Zum Beispiel Vietnam: Die Macht der Bilder und was jetzt noch fehlt

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Prinz Chaos II.

Das Bild eines toten Kindes am Mittelmeerstrand erschütterte Millionen von Menschen. Wie aber kann die Empörung in Aktion umgesetzt werden? Ein historisches Beispiel dafür ist der Vietnamkrieg, hier vor allem das Massaker von amerikanischen Soldaten an der Bevölkerung eines vietnamesischen Dorfes in My Lai. Durch die Fotos engagierter Reporter wurde aus der Verdrängung ein öffentlicher Skandal. Dieser trug zur Formung einer starken Bewegung gegen den Krieg bei. Wir können aus rechtlichen Gründen hier keine Fotodokumente zeigen und empfehlen deshalb, in Google Bild das Stichwort “My Lai” einzugeben.

“Gewöhnlich ist ein Leichnam ein stummes, unansehnliches Ding. Es gibt aber Leichen, die lauter reden als Posaunen und heller leuchten als Fackeln.” Rosa Luxemburg: Im Asyl (1907)

Die Bilder toter Kinder an den Stränden Europas haben eine Debatte ausgelöst. Und wie schon bei der Aktion des Zentrums für Politische Schönheit (“Die Toten kommen”) gelingt es erneut einer erstaunlichen Zahl von Kommentatoren, nicht über die Grauenhaftigkeit der abgebildeten Realität zu diskutieren – sondern sich Gedanken über die Statthaftigkeit der Veröffentlichung grauenhafter Bilder zu machen.

In aller Kürze: die Aufgabe von revolutionären Humanisten besteht darin, den unmenschlichen Verhältnissen den Schleier vom Gesicht zu reißen. Die Beschönigung der Verhältnisse ist nicht unser Geschäft.

Zweifellos gibt es nun auch Beispiele, in denen die Schockwirkung der Bilder unstatthaft eingesetzt wird.

Etwa, wenn mit aufrüttelnden Fotos hungernder Kinder für eine Hilfsorganisation geworben wird, die sich damit vor allem im gnadenlosen Konkurrenzkampf um Spendengelder gegen andere Hilfsorganisationen durchsetzen muss – und zu diesem Behufe einen Großteil des Spendenaufkommens an Call-Centers und PR-Strategen weiterleitet.

Oder wenn die BILD oder der SPIEGEL mit dem Sensationalismus grauenhafter Bilder ihre Auflage steigern wollen oder sie als Illustration ihrer Hetze benutzen – oder dazu, für drei Tage ein menschenfreundliches Gesicht aufzusetzen, um anschließend umso besser weiterhetzen zu können.

Aber konkret reden wir über Bilder, die den herrschenden Verhältnissen ihre Verlogenheit ins Gesicht schlagen und die Wahrheit hinter den Sonntagsreden zum Vorschein bringen. Das viel passendere Beispiel ist deshalb die weltweite Kampagne gegen den Vietnamkrieg.

Uns ist heute zumeist unklar, dass der Krieg der USA in Vietnam über lange Jahre eine geheime Operation gewesen ist. Im November 1961 forderte General Taylor in einem geheimen Kabel an Präsident J.F. Kennedy, 6.000 bis 8.000 US-Soldaten nach Vietnam zu schicken: “unter der Tarnung, bei der Bewältigung einer Flutkatastrophe im Mekong Delta zu helfen”. http://www.vietnamgear.com/war1961.aspx
Kennedy hatte zu diesem Zeitpunkt einem Plan zur Aufstandsbekämpfung bereits zugestimmt. Denn der linksgerichtete Vietcong war dabei, die Kontrolle über weite Teile des Landes zu übernehmen.

Der Krieg eskalierte von nun an kontinuierlich. Allerdings richtete der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) noch Jahre später Veranstaltungen über den “geheimen Krieg der USA in Vietnam” aus. Ob die Kriegsgegner damals auch schon als “Verschwörungstheoretiker” diffamiert wurden, ist mir nicht bekannt. Die pure Tatsache des Vietnamkrieges jedenfalls ist jahrelang verheimlicht und in der offziellen Berichterstattung unterdrückt worden.

Als das nicht mehr gelang, wurde die Art und Weise der US-amerikanischen Kriegsführung zu verheimlichen versucht. Das heute berüchtigte Massaker von My Lai etwa fand bereits am 16. Mai 1968 statt. Soldaten des 11. Infanterieregiments ermordeten nahezu die gesamte Dorfbevölkerung. Unter den 504 Toten waren Greise und Kinder. Frauen wurden vor ihrer Ermordung massenhaft vergewaltigt.

Unglaublich, aber wahr: es gelang zunächst, dieses Massaker weitgehend zu vertuschen. Die ersten Berichte über den Vorgang erschienen ganze 14 Monate nach dem Massaker, als kleine Meldungen in der US-amerikanischen Presse. Als die Recherchen von Seymour Hersh das Ausmaß des Vorgangs bewiesen, weigerten sich die großen Tageszeitungen, darüber zu berichten. So verbreitete Hersh seine Recherchen zunächst über eine kleine, unabhängige Nachrichten-Agentur – allerdings fiel diese Veröffentlichung zusammen mit großen Antikriegsdemonstrationen in Washinton D.C. und einem allgemeinen Aufschwung der Vietnambewegung.

Diesem Druck konnte sich die Medienlandschaft nicht mehr entziehen. Zuerst druckte das Life-Magazin einen Artikel Seymour Hershs über das Massaker von My Lai. Newsweek und das Time-Magazin zogen nach.

Illustriert aber waren die Berichte durch Fotos des offiziellen Armeeberichterstatters Ron Haeberle. Diese Fotos zeigten die Leichen von Frauen, von Kindern und Greisen und ganze Leichenhaufen am Rande eines Feldweges. Kurz: aus einem Bericht wurde eine Realität, die Toten bekamen plötzlich Gesichter, sie begannen zu sprechen – und die Weltöffentlichkeit reagierte geschockt!

Die weltweite Welle des Entsetzens über das Massaker von My Lai war ein Wendepunkt im Kampf um die öffentliche Meinung. Die Berichte Seymour Hershs und die Fotos von Ron Haeberle spielten dabei einen unendlich wichtige Rolle.

Aber Texte und Bilder kämpfen nicht für sich. Damit sie ihre Wirkung entfalten konnten und der Vietnamkrieg endlich 1975 beendet wurde, brauchte es Journalisten und Armeeberichterstatter, die sich entschlossen, die Vertuschung des Massakers nicht geschehen zu lassen. Es brauchte einen millionenfache Bewegung gegen den Krieg auf den Straßen der USA und Europas. Es brauchte den Widerstand der schwarzen G.I.s, die sich immer militanter weigerten, den Krieg ihrer Unterdrücker durchzufechten gegen andere Unterdrückte. Und natürlich brauchte es eine Guerilla namens Vietcong.

Und heute?

Wir haben die Bilder.

Wir haben die Texte.

Wir wissen, was wir wissen müssen.

Was uns jetzt noch fehlt, das ist die millionenfache Bewegung gegen den Massenmord an der Europäischen Mauer.

Linke zur Webseite von Prinz Chaos II.:
https://prinzchaos.wordpress.com/2015/09/03/zum-beispiel-vietnam-die-macht-der-bilder-und-was-jetzt-noch-fehlt/

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