Zur Wahl: Demokratie ohne Bürger

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Unterschiedliche Typen, eine Gemeinsamkeit: alle sind “parteilich”

Einfluss in der Politik ist an die Zugehörigkeit zu Parteien geknüpft. Sie haben die Demokratie gekidnappt – mit fatalen Folgen: Der Zustrom frischer Ideen wird unterbrochen, Führungscliquen dominieren die Parteien, und die frustrierten Bürger ziehen sich zurück. Dabei bräuchte die Demokratie nichts notwendiger als engagierte Menschen ohne ideologische Scheuklappen. Aber versuchen Sie mal, als unabhängiger Kandidat einen Fuß in die Tür zu kriegen … Wir brauchen einen Bewusstseinswandel und mehr Parteifreie! (Roland Rottenfußer)

 

 

Monika Herz wollte Politikerin werden. Was sie dann aber tat, ist für Politiker untypisch: Sie ging zu den Menschen und stellte erst mal Fragen. „Meine Devise ist: Zuhören statt Dampfplaudern“. Sie sammelte Unterstützungsunterschriften in ihrer engsten Nachbarschaft: dreistöckige Wohnblöcke mit hohem Ausländeranteil. Kein „sozialer Brennpunkt“, aber auch nicht gerade ein Reichen-Viertel. Viele kannten Monika persönlich und waren überrascht, dass man sie jetzt in den Bundestag wählen konnte. Gegenüber ihrer Nachbarin nahmen die Bürger kein Blatt vor den Mund. „Die meisten Menschen, mit denen ich gesprochen habe, fühlen sich von der Politik verarscht.“ Von der Sorge um die Zukunft der Kinder war die Rede, von finanzieller Enge, von der Angst vor „Überfremdung“. Einige hatten ihre Ersparnisse während der Finanzkrise verloren.

Monika Herz war vor allem mit zwei Themen angetreten: Macht und Geld. Macht, das heißt für sie Volksabstimmungen auf Bundesebene zu Sachthemen. Wollen wir Krieg führen mit Afghanistan? Wollen wir die EU-Verfassung? Wollen wir die Privatisierung öffentlichen Eigentums? Wenn die Antwort „nein“ lautet, warum passiert es trotzdem immer wieder? Geld, das bedeutet für Monika vor allem Unterstützung für zinsfreie Regionalwährungen. „Alle alten Währungen erzeugen Inflation und lenken das Geld dorthin, wo bereits mehr als genug vorhanden ist.“ Monika Herz war 2009 Geschäftsführerin der Komplementärwährung „Der Regio“ im Bayerischen Oberland. Sie ist Mutter von fünf Kindern, hatte viele Berufe, kennt das Leben. Sie ist geübt darin, Vorträge zu halten.

 Eigentlich würde man sich so eine Frau als Volksvertreterin wünschen. Aber auf der Liste der Bundestagsabgeordneten wird  man Monika Herz bis heute vergeblich suchen. Ihre Kandidatur war von Anfang an aussichtslos. Sie ist nicht Mitglied einer Partei. Gerade mal 750 Personen machten ihr Kreuzchen bei ihrem Namen, der verloren ganz unten auf dem Wahlzettel stand. Viele ihrer Wähler kannten sie persönlich, andere haben sie vielleicht aus Protest gewählt, weil ein Bericht über sie in der Regionalzeitung war oder wegen ihres schönen Namens. Im Nachhinein sieht Monika ihre Kandidatur 2009 als „Kunstprojekt“, um einige hundert Menschen mit ihren Ideen bekannt zu machen. Vielleicht auch, um auf einen viel zu lange geduldeten Skandal aufmerksam zu machen: In Deutschland kann man politisch nichts werden, wenn man keiner Partei angehört.

„Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung mit“, heißt es im deutschen Grundgesetz. So gesehen ist die politische Realität Verfassungsbruch, denn von „Mitwirkung“ kann keine Rede sein. Die Parteien haben ein Monopol auf politische Gestaltung. Genauer gesagt: die vier (demnächst sechs) im Bundestag vertretenen Parteien. Die anderen scheitern regelmäßig an der 5-Prozent-Hürde. Der deutsche Bundestag besteht aus mindestens 598 Sitzen. 299 davon werden über die „Erststimme“ vergeben. Das heißt, wer in einem der 299 Wahlkreise die Nr. 1 ist, zieht ins Parlament ein. Das waren seit Kriegsende fast nur Kandidaten von SPD, CDU und CSU. Man kann zwar als Einzelkandidat zur Erststimmenwahl antreten, hat aber nur eine theoretische Chance. Die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag werden über die „Zweitstimme“ bestimmt. Also auch die Kanzlermehrheit. Dieses Stimmenverhältnis darf durch die Dominanz großer Parteien bei der Erststimmenwahl nicht verfälscht werden – ein kompliziertes Rechenverfahren. Auf der Zweitstimmenliste stehen jedoch ausschließlich Parteien, keine Einzelpersonen.

In der Praxis heißt das: Unabhängige Kandidaten sind chancenlos. Und mehr noch: Die Bürger haben fast keinen Einfluss darauf, welche Personen aus den Parteien in den Bundestag kommen. Nur der Einzug der prominenten Führungsriege ins Parlament ist für die Wähler kalkulierbar. Darüber hinaus kommt die Zusammensetzung des Hohen Hauses jedoch über die Bürger wie ein unabwendbarer Schicksalsschlag. Allenfalls kann man mit seiner Erststimme z.B. in Bayern den seit Jahrzehnten dominierenden CSU-Kandidaten vom Sockel stoßen und einen SPD-Kandidaten in den Bundestag hieven. Wer als Kandidat überhaupt antritt, darüber bestimmt aber die Parteiführung. Und wer entscheidet, welche Personen über die Zweitstimme ins Parlament kommen? Das geschieht über Landeslisten der Parteien in den 16 Bundesländern, die vor der Wahl in einem kleinen Führungszirkel ausgekartelt werden. Wer weit oben auf der Liste steht, ist „drin“; wer weiter unten steht, muss um seinen Abgeordneten-Job bangen.

Mit dem Willen der Wähler hat die Besetzung des Bundestags also nur am Rande zu tun. Den deutschen Bürgern sind nicht nur Volksabstimmungen auf Bundesebene zu Sachfragen verwehrt, sie sind auch in Personalfragen fast machtlos. Gewählt werden immer nur Angebotspakete, die unter Schlagworten wie „liberal“, „sozial“ oder „ökologisch“ verkauft werden. Wer die Grünen wegen des Atomausstiegs wählt, muss die Zustimmung der Partei zum Afghanistan-Krieg mit in Kauf nehmen. Es ist, als ob einem der Bioladen-Besitzer zum Fairtrade-Kaffee ungefragt noch ein paar Eier aus Legebatterien ins Einkaufskörbchen legen würde. Während Politiker indes versuchen, den Einfluss der Bürger zu minimieren, fordern sie kampagnenartig, wir sollten mehr Eigenverantwortung übernehmen.

Der US-amerikanische Kommunikationswissenschaftler Robert W. McChesney fällte ein vernichtendes Urteil über moderne Demokratien: „Ein paar Parteien, die, ungeachtet formeller Unterschiede und Wahlkampfgeschrei, die gleiche prokapitalistische Wirtschaftsform betreiben, führen triviale Diskussionen über Nebensachen. Demokratie ist zulässig, solange die Wirtschaft von demokratischen Entscheidungsprozessen verschont bleibt, d.h. solange die Demokratie keine ist.“ Dass es sich um Scheinalternativen handelt, wurde besonders deutlich bei der deutschen Bundestagswahl 2009, als Merkel gegen ihren Regierungsvize Steinmeier antrat. Solche Schaukämpfe zwischen neoliberalen Glaubensgeschwistern sind ein wichtiger strategischer Hebel in gelenkten Demokratien. Was wirklich im Interesse der Menschen wäre, steht gar nicht zur Wahl. So wie beim Eurovision Song Contest 2011, als das deutsche Fernsehvolk bei der Vorauswahl zwischen zwölf verschiedenen Songs von Lena Meyer-Landrut wählen durfte.

Die derzeitigen Strukturen diskriminieren auch kleine Parteien. Bürger wählen nicht, was sie eigentlich wählen wollen; sie suchen sich aus dem Pool derer, die „sowieso ins Parlament kommen“ das kleinste Übel aus. Wer aber das kleinere Übel wählt, wählt ein Übel. Eigentlich sind unsere Stimmen dafür zu schade, ist die Lage auch zu ernst. Aber wer bei der Wahl unverdrossen seiner Gesinnung folgt, hat bald das Gefühl, gegen Windmühlen anzurennen. Die undemokratische 5-Prozent-Hürde entmutigt Partei-Neugründungen, erschwert deren Finanzierung und behindert den Zustrom kompetenten Personals. Sie bringt kleinere Parteien in den Medien fast zum Verschwinden und versteckt kreative Ideen vor dem Volk.

Monika Herz musste während ihres „Wahlkampfs“ erleben, dass nicht nur Mainstream-Medien keine Notiz von ihr nahmen. Auch „alternative“ Foren blieben ihr verschlossen. Bei einer Podiumsdiskussion des Netzwerks Attac wurde sie ausgeladen bzw. durfte nur aus dem Publikum Fragen stellen. Auf dem Podium thronte eine „Anne-Will-Runde“ aus CSU, SPD, FDP, Grünen und Linken. Wie Einzelkandidatin Monika mussten auch seriöse Splitterparteien wie die Ökologisch Demokratische Partei oder die Piratenpartei draußen bleiben. Begründung: Es würde zu viel Zeit brauchen, würde man auch noch die „Kleinen“ zu Wort kommen lassen. Die frustrierende Erfahrung: Selbst Systemkritiker beteiligen sich willfährig an der Diskriminierung kleiner Parteien und unabhängiger Kandidaten. Sie alle spielen das Spiel der Großen mit.

Dabei war die Aktion „Bundestagskandidatur“ nicht Monika Herz erster Versuch, sich direkt in die Politik einzumischen. Von 1985 bis 1987 war sie Mitglied bei den Grünen. Diese Phase fand jäh ein Ende, als die Grünen aufhörten, sie selbst zu sein. Nach einem politischen Flirt mit den Linken trat Monika 2008 in die Partei „Die Violetten“ ein. Diese Partei schien alles zu verkörpern, was ihr wichtig war. Die „richtige“ Einstellung gegenüber Geld und Macht wie auch eine tiefenökologische und spirituelle Grundhaltung. Leider kam es schon bald zum Streit mit den Partei-Oberen, die ihr verbieten wollten, eigenwillige Statements im Namen der Violetten abzugeben. Auch in dieser jungen Partei nahm sich eine Führungsclique heraus, zu bestimmen, was als violett zu gelten hatte. Braucht es neue Parteien, wenn dort in kurzer Zeit die Unsitten der alten einreißen?

Die Parteienverdrossenheit der Bürger gebar in den letzten Jahren viele freie Wählervereinigungen. So konnten die Freien Wähler (FW) in Bayern 2008 mit 10,2 Prozent in den Landtag einziehen. Die Stimmen der Freien Wähler waren überwiegend „Fleisch vom Fleisch“ der CSU, ihre Konzepte wertkonservativ und pragmatisch. Grundsätzliche Systemkritik und visionäre Ansätze sind von solchen Gruppen nicht zu erwarten, zumal sie ihren Schwerpunkt in der Regionalpolitik sehen. Vielen freien Wählervereinigungen geht es eher um bessere Musik für die Titanic-Bordkapelle, während das Schiff weiter auf den Eisberg zurast..

Nie zuvor waren so viele unabhängige Kandidaten zu einer Wahl angetreten wie 2009. Monika Herz lag damals also im Trend. Verständlicherweise verflog die mit der „Kandidatenschwemme“ verbundene Euphorie bei so wenig Erfolg schnell. Suchen Sie mal am 24. September auf Ihrem Wahlzettel einen unabhängigen Kandidaten oder eine Kandidatin. Die „Welle“ ist mangels Erfolg abgeebbt. Es ist traurig, dass engagierten Menschen wie Monika Herz der Weg zu demokratischem Einfluss verstellt wird. Die Entmutigungsmaschinerie der Demokratie verschleißt ein unschätzbares kreatives Potenzial. Strukturen sollten zum Engagement einladen und die besten Kräfte zum Gemeinwohl hinlenken. Wir Normalbürger werden gern aufgerufen, „im Kleinen etwas zu bewirken“ oder „die Macht des Konsumenten“ durch Kauf von Bio-Trockenmangos auszuagieren. Dies erscheint aber eher als Trostpreis für jene, die man systematisch von wirklichen Gestaltungsmöglichkeiten fernhält.

Wie kann man Machtbarrieren durchbrechen, ohne sich denen anzugleichen, gegen die man angetreten ist? Gibt es einen dritten Weg zwischen der Wahl von „kleineren Übeln“ und der totalen Resignation? Vorerst ist die „Linke“ für viele von uns noch eine praktikable, nicht ganz so aussichtslose Alternative. Erfahrungen in Thüringen und Berlin zeigen aber, dass sich auch dieser Aufbruchsimpuls an einer inszenierten Realität zu Realpolitik abschleift. Ein tief greifender Bewusstseinswandel müsste neue Parteien und auch neue demokratische Strukturen gebären – und den Mut sowie das Geschick, diesen auch Geltung zu verschaffen. Es wäre eine Revolution in der politischen Landschaft. Nicht weniger als eine Revolution bräuchten wir aber, um die verkrusteten Strukturen aufzubrechen. Das Wort „Reform“ kann sowieso schon niemand mehr hören.

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