingesetzt und große Teile der Landbevölkerungen ruiniert wurden.

So gesehen, hätte man bei der Namenswahl der „Grünen“ stutzig werden können: die grüne Revolution war ein neoliberales Projekt aus dem Bilderbuch, bekanntlich trieb es die an ihr verarmten indischen Bauern massenhaft in den Selbstmord und gilt immerhin heute als „umstritten“.

In Deutschland stutzte niemand. Ich erinnere mich daran, dass andauernd darüber nachgedacht wurde, ob wohl langhaarige, unbeschlipste Turnschuhträger in die ehrwürdigen Parlamentssäle passen würden oder eher nicht.

Für Ökologie gab es von da an ein eingängiges Synonym: Ökologie war grün, protestiert wurde gegen Atomstrom (gefährlich und böse), den Ausbau der Startbahn West des Frankfurter Flughafens (schuld am „Waldsterben“, also böse), für die Natur (gut) und gegen Coca Cola (böse), es wurden spektakuläre Aktionen durchgeführt und Kröten (gut) unter Einsatz der Gesundheit von mutigen Krötenrettern über die Autobahn (böse) zu den ihnen gemäßen Laichorten getragen, es wurde der Maikäfer vor dem Aussterben bewahrt, und weil ein Teil der damaligen „Grünen“ noch aus Ex-Mitgliedern diverser Links-Gruppierungen bestand, die sich im Gefolge von 1968 in Westdeutschland gebildet und kurz darauf wieder aufgelöst hatten, wurde auch gegen die Stationierung amerikanischer Pershing-Raketen (böse) auf dem Boden der BRD gekämpft. Bevorzugtes Mittel der politischen Artikulation waren gewaltfreie Demonstrationen sowie Lichterketten (gut), begleitet wurde das Tun der Guten gegen das Böse von sogenannten Liedermachern auf der Gitarre.

Der im lebenslustigen katholischen Rheinland verankerten Bonner Republik war ein protestantisches Gegenüber entgegengetreten, das messerscharf zwischen Gut und Böse unterscheiden konnte, jeden Daseinsbereich (also gern auch Privates) in moralische Kampfzonen verwandelte und nicht zögerte, diese Moral als politisches Mittel für und gegen alles und jedes einzusetzen: das Bio-Label, die Müll-Trennung, das Fahrrad, den grünen Tourismus, alternatives Dies und alternatives Das, das Rauchverbot, den Veggie-Day, die Mehrwegflaschen, „Me-too“, die Menschlichkeit, die Verantwortung, „unsere“ Verantwortung in der Welt, den Jugoslawien-Krieg, den Krieg gegen alles Böse – grüne Politik sah immer so aus, als käme sie aus dem Bauch heraus, ganzheitlich, nachhaltig, „irgendwie“ undsoweiter, nur berührte sie „irgendwie“ eine Kleinigkeit nicht, weil sie sie nicht berühren wollte: die unbedingte soziale Notwendigkeit, aus der Wachstumsideologie auszusteigen. „Grün“ wurde zum Lifestyle der selbst ernannten Mittelschicht und damit ein florierender Wirtschaftszweig, der wuchs und wuchs und weiter wachsen wollte, immer mehr alternative Energien, Raps und Mais, und was sonst noch zu Sprit gemacht werden kann, immer mehr Möbel, Teppiche, Lippenstifte mit Öko-Label, Ethical Fashion, klimaneutrale Häuser, Bioprodukte jetzt auch im Supermarkt und an der Börse, immer mehr selbstgefällige Bescheidwisserei und Dünkel, die der Feind allen Denkens sind.

Von Beginn an traf sich die Neigung zur unterbelichteten Dichotomisierung der Welt, die den Grünen seit jeher eigen war, mit den sehr erfolgreichen neoliberalen Verblödungsstrategien, die etwa seit Anfang der 90er Jahre global eingesetzt wurden und seitdem zu einer signifikanten Senkung des menschlichen Intelligenzquotienten geführt haben, jedenfalls in jenen Teilen der Welt, in denen das Lied von den „westlichen Werten“ gesungen wird.

Heute sind die Grünen ein Bestandteil der wachstumsgetriebenen Wirtschaft, und demnächst werden sie von der Bühne verschwinden, weil die Hummeln, Bienchen und Nachtigallen, die bei den Bundestagswahlen ihre Stimme für sie abgeben würden, allmählich ausgestorben sind.

In keinem anderen Land haben die Grünen eine solche Größe und Bedeutung und damit eine so fatale historische Wirkung gehabt wie in Deutschland, wo sie den Anschein erwecken konnten, als sei Ökologie mit Wachstumspolitik mal locker vereinbar und als sei die unbedingte und vor allem sofortige Rücknahme dieses Wachstums daher überhaupt kein Thema.

Allerdings ist die Wachstumspolitik nicht nur aus Gründen der Ökologie unhaltbar, sondern – wie oben schon gesagt – aus etwa tausend weiteren Gründen ebenfalls, einer so schwerwiegend wie der andere.

In Deutschland ist kaum ein Gedanke dazu an die Öffentlichkeit gedrungen, obwohl auch hier eine Menge Menschen sich damit befassen, aber es ist durch die Grünschimmer in der Fassade des inzwischen gesamt-protestantischen transatlantischen Berliner Republik-Theaters gelungen, diese Gedanken so in Nischen zu drängen, dass sie kaum zu finden sind.

Ich erwähne nur kurz die immerhin am Rande beachteten Arbeiten von Niko Paech oder etwa den Österreicher Christian Felber. Es gibt inzwischen allmählich eine etwas breitere Aufmerksamkeit und wachsende Sympathien allerorten für die Ideen einer Gemeinwohlwirtschaft, die sich dem profitorientierten Unwesen der westlichen Plünderungspraxis (Plünderung von allem: Mensch, Tier, Natur, Ressourcen) entgegensetzen könnte.

International ist die „Décroissance“-Bewegung ein gutes Stück weiter als in Deutschland, wobei sie eine große Stärke hat: so wie ihre „Väter“ aus völlig verschiedenen Gegenden und Denktraditionen kamen, so ist es dann auch weitergegangen. Man muss sich das ganze Unterfangen etwa so vorstellen: der Mathematiker Georgescu-Roegen, der katholische Priester Ivan Illich und der Philosoph Gorz sowie der Landwirt Pierre Rabhi sind aus ihrer je vorfindlichen Lebenspraxis drauf gekommen. Genauso kamen auch andernorts Ökonomen drauf, dass die Wirtschaftswissenschaften von akutem Irrsinn infiziert sind, der sich allerdings als so mächtig erwiesen hat, dass er abweichendes Denken schon im ersten Semester aussortiert. Es kamen Mediziner darauf, dass Menschen abnorm fett werden, wenn sie abnorm viel und immer mehr und immer schlechter fressen; Psychologen kamen drauf, dass Menschen seelisch erkranken, wenn sie langfristig in Verhältnissen leben müssen, die darauf angelegt sind, sie ihrer seelischen Gesundheit zu berauben. Geologen können einem ganz genau erklären, warum die Ressourcen-Lage entweder kurz vor dem gefährlichen Moment steht, an dem sich die Plünderungen als zu teuer erweisen, vielleicht haben wir den „Peak-Everything“-Punkt allerdings auch schon erreicht und überschritten. Manchmal erwähnen sogar die Nachrichten, was Insektenforscher herausgefunden haben: Drei Viertel der Insekten sind in Deutschland draufgegangen, während sich die Grünen damit beschäftigt haben, die Reichen in diesem Land reicher und die Armen immer mehr und immer ärmer werden zu lassen und ihnen dann „selbst dran schuld“ hinterherzurufen. Lehrer weisen darauf hin, dass Kinder keine Maschinen sind und sich nicht menschlich entwickeln können, wenn sie wie Maschinen zum Funktionieren dressiert werden. Sprachforscher haben herausgefunden, dass viele Wörter, die heute im Umlauf sind, inzwischen das Gegenteil von dem bedeuten, was sie vor dreißig Jahren bedeutet haben. Manche Wörter bedeuten praktischerweise gleich beides: das, was sie immer bedeutet haben, sowie auch das Gegenteil davon.

Klimaforscher weisen mit Engelsgeduld immer und immer und nochmal darauf hin, dass die Meere nicht erst irgendwann in der Zukunft versauern, sondern jetzt; dass Gletscher schmelzen, und zwar jetzt, dass immer mehr und größere Regionen der Welt von Hitze und Dürre heimgesucht werden, nämlich jetzt, während wir auf der Welt sind. Hitze und Dürre bedeuten, dass nichts mehr wächst, und wenn nichts mehr wächst, gibt’s nichts zu essen und zu trinken. Die Folge sind Aufstände, Bürgerkriege und Flucht, und sofern die Region außer Hitze und Dürre auch noch Bodenschätze zu bieten hat: Kriege um die Ressourcen.

Jeder, der sich halbwegs mit den finanzmarktkapitalistischen Zuständen und Zusammenhängen auskennt, sagt sinngemäß über die weltwirtschaftliche Schuldenblase: keine Ahnung, ob’s morgen oder übermorgen kracht, aber spätestens 2020 ist Ende der Fahnenstange.

Kurz: immer mehr Menschen in fast jeder zivilen Gesellschaft der Welt haben allmählich in ihrem jeweiligen Leben auf ihre eigene Art und Weise das „Ende der Fahnenstange“ vor Augen und sind Zeuge davon, wie „es“ nicht mehr „so“ weitergehen kann. Es gibt gute Gründe, dem „gesunden Menschenverstand“ zu misstrauen, aber ich kann nachvollziehen, warum André Gorz ihn bei Georgescu-Roegen bewundert hat, und inzwischen ist es allerhöchste Zeit, sich an ihn zu erinnern und denen zuzuhören, die darauf hinweisen, dass der Kaiser nichts an hat.

Selbstverständlich ist es beunruhigend, das Ende der Fahnenstange in Blickweite zu haben. In dieser Situation wäre es nicht schlecht, sich einen halbwegs aktuellen und seriösen Überblick über die Situation auf unserem Planeten zu verschaffen.

Bis vor kurzem konnte man das als „normaler“ Leser nur dann, wenn man in der Schule seine erste und zweite Fremdsprache so gut gelernt hatte, dass man englische oder französische Bücher lesen konnte. Allerdings stellte man dabei unweigerlich fest, dass diese Bücher für Engländer, Amerikaner oder Franzosen geschrieben sind, und in jedem dieser Länder (und ich mag gar nicht daran denken, wie das in Indien und Bangladesch sein mag) ist die jeweilige „Lage“ durchaus verschieden von der in anderen Ländern, und zwar einfach deshalb, weil in jedem Land eine etwas andere Kultur mit den unterschiedlichen Auswirkungen des Wachstumswahnsinns konfrontiert ist und ein amerikanischer Autor bei der Schilderung der „Lage“ sein Publikum vor Augen hat, das er auch kennt, folglich bezieht sich seine Erzählung auf amerikanisches Konsumverhalten, auf ein amerikanisches Sozial- und Gesundheitssystem und ein anderes Bewusstsein sozialer Klassen und Rassen, einen anderen Blick auf die Erdölmärkte, den Verteidigungsetat oder die Rolle Amerikas in der Welt.

In Frankreich wiederum hat eine ökonomische Dauerdepression seit etwa 25 Jahren dazu geführt, dass der brutale Moment der Globalisierung (keine Grenzen für Waren und Finanzen) die Politik kalt erwischt hat und die Bürger sich inzwischen kläglich abgehängt fühlen, das Resultat ist die Neigung zu kurzfristiger Aufregung auf der Basis einer großen schwammigen Indifferenz in der Bevölkerung und eine triste Resignation. Das weiß ein französischer Autor, der den Franzosen von den radikalen Veränderungen erzählt, die auf sie zukommen werden und die – im günstigsten Fall – zu einem gewissen Grad bewältigt werden könnten, wenn jetzt nachgedacht und gehandelt würde, und zwar jetzt. Von denen, die jetzt auf der Welt sind.

Ich habe die englische und französische Literatur seit Jahren einigermaßen im Blick. Sie ist nicht so perfekt von den Lesern abgeschirmt, wie das in Deutschland gelungen ist, und so gibt es nach meiner Kenntnis und auch in meiner Umgebung (in Südfrankreich auf dem Land) durchaus eine wachsende Menge Menschen, die so darauf reagieren, wie man vernünftigerweise auf die Ankündigung von Ereignissen reagiert, von denen man verstanden hat, dass sie sich nicht werden vermeiden lassen: sie stellen sich um, und zwar jeder auf seine Weise.

In Deutschland, wo sich ja viele Menschen schon ziemlich umgestellt haben und Fahrrad fahren, das Rauchen aufgegeben haben, keine Coca Cola mehr, sondern das gute Bon Aqua vom selben Konzern trinken und überhaupt die Nachhaltigkeit zum Lebens- und Geldanlageprinzip erkoren haben, den Gürtel alle Naselang enger schnallen und emsig auf der Suche nach „alternativen“ Produkten inmitten der großen Nicht-Alternative sind, in Deutschland war es bis vor kurzem kaum möglich, einen Überblick über die Situation auf unserem Planeten zu bekommen, der für deutsche Leser geschrieben ist.

2. „Adieu Wachstum“

Im Oktober habe ich eine Rezension zu einem sehr guten Buch geschrieben (Fabian Scheidler, Chaos, s. meine Rezension hier auf dieser Webseite, „Reloading Society“). Infolge dieser Rezension hat mir der Autor Norbert Nicoll gemailt und mich gefragt, ob ich sein Buch lesen möchte. „Adieu Wachstum“. Ich mochte.

Einige Tage später kam das Buch.

Wenn ich allerdings nicht gewusst hätte, wie es in Deutschland um die „Décroissance“-Literatur bestellt ist (in die hinterste aller staubigen Nischen damit!), hätte ich es wohl gar nicht erst aufgeschlagen. Es ist unangenehm grün, und auf dem Deckel ist ein unangenehm spießig aussehender Blumentopf mit einem unangenehm armseligen Bäumchen mit globusförmiger Krone drauf.

Schwamm drüber, wir lassen uns durch ein bisschen schlechtes Design nicht vertreiben, schließlich wollen wir keinen Marketing-Award vergeben, sondern zusammenkriegen, was seit wann auf dieser Welt wie genau und warum andauernd so schiefläuft, dass inzwischen fast jeder das Ende der Fahnenstange schon vor sich sieht.

Und jetzt kommt eine große Erleichterung: Dieser Autor kann das ganz genau erzählen. Übersichtlich, verständlich, zusammenhängend, einleuchtend und fundiert. Abenteuerlich. Von Anfang an, weil es wichtig ist, dass man die Geschichte dazu kennt, mal kurz in Abrissen die Geschichte der Menschheit und ihrer Anwesenheit auf diesem Planeten, die Sesshaftwerdung, die Landwirtschaft, das Handwerk, die Staatenbildung, die Kolonialisierung, die Produktion, die Rohstofflage, die bis vor zweihundert Jahren halbwegs übersichtlich war und dann rapide anfing, sich zu ändern, wobei rapide nicht einfach nur schnell, sondern dazu noch exponentiell heißt. Noch nie habe ich jemanden gelesen, der das Prinzip der Exponentialität – ein mathematisches Ding – so erfrischend und witzig erklären konnte, und wer in Physik geschlafen und den ersten und zweiten thermodynamischen Hauptsatz nicht mitgekriegt hat, der hat hier eine glänzende Chance, weil Nicoll diese und etliche andere Wissenslücken diskret füllt, ohne dass man sich doof dabei vorkommt oder belehrt oder von oben runter behandelt, wie das ja oft passiert, wenn man von jemand die Welt erklärt kriegt, der denkt, er wisse alles besser als man selbst. Nicoll weiß sehr vieles besser als ich, aber er hat eine so leichthändige und freigiebige schöne Art, sein Wissen höchst demokratisch, nämlich auf Augenhöhe, mit mir zu teilen, dass ich mich aus seinen Gedanken nicht ausgeschlossen fühle, sondern sie sehr gern mit ihm mit- und dann in meinem eigenen Kopf selber weiterdenke.

Eine spannende Geschichte der Menschheit entwickelt er, und natürlich eine Geschichte, von der manch ein Leser aus seinem eigenen Blickwinkeln inzwischen sieht und spürt, wie sie ins Verhängnis steuert, in die (auch automobile) Zerstörung der Biosphäre, in die Sklaverei, den unfassbaren Raub an Lebenszeit, den Verlust an Halt, sei es durch Liebe, Freundschaften, soziale Gemeinschaft, in die großen Vergiftung, die Ausrottung, zu dauernden Kriegen, an deren Ende „failed states“ übrig gelassen werden, und das Erstaunliche an Nicolls Erzählung ist: sie schildert den Ernst, ohne Panik zu machen, und sie wird an keiner Stelle „grün“.

„Es bringt … wenig, die Moralkeule zu schwingen. Entscheidend ist, in Strukturen zu denken.“ (188)

Es mag mein eigener Tick sein (auch weil ich in Frankreich lebe und kein Freund von schlechtem Gewissen und moralinsauren Diskursen bin): aber ich kann’s nicht mehr hören, dass ich in meinen Vorgarten Blüten für die Bienen anpflanzen und mit dem Enkel Insektenhotels basteln soll, um die Welt zu retten.

In der augenblicklichen Situation ist es unbedingt notwendig, dass möglichst viele Menschen die Funktionsweise eines komplexen Systems begreifen, weil eine Eigenschaft komplexer Systeme darin besteht, dass sie kollabieren. Es ist nicht so, dass sie kollabieren „können“, sondern sie tun es. Sie kollabieren, weil das eine ihrer Eigenschaften ist, und jeder sollte verstehen, dass und warum es so ist.

Nicoll kann es so erklären, dass man es versteht und weitererzählen möchte, und das sollte man tun.

Unser Wirtschaftssystem (der westlichen Industriestaaten) ist innerhalb sehr kurzer Zeit durch den menschlichen Zugriff auf fossile Energie „vom Maulwurfshügel auf den Mount Everest“ (139) katapultiert und zu einer für das Leben auf dem Planeten gefährlichen Komplexität getrieben worden, die demnächst energetisch (fossil wie erneuerbar) nicht mehr aufrechtzuhalten bzw. in ihrem andauernden inhärenten Wachstum zu befeuern sein wird. Nicoll liefert  sehr viele Erklärungen dafür, warum das so gekommen ist, und lässt keinen Zweifel daran, dass es so ist. Dass das Klima kippt, macht die Sache nicht besser.

Ich liebe das saudische Sprichwort, das unsere Lage zusammenfasst: “Mein Vater ist auf einem Kamel geritten. Ich fahre ein Auto, mein Sohn fliegt mit dem Flugzeug, sein Sohn wird auf einem Kamel reiten.”

Dies ungefähr ist die Diagnose.

Norbert Nicoll spricht unaufgeregt und gelassen als erwachsener Autor zu einem erwachsenen Leser, und schon das ist fast ungeheuerlich und fällt auf inmitten der endlosen infantilisierenden Babytalks, die einem zum Konsumenten verstümmelten Bürger noch die Entscheidung zwischen Milupa und Alete abnehmen möchten, aber Brei bleibt natürlich Brei.

Vieles von dem, was in diesem Buch sehr anschaulich und im Zusammenhang erzählt wird, mag der Leser auch kennen. Bekanntlich fehlt es nicht an Informationen, aber Informationen helfen nichts, sie bleiben Bruchstücke, und mit Bruchstücken ist nichts anzufangen. „Wissen ist organisierte Information“, sagt Nicoll. Er ist ein sehr kluger Vermittler von organisierter Information, und zwar von beträchtlichen Informationsmengen. In knapp 1000 Fußnoten wird Seite für Seite die immense Lektüre dokumentiert, die dieses Buch zur Voraussetzung hatte. Diese Unmenge Information aus vielen wissenschaftlichen Bereichen ist mit Verstand, sprachlichem Können, genialer Didaktik und einem wundervollen Sinn für Humor zu verständlichem Wissen organisiert, mit dem jeder Leser etwas anfangen kann.

Allerdings ist es nichts für Feiglinge.

„Teile davon könnten die Bevölkerung verunsichern“, sagte der Innenminister Thomas de Maizière vor einigen Jahren einmal, als er sich (in einem anderen Zusammenhang) zartfühlend in Wissenszurückhaltung übte, um die schlichten Gemüter im Land nicht unnötig aufzuregen, und er ist sicher nicht der einzige, der von diesem Idealbild träumt: von der dummen unmündigen Bevölkerung, die ahnungslos ist und unaufhörlich bereit, Vertrauensvorschüsse für eine Politik zu erbringen, mit der ihr im Namen eines metabolischen Wachstums das Fell über die Ohren und das Geld aus der Tasche gezogen wird.

Nichts würde ich für wünschenswerter halten als eine gründliche Verunsicherung der Bevölkerung durch handfestes Wissen, auf dessen Basis die schwer ramponierte Mündigkeit wiederhergestellt und verteidigt werden kann, weil dann das Denken einsetzen kann und Entscheidungen getroffen werden können, die getroffen werden müssen. Und zwar von jedem einzelnen Menschen auf seine Art. Nur: getroffen werden müssen sie, und es sind keine Entscheidungen von der Art „Alete oder Milupa“.

Als Hilfe beim Nachdenken und bei der Entscheidungsfindung ist „Adieu Wachstum“ hervorragend geeignet.

3. PS

Allerdings ist diese Art der Bildung auch heute nicht willkommen.

Jeder, der sich etwas länger mit der Notwendigkeit der „Décroissance“ befasst hat, die in Norbert Nicolls Buch „Wachstumsrücknahme“ genannt wird, kennt zwei Reaktionen des „verunsicherten Lesers“, dem sich im Laufe der Lektüre die Frage aufgedrängt hat, ob womöglich sein Lebensstil so ganz „up to date“ und in seiner Üppigkeit dem Ernst der Lage angemessen sei, die ganz sicher eines verlangt: nicht noch mehr!

Diese Leserverunsicherung ist inzwischen von den Rezensenten wachstumskritischer Bücher erkannt und in zwei Schlagworte zusammengefasst worden, die ich deshalb hier anführe, weil sie sehr hübsche Beispiele für das reduzierte und stereotype „grün gestrichene“ Denken unserer Tage sind und weil man sie gleich wiedererkennen kann, sobald sie einem begegnen. Sie heißen „Verzicht“ (böse) „Freiheitsbeschränkung“ (sehr böse) und werden regelmäßig gegen den Gedanken ins Feld geführt, dass eine „simplicité volontaire“, also ein selbstgewählte Vereinfachung des Lebens in den industrialisierten Ländern ratsam ist.

Ratsam ist sie übrigens einfach deshalb und ganz ohne einen Konjunktiv, weil wir ohnedies keine Wahl haben werden, denn jeder Kollaps führt eine langsam angestiegene Kurve nach ihrem Scheitelpunkt in einem steilen Absturz auf eine brutal dekomplexisierte Stufe hinab. Sobald man das Buch von Norbert Nicoll zu Ende gelesen hat, könnte man eigentlich daran denken, zu dem von Ugo Bardi zu greifen, nach dessen Lektüre man seinen Satz sogar in allen Facetten verstanden hat, dass der Kollaps „kein Defizit, sondern eine Eigenschaft ist“. Ugo Bardi ist ein italienischer Professor für chemische Physik, den ich (auch seinen Blog http://cassandralegacy.blogspot.fr/) wegen seiner Lakonie und seines scharfen Witzes außerordentlich gern lese. Er hat das Phänomen der Kollaps-Kurve in einem kürzlich erschienenen sehr originellen Buch fächerübergreifend einmal durchgespielt: „Der Seneca-Effekt“. Schon der römische Philosoph, Schriftsteller, Naturforscher und große Briefeschreiber Lucius Annaeus Seneca hatte nämlich in einem seiner Briefe den Kollaps herzzerreißend klar beschrieben: „Es wäre ein Trost für unsere schwachen Seelen und unsere Werke, wenn alle Dinge so langsam vergehen würden, wie sie entstehen, aber wie dem so ist: das Wachstum schreitet langsam voran, während der Weg zum Ruin schnell verläuft.“

Zurück zum Vorwurf, da wolle jemand „Verzicht“ predigen:

Wer einen solchen Unfug sagt, hat etwas Wesentliches nicht verstanden oder möchte davon ablenken: neoliberale Systeme bejahen und befördern erklärtermaßen die drastische Ungleichverteilung von Vermögen, also die Verarmung immer größerer Teile der Bevölkerungen, und zwar nicht nur in der indischen Landwirtschaft oder bei den Textilarbeiterinnen in Bangladesch, sondern selbstverständlich auch in den westlichen Ländern, in denen längst immer mehr und mehr Menschen absichtsvoll in Armut und zum Verzicht gedrängt und gezwungen werden und anschließend auch noch das besagte höhnische „Selbst-dran-schuld“ hinterhergerufen kriegen. Ungleichheit ist kein Nebenprodukt des Kapitalismus, sondern der Zustand des idealen Marktsystems. Und sie schreitet galoppierend voran.

Unfreiwilligen Verzicht haben wir also schon lange.

Was dagegen an freiwilligem Verzicht so schlimm sein sollte, ist mir nie ganz klar gewesen, einfach weil ich – wie Norbert Nicoll auch – nicht sehe, was die Qualität eines „Mehr vom selben“ sein könnte. Gegen Ende der siebziger Jahre, als ich noch ziemlich jung war und mir der Schreck über die „Grenzen des Wachstums“ noch frisch in den Knochen saß, habe ich die Entscheidung getroffen, dass ich mein Leben, da es nun einmal aus einer sehr übersichtlich begrenzten Menge von Zeit besteht, gern für mich hätte. Der Satz „Zeit ist Geld“ ist historisch noch recht jung, einigermaßen fragwürdig, und wo immer es möglich ist, versuche ich, ihn außer Kraft zu setzen und mir Zeit-, also Lebensautonomie zu erhalten, was gelegentlich zu finanziellen Engpässen geführt hat, ansonsten aber nicht so sehr schwierig ist, weil ich ein natürliches Desinteresse am Besitz von großen Geldmengen habe.

Wer sich einmal – wohlgemerkt nicht aus Not, sondern freiwillig – in diese Richtung vortastet, stellt recht schnell fest, dass der scheinbare Verzicht (auf das siebte Paar Schuhe oder so etwas) nichts anderes ist als die Befreiung vom Fluch der (Selbst-)Entfremdung, des ferngesteuerten Lebens, womit wir zum Vorwurf der „Freiheitsbeschränkung“ kommen, die den wachstumskritischen Autoren regelmäßig unterstellt wird. Denn jede Einschränkung meiner Konsumgewohnheiten, dies ist wohl der Gedanke, scheint meine Freiheit zu gefährden.

Auf diesen Vorwurf hat Fabian Scheidler in seinem oben schon erwähnten Buch „Chaos“ auf Seite 74 ein schönes Bild parat:

„Wenn die Menschen, bevor sie vom Propagandatsunami der Autoindustrie getroffen wurden, sagen wir um das Jahr 1900, darüber hätten abstimmen können, ob sie lieber jeden Tag stundenlang im Stau stehen, ihre Kinder nicht mehr auf der Straße spielen lassen dürfen, vom Dauerlärm einen Hörsturz bekommen, im Alter an den Folgen von Feinstaub sterben und einen vom Klimawandel verwüsteten Planeten hinterlassen wollen oder ob sie sich lieber wesentlich schneller mit abgasfreien öffentlichen Verkehrsmitteln, die im Ein-Minuten-Takt verkehren, bewegen: Welche Option hätten sie wohl gewählt?“

So viel dazu.

Unsere Freiheit ist längst bis zum Anschlag eingeschränkt und wird es nicht etwa dadurch, dass ich meine Suppe (ich liebe Suppen und merke gerade, dass das langsam auffällig wird) selber koche, anstatt ein chemisches Erzeugnis gleichen Namens aus dem Supermarkt zu kaufen, bei welchem Unternehmen ich als kritische Verbraucherin auf Rat irgendeines Fernsehformats meine Brille nicht vergesse, um die Liste des Kleingedruckten auf dem Tetrapack mit den 95 % Wasser lesen zu können. Meine Freiheit bestand zu keiner Zeit darin, für Dienstleistungen zu bezahlen, die keine Ware sein sollen, weil sie mein Leben und meine tägliche Für- und Vorsorge für dieses Leben sind und ich sie nicht delegieren kann, ohne zu riskieren, dass mir mein Leben selbst abhanden kommt.

Die zweite Reaktion nach der Lektüre eines wachstumskritischen Buchs ist ebenfalls interessant. Sie ist mir gerade vor kurzem wieder einmal begegnet, und zwar auf den „Nachdenkseiten“, die immerhin nicht gerade im Verdacht stehen, neoliberales Denken zu propagieren: „Mir fehlen ganz konkrete, klare Aussagen, was anders gemacht, verändert werden muss“, schreibt  Udo Brandes in seiner Besprechung von „Imperiale Lebensweise“ von Ulrich Brand und Markus Wissen. Ich kenne das Buch nicht, aber der Vorwurf  schließt fast jede konventionelle Besprechung eines „Décroissance“-Buches ab und bezieht sich darauf, dass jeder Leser sich am Ende des Buches fragt: Was kann ich tun? Diese Frage ist völlig richtig. Sie erfordert eine sorgfältige Betrachtung des eigenen Lebens, des Berufs, der Partnerschaften, der sozialen Netze, der täglichen Gewohnheiten, Rituale, Selbstverständlichkeiten, des Budgets und noch vieler anderer Details, weil jede Entscheidung, die ich treffen werde, nur auf der Grundlage genau des Lebens gefällt werden kann, das ich führe. Solche Prozesse dauern einen Moment (auch wenn nicht mehr sehr viel Zeit zum Handeln vor uns liegt). Das möchte Udo Brandes nicht, weil er vermutlich gewohnt ist, dass nach der Diagnose umgehend die Therapie (oder die Reparatur oder der Umtausch) erfolgt. Darauf wird man als Konsument wohl einen Anspruch haben. So geht der Dreisprung im Expertenwesen: Diagnose, Therapie und voilà: die Besserung tritt ein, schon sind die Beschwerden verschwunden.

Udo Brandes und allen, die sich von Norbert Nicoll, Ugo Bardi, Richard Heinberg, Nafeez Mossadeq Ahmed ein (weiteres) Handbuch für „nachhaltiges Leben“ erhoffen, sei gesagt, dass sie sich auf dem falschen Dampfer befinden. Wir sind hier nicht im hippen Einrichtungsladen mit einer Auswahl der üblichen Dekors, die ich oben als Lifestyle für die selbst ernannte Mittelschicht bezeichnet habe, sondern was wir vor uns haben und wovon sehr viele Menschen spüren, dass wir schon drin sind, ist zwar für unseren Planeten keine Katastrophe, er erholt sich ein paar Millionen Jahre, und dann geht vermutlich irgend etwas irgendwie weiter. Für uns allerdings und für die, die nach uns kommen, ist es existentiell und nicht durch den Kauf  eine Krisen-Handbuchs oder einer Gebrauchsanweisung „quadratisch, praktisch, gut, für wenn’s ernst wird“, wegzuschaffen.

Keiner dieser Autoren kann und keiner würde redlicherweise sagen, wie das, was jetzt getan werden muss, getan werden kann (Fabian Scheidler ist eine Ausnahme, er hat Ideen und Ansätze zu verschiedenen Bereichen des privaten und gesellschaftlichen Lebens gesammelt, die hier und da praktiziert werden, und stellt sie vor). Vor vierzig Jahren hat der „Club of Rome“ einige Sofortmaßnahmen vorgeschlagen, um die schlimmsten Verheerungen am planetaren Ökosystem sowie die finstersten sozialen Verwerfungen zu verhindern. Die Herstellung, der Vertrieb und die Anschaffung eines SUV im Jahre 2018 haben nicht dazugehört. Inzwischen geht es natürlich immer noch um Strategien, mit denen der Zusammenbruch eher abgefedert als verhindert werden könnte (allein, nach vierzig bitteren Jahren fehlt allmählich der Glaube an den politischen Willen der zuständigen Instanzen), gleichzeitig aber um etwas, das Ugo Bardi mit seinem unverwechselbaren Humor „kreativ kollabieren“ nennt. Dazu braucht es keine Anleitung, sondern viele Protagonisten, die selber denken. Und mindestens einen Hebel. Oder mehrere. Oder ganz viele. Überall auf der Welt. Es braucht Bücher wie das von Norbert Nicoll. Gespräche darüber. Entscheidungen. Zügiges Handeln. Und sehr viel Lust am Leben.

Keine Pestizide in Frankreichs Parks und öffentlichen Plätzen mehr – das ist schon mal ein ganz netter Ansatz. Kommt etwas spät zwar, so etwa ein halbes Jahrhundert verspätet, aber immerhin.

Reichen wird das allerdings nicht.

 

Buchtipp: Norbert Niccol: Adieu Wachstum! Das Ende einer Erfolgsgeschichte, Tectum Wissenschaftsverlag, 432 Seiten, € 18,95

Birgit Vanderbeke: Das lässt sich ändern. Piper Verlag, 160 Seiten, € 10

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