#Aufstehen muss nachsitzen!

 In FEATURED, Politik (Inland), Roland Rottenfußer

Gerold Althaus ist kein Linker, eher im Gegenteil. Trotzdem liebt der AfD-Unterstützer Sahra Wagenknecht. „Ich tue dies aus strategischen Gründen“ gestand er in seinem Blog „Blaue Narzisse“.

„Die AfD-Mitglieder mögen es mir verzeihen, aber mein Ziel als politischer Akteur ist nicht, Weidel, Gauland oder Höcke an die Macht zu bringen. Mein Ziel im rechten Lager ist es, die Positionen, die die AfD vertritt, zur Staatspolitik zu machen.“

Manche Wähler, so Althaus, würden nun mal bedauerlicherweise nicht rechts wählen. „Genau für die ist Sahra Wagenknechts ‚Aufstehen‘ gedacht: Das linke Lager zurück zu seinen traditionellen Positionen zu bringen und dies fern von Multikulti und Globalismus.“ Zwar stimme er nicht in allem mit Wagenknecht überein. „Aber es sind genau solche Arten von Bewegungen und Persönlichkeiten, die einen politischen Wandel katalysieren können.“

Statt einer Vereinigung des linken Lagers prognostiziert der Autor „eine weitere Zersplitterung, was jedoch auch zu unseren Gunsten sein wird.“ Je mehr die politische Normalität gebrochen werde, meint Althaus, „desto mehr Menschen ändern ihr politisches Denken. Der Wandel wird sich dann zwangsläufig zugunsten der AfD vollziehen.“ Zuletzt fordert er seine Leser offen auf, sich bei #Aufsehen als Unterstützer registrieren zu lassen.

Zusammenfassend kann man über diesen Artikel sagen:

  1. Der Autor wünscht einen verschärften Rechtsruck.
  2. Er will aber nicht unbedingt von den Protagonisten der AfD regiert werden, weil er wohl selbst ahnt, dass sie nicht viel taugen.
  3. Wichtiger ist ihm, dass sich rechtes Gedankengut in anderen Parteien ausbreitet, von dort aus den Zeitgeist prägt und zum Regierungshandeln wird. Es ist egal, ob Rechte an der Regierung sind, solange rechte Gedanken regieren.
  4. Zu diesem Zweck eignen sich Persönlichkeiten wie Sahra Wagenknecht ideal. Sie ebnen der AfD den Weg und helfen, die Linke zu spalten und zu schwächen.

Lockruf der AfD

Selbstverständlich wäre es unfair, eine Bewegung nur danach zu beurteilen, dass sie „Applaus von der falschen Seite“ bekommt. Der Applaudierende könnte ja etwas missverstanden haben. Dennoch häufen sich bei Wagenknecht Liebesbekundungen von rechts in auffälliger Weise. Der AfD-Vorsitzende Gauland pries Wagenknecht „als Politikerin, die in der Lage sei, die linken Scheuklappen abzulegen und jenseits von Pathos und Ideologie die tatsächlichen Sorgen und Nöte breiter Schichten des Volkes zu identifizieren“. Der Chef der AfD-Fraktion im Landtag von Sachsen-Anhalt, André Poggenburg, turtelte gar: „Frau Wagenknecht, kommen Sie zur AfD.“

Natürlich wird Sahra Wagenknecht dem Lockruf nicht folgen, und in genügend Äußerungen grenzt sie sich ausreichend von der AfD ab. Hier geht es mir jedoch nicht darum, ein Verbot von #Aufstehen zu fordern oder die Bewegung als ganz und gar verwerflich zu beschreiben. Vielmehr will ich begründete Zweifel anmelden und davor warnen, sich #Aufstehen mit Haut und Haaren zu verschreiben. Zumindest hat es Irritationen gegeben, die aus dem Weg geräumt werden müssen, bevor ich Hosianna-Gesänge anstimme.

Den Flirtversuchen von Rechts steht nämlich ein anderes verbreitetes Phänomen gegenüber: Menschen sind enttäuscht von Sahra Wagenknecht. Selbst solche, die ihren wirklich erstklassigen Parlamentsreden und Talkshow-Auftritten über Jahre begeistert gelauscht haben, wenden sich von ihr ab. Und zwar speziell in jenen Kreisen, die weltoffen und anti-nationalistisch denken und sich für eine humane Flüchtlingspolitik einsetzen.

Konstantin Wecker etwa unterschrieb den Gründungsaufruf von #Aufsehen bewusst nicht. Der Grund: er wolle als Künstler unabhängig bleiben und sich weiter für eine grenzenlose Welt einsetzen. Ein Autor der Webseite Hinter den Schlagzeilen warf Wagenknecht vor, mit ihrem moderaten ersten Aufruf Menschen angelockt zu haben, und sich im zweiten Schritt dann so deutlich rechts zu positionieren, dass sich viele, die unterschrieben hatten, blamiert und hinters Licht geführt sahen. Ein Freund von mir, der Sahra über Jahre quasi als politischer Fan begleitet hatte, wandte sich von ihr ab und schrieb mir eine Mail mit dem Betreff: „Abschied von Sahra“. Und schließlich gehöre auch ich selbst zu den Enttäuschten.

Weltoffene Menschen wenden sich ab

Vielleicht hat Wagenknecht rechts so viele (oder mehr) Menschen gewonnen, wie sie links verloren hat – nur um welchen Preis? Und hat sie einen guten Tausch gemacht?

In seinem Artikel „Aufstehen? – Ja, aber mit dem richtigen Fuß“ billigt Holdger Platta der Bewegung viele gute Ansätze zu. Der Teufel steckt für ihn aber in den Details.

Besonders fragwürdig sind für ihn zwei Passagen eines Artikels, den Wagenknecht zusammen mit ihrem Mitstreiter, dem Dramaturgen Bernd Stegemann, am 7. August in der Nordwest-Zeitung, Oldenburg, veröffentlicht hat:

„Die politisch sinnvolle Grenze verläuft nicht zwischen den Ressentiments der AfD und der allgemeinen Moral einer grenzenlosen Willkommenskultur. Eine realistische linke Politik lehnt beide Maximalforderungen ab.“

Damit nimmt sie eine falsche Äquidistanz zwischen den Positionen der fremdenfeindlichen Rechtspopulisten und den Exponenten einer humanen Willkommenskultur ein.

Und dann noch ihr erschreckend biederer und uneinsichtiger Satz:

„Und zugleich lässt sie [die realistische linke Politik] sich nicht von kriminellen Schlepperbanden vorschreiben, welche Menschen auf illegalen Wegen nach Europa gelangen.“

Dies wirft mindestens zwei Fragen auf: 1. Welche legalen Wege nach Europa gibt es überhaupt noch? Und 2. Wollen wir illegal zu uns Gekommene wirklich verhungern oder ertrinken lassen beziehungsweise sie in Länder zurückschicken, in denen ihnen Hunger, Krieg und Folter drohen? Diese Art von „Realismus“, der sich eher überfliegerhaft-rational gebärdet und sich von den Impulsen unmittelbarer Menschlichkeit abgekoppelt hat, kennen wir von den Vertretern der „Altparteien“ leider zu Genüge.

Schreckgespenst „Offene Grenzen“

Das, was von vielen als Rechtsruck Wagenknechts wahrgenommen wurde, trat in eine neue Phase, als sie ihre Teilnahme an der #Unteilbar-Demonstration am 13. Oktober in Berlin absagte. Es sei „absolut richtig, wenn viele Leute gegen Rassismus und Rechtsentwicklung auf die Straße gehen“, räumte die Linken-Fraktionschefin zwar ein. Aber ihre Einwände gegen einen einzigen Punkt waren denn doch stärker als ihre Zustimmung zum Ganzen. Die Forderung nach „offenen Grenzen für alle“ sei in dem Demonstrationsaufruf die „bestimmende Position“.

Einmal abgesehen davon, dass man „offene Grenzen“ auch als liebenswerte Utopie verstehen kann und nicht unbedingt als Schreckgespenst – es stimmte einfach nicht, dass die Veranstalter der Demonstration dies gefordert hatten. Der Sozialwissenschaftler Franz Segbers hielt Wagenknecht entgegen: „Von offenen Grenzen ist im Aufruf gar keine Rede. Es wird ein Vorwurf erhoben, der überhaupt nicht mit der Sachlage übereinstimmt.“

Warum also die Zurückhaltung Wagenknechts, die beanspruchte, für das ganze #Aufstehen-Bündnis zu sprechen? Wir alle haben ja Erfahrung damit, dass der Vorwurf, „rechts“ zu sein oft ein unfaires Mittel ist, um radikale Gegner des neoliberalen und bellizistischen Mainstreams auszuschalten. Dahinter könnte also eine organisierte Schmutzkampagne stecken. Aber wenn das wahr wäre, warum liefert Wagenknecht ihren Gegnern die Munition dann permanent auf dem Silbertablett? Warum hat sie nicht die Chance ergriffen, mit ihrer Teilnahme an #Unteilbar, dass sie trotz Meinungsverschiedenheiten im Einzelnen im Zweifel gegen Rechts und für Toleranz „aufsteht“?

Der Rechtsruck – eine Frage des „Milieus“?

Ein Grund dafür besteht wahrscheinlich in ihrer Fixierung auf die Idee, AfD-Wähler für sich zu gewinnen. Wie andere Exponenten des politisch rechtsoffenen Milieus interpretiert Sahra Wagenknecht die grassierende Fremdenfeindlichkeit vor allem als Milieu-Frage. So sagte sie anlässlich von #Unteilbar: „Es ist ein bestimmtes Milieu, was dort demonstriert, und es ist ein anderes, was man dort nicht finden kann.“

Mit „anderes“ Milieu meint sie wohl Arbeiter und Prekäre, die überwiegend im Osten der Republik angesiedelt sind und die die Last der Konkurrenz mit Zuwanderern auf dem Miet- und Arbeitsmarkt im Besonderen tragen.

Mit dem „bestimmten Milieu“ ist eine überwiegend westdeutsche Bourgeoisie gemeint, der man ihre „Überheblichkeit“, ihre urbane Herkunft, ihre Multi-Kulti-Geilheit, Yoga-Matten, SUV-Wägen, den Konsum von Latte Macchiato, Bionade, Tofu, Smoothies und Rucola vorwirft.

Die Liste der Klischees, die gegen dieses unliebsame Milieu in der einschlägigen Literatur zu finden ist, wird immer länger. Hilfreich sind solche Grenzziehungen nicht. Sie sind oft falsch, zum Beispiel entstammen die rechten Demonstranten von Chemnitz ja nicht einem „ruralen“ Milieu, und immer verallgemeinernd. Sie sind in ihrer Tendenz feindselig gegenüber Intellektuellen und weltoffenen Menschen und verurteilt Angehörige dieser „Kreise“, die ja sicher ihre Marotten haben, aus den falschen Gründen – wegen ihres ökologischen und gesundheitsbewussten Lebensstils. Wegen eines relativen Wohlstands, der ja nicht in jedem Fall unverdient ist. Oder weil sich diese Kreise zumindest bemühen, in Zuwanderern zunächst einmal Menschen zu sehen. Es gibt in der Anti-Bourgeoisie-Debatte auch eine merkwürdige Aversion gegen jede Art von ethischem Handeln, eine posthumanistische Schnoddrigkeit, die den Versuch, sich menschlich anständig zu verhalten, stets mit Häme und Ironie quittiert.

Müssen Arme fremdenfeindlich sein?

Wagenknecht jedenfalls scheint ganz verliebt in das „bestimmte Milieu“, welches ihrer Ansicht nach niemals zu einer Demonstration gegen Rassismus gehen würde. Sie scheint es geradezu als ihre Pflicht anzusehen, jenes Milieu in besonderer Weise zu umwerben. So spricht sie von „Überheblichkeit“ der Bürgerlichen gegenüber den so genannten Unterschichten. „In Teilen dieses Milieus gehört eine unterschwellige Verachtung der ‚Unterschicht‘ inzwischen zum guten Ton“, sagt sie in einem Interview mit Jakob Augstein im „Freitag“. Weite Teile der Linken, so Wagenknecht, pflegten „ihr gutes Gefühl in einer Willkommenskultur, um dann die realen Verteilungskämpfe in ein Milieu zu verbannen, das sich weit weg vom eigenen Leben befindet.“

Sicher hat sie da teilweise Recht. Es gibt solche Grünen- und Linken-Wähler in den Villenvierteln, die unbegrenzten Flüchtlings-Zuzug herbeireden – wohl wissend, dass sie in ihrer Straße nur selten konkret mit dem Anblick von Zuwanderern konfrontiert sein werden. Aber ist es fair, den Wunsch Notleidenden zu helfen, allein darauf zurückzuführen, dass der Helfer „sich gut fühlen“ möchte? Der Vorwurf, die Willkommenskultur sei „moralbesoffen“, ist ein typisch neurechtes Diffamierungsmuster.

Ich selbst lebe in einem Gebiet mit hohem Ausländeranteil, und ich komme gut zurecht. Eher amüsiert nehme ich immer wieder mal zur Kenntnis, dass Rechtslastige mir vorwerfen, ich hätte von „der Realität“ keine Ahnung. Ein Bekannter, Hartz-IV-Empfänger, erzählte mir, er habe Geld für Notleidende in Griechenland gespendet und versicherte, ihn störe der Flüchtlingszuzug kein bisschen. Das seien noch ärmere Schweine als er es ist, sagte er, und er gönne ihnen jede Hilfe. Ein anderer Hartz-IV-Betroffener aus meinem Bekanntenkreis hat Flüchtlingen ehrenamtlich Unterricht gegeben, und eine Frau in prekären Verhältnissen hat mit Zuwanderern einen Gemüsegarten angelegt.

Warum ich das alles erzähle?

Ich leugne entschieden, dass eine rechte, fremdenfeindliche Weltanschauung die unvermeidliche Folge der Zugehörigkeit zu einem bestimmten „Milieu“ ist. Es stimmt nicht, dass man Fremde ablehnen muss, weil es einem selbst schlecht geht.

Die Verantwortung für ihr fragwürdiges Reden und Handeln können die Betreffenden nicht auf eine wie immer geartete Naturgesetzlichkeit abwälzen. Wagenknecht schürt mit ihren wiederholten, sehr verkürzenden Darstellungen Ressentiments gegen bürgerlich-weltoffene Menschen, um dann zu behaupten, sie müsse mit ihrer Politik einer antiliberalen Stimmung Rechnung tragen.

Angst vor der Zerstörung des Vertrauten

Der treue Wagenknecht-Anhänger Albrecht Müller hat ein für mich anrührendes Plädoyer veröffentlicht, für die „Abgehängten“, die die Linken-Fraktionschefin mit ihrem Kurs wohl ansprechen möchte. „Akzeptieren wir, dass es Menschen unter uns gibt, die ihre – aus mancher Sicht kleine, begrenzte – Welt erhalten wollen“, schreibt Müller in den Nachdenkseiten.

„Es ist aus der Sicht der Weltbürger, aus der Sicht der Menschen aus dem urbanen bunten Milieu eine provinzielle Welt. Wenn wir aber deren Lebensgefühl und ihre Vorstellung von ihrem Umfeld nicht als möglich betrachten und stattdessen als fremdenfeindlich, intolerant, verschlossen, eben Ausdruck des Gegenteils einer offenen Gesellschaft bezeichnen und brandmarken, dann diffamieren wir diese Menschen.“

Ich selbst kann mit der Geschwindigkeit der Veränderung in unserer Welt oft seelisch nicht Schritt halten und sehne mich dann nach der Bewahrung der mir vertrauten Welt. Der rasante Wandel unseres Lebensumfelds vollzieht sich jedoch auf verschiedenen Feldern. Der Zuzug von Menschen, die nicht dem „christlichen Abendland“ entstammen, ist nur eines davon. Ein anderes ist der beschleunigte technische Fortschritt, der uns binnen kurzem als Fremde und Inkompetente inmitten eines uns überrollenden Digitalisierungswahns dastehen lässt. Weitere Themenfelder sind die fortschreitende Naturzerstörung, die „Liberalisierung“ der Arbeitsmärkte, ist die Prekarisierung immer breiterer Schichten, sind Sozial- und Bürgerrechtsabbau und vieles mehr. Wer als „Konservativer“ zu all diesen Themen schweigt und immer nur dann aufschreit, wenn es um „Ausländer“ oder „den Islam“ geht, der muss es sich schon gefallen lassen, der Fremdenfeindlichkeit verdächtigt zu werden.

Müller und Wagenknecht haben einen Teil der Wahrheit erkannt, ich möchte das gar nicht leugnen. Sie entlassen die zuwanderungsskeptischen „Milieus“ aber zu leichtfertig aus ihrer humanen Verantwortung. Ja, sie sprechen ihnen indirekt sogar die Möglichkeit ab, durch Nachdenken und Empathie über xenophobe Reflexe hinauszuwachsen. Wenn Müller etwa in der Überschrift seines Artikels schreibt: „‘Unteilbar‘ treibt im Konflikt mit ‚aufstehen‘ den Rechten die Lämmer in den Stall“, dann erscheinen die AfD-Sympathisanten nur noch als passiv Getriebene, nicht mehr als aktiv Handelnde.

Minderheitenschutz und Sozialpolitik gehören zusammen

Die Fairness gebietet es, anzuerkennen, dass Wagenknecht mit #Aufstehen vieles treffend analysiert hat und mitnichten pauschal als Rechte beschimpft werden darf. So macht sie im Interview mit Jakob Augstein klar, dass die Nation für sie kein mythisch überhöhter Fetisch ist, sondern schlicht dasjenige organisatorische Gebilde, von dem aus man sich gegen negative Globalisierungsfolgen am ehesten zur Wehr setzen kann:

„Es geht nicht um die Nation. Es geht darum, dass es außer- oder oberhalb der Staaten keine institutionellen Voraussetzungen für Demokratie und soziale Sicherheitssysteme gibt. Nur die Staaten können, wenn sie denn wollen, den Kapitalismus wieder bändigen.“

Nachvollziehbar ist auch ihre Beobachtung:

„Wer für Antidiskriminierung, Antirassismus und Feminismus kämpft, kann die soziale Frage nicht ausklammern. Oder der ganze Kampf wird hohl und diskreditiert sich in den Augen der Ärmeren (…) Darum müssen auf die Globalisierungsverlierer zugehen, die Ärmeren, die Frustrierten, die sich aus gutem Grund im Stich gelassen fühlen.“

Diese Sozialblindheit der grünliberalen, „fremdenfreundlichen“ Milieus gibt es ohne Frage. Der derzeit grassierende Grünenhype fördert ihn wieder einmal zutage.

Als Sozialistin sollte Wagenknecht jedoch der Wert unteilbarer internationaler Solidarität ein Begriff sein. Sie müsste die „nationale Frage“, diese unselige Spaltung zwischen „uns hier drinnen“ und „denen da draußen“ wieder radikal zurückführen auf die Klassenfrage. Sie müsste klarstellen, dass es falsch ist, Arme gegen andere Minderheiten auszuspielen und auch nur einer der fraglichen Gruppierungen unsere Solidarität zu verweigern.

Niemand hat etwas gegen frustrierte, aufbegehrende „Verlierer“. Meine Kritik setzt nur da an, wenn sich bei Menschen das Gefühl, verloren zu haben, in giftiges Ressentiment gegen jene verwandelt, denen es noch schlechter geht. Wenn die soziale Spaltung in eine falsche ethnische Spaltung umgewidmet wird. Wenn aus Leidensgenossen anderer Kulturen und Hautfarben Hassobjekte werden. Dieses mentale „Manöver“ ist ohne jeden Sinn und Verstand. Es spielt jenen in die Hände, die unsere Gesellschaft in „arm/einheimisch“ und „arm/fremd“ spalten wollen, damit sich beide Lager im Kampf gegeneinander aufreiben, anstatt sich gegen ihre gemeinsamen Unterdrücker zu erheben.

Ein solcher hellsichtiger, solidarischer Internationalismus stünde einer klugen linken Politikerin gut an. Das würde auch bedeuten, den anvisierten „Milieus“ ihre Xenophobie mit guten Argumenten auszureden, anstatt sie zu hätscheln und auch noch gegen die Weltoffeneren unter ihren Brüdern und Schwestern aufzuhetzen. Natürlich dürfen ärmere und bildungsferne „Schichten“ nicht verachtet und – wie es Sigmar Gabriel leider getan hat – als „Pack“ beleidigt werden. Sie müssen geduldig zurückgewonnen werden. Aber man kann vernünftige und menschliche Politikansätze nur anbieten und zu erklären versuchen. Wenn jemand partout nicht verstehen kann oder will, führt es zu nichts Gutem, die eigene richtige Weltsicht seiner falschen anzugleichen. Es ist schön, wenn es gelingt, Einsicht zu verbreiten; notfalls müssen Uneinsichtige jedoch überstimmt und zurückgedrängt werden.

Die strategischen Fehler von #Aufstehen

Es ist sicher nachvollziehbar, dass das prominenteste Ehepaar der Linkspartei der AfD Wähler abluchsen will. Die Alternative, sie bei der AfD zu belassen, wäre riskant. Die Rechtstendenzen, die bei Wagenknecht und Lafontaine festzustellen sind, haben dennoch gravierende Nachteile.

– Ein Teil derer, die aus dem öffentlichen Wirken der beiden bisher politische Hoffnung geschöpft haben, ist jetzt quasi politisch heimatlos geworden. Wagenknecht war nicht irgendeine Linke, sie war eine der besten – nicht nur rhetorisch, sondern auch politisch, weil sie sich der Kriegspolitik und dem Neoliberalismus unbeugsamer widersetzt hat als etwa der „Kipping-Flügel“. Wer Wagenknechts Kotau vor dem rechten Zeitgeist nicht mitvollziehen will, landet jetzt vielleicht im politischen Nirgendwo, reagiert mit Verbitterung und Entpolitisierung. Für ihn existiert keine konsequent pazifistische, soziale und weltoffene Linke mehr.

– Die Zerrissenheit, die die Linke als Ganzes in der Flüchtlingspolitik zeigt, lässt einen Ladenhüter der deutschen Parteiengeschichte wieder attraktiv erscheinen: die Grünen. Das ist eine politische Katastrophe, weil die jetzigen Grünen bezüglich Kriegs- und Sozialpolitik nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems sind. Wackelt jedoch ein maßgeblicher Teil der Linken im Kampf gegen den Rechtsruck, könnte Menschen, denen eine humane Flüchtlingspolitik wichtig ist, die Grünen als das kleinere Übel erscheinen.

– Wagenknecht kann nach ihrer Absage der „Unteilbar“-Demonstration nicht mehr für sich beanspruchen, öffentlich für die gesamte Linke zu sprechen. Dies bestätigte unter anderem die Vize-Fraktionsvorsitzende der Linken, Caren Lav:

„Es ist völlig unglaubwürdig, wenn ‚Aufstehen‘ vorgibt, den Rechtsruck zu bekämpfen, sich aber an der großen antirassistischen Demo nicht beteiligen will. Die Linke und die Linksfraktion unterstützen #unteilbar mit aller Kraft“.

Der Linken-Außenpolitiker Stefan Liebich meint, mit ihren Aussagen zu #unteilbar habe Wagenknecht „eine Grenze überschritten“. Und weiter: „Auf Dauer wird die Fraktion nicht akzeptieren, dass die Fraktionsvorsitzende eine andere Politik in einem wichtigen Punkt vertritt.“ Ganz unabhängig davon, welche Seite „Recht hat“, könnte folgendes passieren: Wagenknecht, eine politisch Hochbegabte, würde fast völlig von der öffentlichen Bühne verschwinden. Sie würde ihr Amt als Fraktionsvorsitzende verlieren und in der politischen Landschaft nur noch als Ex-Prominente herumgeistern wie derzeit Frauke Petry. Eine gewaltige Verschwendung von politischem Talent. Wagenknecht hätte sich quasi heldinnenhaft für die falsche Sache geopfert.

– Manche Äußerungen Wagenknechts in letzter Zeit erscheinen so befremdlich, dass man sich fragt: Kann sie das ernst meinen? Was bedeutet es aber, wenn sie es nicht ernst meint? Sahra Wagenknecht sagt ja deutlich, dass ihre Annäherung an die AfD-Wählerschaft strategischer Natur ist. Das Ziel der Strategie mag gut sein, die Mittel nehmen jedoch manche als unsauber wahr. Manchen könnte die „ehrlich“ rechte Avantgarde dann lieber sein als deren halbherzige linke Nachhut. Von einer solchen könnten sich Rechte manipuliert und Linke verraten fühlen.

– Es ist ohnehin schwer genug, auf einen Regierungswechsel zusammen mit zutiefst systemangepassten Sozialdemokraten und Grünen hinzuarbeiten. Denn im „Ernstfall“ wird es Wagenknecht dann nicht mehr mit Ludger Volmer und Simone Lange zu tun haben, sondern mit Menschen, die das neoliberale Spiel viel zu lange mitgespielt hatten. Umso problematischer finde ich, in dieses schwierige Meinungskonglomerat auch noch Elemente der AfD-Mentalität zu integrieren. Wie Wagenknecht einen Machtwechsel mit Hilfe der Grünen vollziehen will, ohne dabei die AfD-„Milieus“ abzuschrecken, muss sie erst einmal erklären.

Wagenknecht muss sich besinnen

Dabei ist es noch nicht zu spät für eine Umkehr. Die Rechtstendenzen bei #Aufstehen sind überwiegend eine Marotte von Wagenknecht und Lafontaine. Die meisten anderen Mitglieder der Bewegung, auch jene die von den Grünen und der SPD dazugekommen sind, scheinen darauf keinen großen Wert zu legen. Etliche sind auf die „Unteilbar“-Demonstration gegangen, etwa Ludger Volmer, der sogar angab, die meisten #Aufstehen-Mitglieder stünden der Demo positiv gegenüber.

Wagenknecht könnte ihren Flirt mit Rechts erstens stillschweigend sterben lassen, indem sie ihm keine weitere Nahrung mehr gibt. Sie könnte den Brand ohne Wasser löschen, indem sie schlicht keine rhetorischen Scheite mehr nachlegt. Ehrlicher und klarer wäre aber, wenn sie zweitens zugäbe, dass sie einen Fehler gemacht hat. Schließlich könnte sie drittens bei ihrer bisherigen Meinung bleiben, jedoch nicht mehr als die zentrale und in der öffentlichen Wahrnehmung fast alleinige Führungspersönlichkeit „ihrer“ Bewegung auftreten.

Ohnehin wird an der Basis von #Aufstehen vielfach ein autoritärer und undemokratischer Arbeitsstil beklagt. Ein internes Arbeitspapier thematisiert sehr unterschiedliche Meinungen innerhalb der Bewegung. „Welche Kampagnen am besten sind, sollen wir besser nicht im geschlossenen Hinterzimmer festlegen, sondern gemeinsam mit allen Unterstützern“, schrieb der Autor des Papiers.

„Wir brauchen dringend eine andere Kultur als die Parteien. Schon jetzt leider rutschen Aufstehen-Veranstaltungen in das gewöhnte Muster von Rednerlisten, Redebeiträgen, Debatten usw. (…) Dies verschreckt genau die Menschen, die wir unbedingt gewinnen müssen.“

Wagenknecht sollte also entweder zurückrudern oder sich stärker zurückziehen und ihrem und Oskars gemeinsamen „Kind“ gestatten, frühzeitig erwachsen zu werden. Sie würde damit auch den Wohlmeinenden unter ihren Anhängern einen großen Gefallen tun.

Rechte bekämpfen, indem man selbst rechts wird?

Ernst Florian Kirner etwa outete sich im Rubikon als aktives Mitglied von #Aufstehen. Er übte hier und da sehr differenziert Kritik und vermisste vor allem zwei Dinge: zu wenig „Bewegung“ in der Bewegung und das Fehlen eines gut ausgearbeiteten ökologischen Programms. Beides stimmt. Diesen zwei Punkten auf der Agenda müsste aber dringend ein dritter hinzugefügt werden: ein Abrücken von übertriebener AfD-Versteherei. Der Abschied von solchen Anfängerfehlern der Bewegung muss von all jenen gefordert und vorangetrieben werden, die nicht wegen, sondern trotz dieser Rechtstendenzen beigetreten sind.

Sahra Wagenknecht ist dabei, in eine Falle zu laufen. Sie möchte AfD-Wähler für sich gewinnen; teilweise sieht es aber so aus, als hätte die AfD sie gewonnen. Deshalb konnte sie die Unteilbar-Demonstration auch nicht spontan und mit ganzem Herzen bejahen. Ich sage das gewiss nicht gern, wenn ich wiederhole: Wagenknecht war – und ist teilweise noch – eine der besten Berufspolitikerinnen, Debattenrednerinnen und Talkshow-Matadorinnen, die Deutschland hat. Wenn sie verloren geht, geht nichts Geringes verloren.

Sahra Wagenknecht ist keine Rassistin, kein Nazi, noch nicht einmal eine Nationalistin. Wagenknecht ist keine zentrale Figur des Rechtsrucks, aber sie hat Anteil an ihm. Sie verbohrt sich mit nur partieller Hellsichtigkeit in Halbwahrheiten und wird so Teil eines posthumanistischen Zeitgeists, der sich leider derzeit global ausbreitet und dem man gerade wegen seiner momentanen Stärke keinen Fußbreit Boden überlassen sollte. Ein gutes Beispiel für brillant vorgetragene Halbwahrheit ist ihr Interview mit der Welt.

Darin sagt sie unter anderem

„Auch die Aggressivität, mit der progressive liberale Werte heute wieder in Teilen der Gesellschaft abgelehnt werden, dürfte ihren wichtigsten Grund darin haben, dass die Betroffenen diese Werte schlicht als Teil eines politischen Pakets empfinden, dessen wirtschaftsliberale Komponente ihren Lebensstandard bedroht. Für sie sind Minderheitenrechte und Antidiskriminierungspolitik heuchlerische Facetten eines politischen Programms, das sich als edel, hilfreich, solidarisch und gut inszeniert, obschon seine Protagonisten ihrem Wunsch nach einem Leben in bescheidenem, halbwegs gesichertem Wohlstand seit jeher mit völliger Gleichgültigkeit, ja Verachtung begegnen.“

Nicht das Kind mit dem Bade ausschütten!

Die Analyse ist zum großen Teil richtig, die Schlussfolgerungen Wagenknechts sind es jedoch nicht. Gewiss gibt es ein sozial blindes Besserverdiener-Milieu, das sich in besonderer Weise für „Ausländer“-Integration und Minderheitenrechte einsetzt und die Probleme der einheimischen Mehrheit nicht sehen will. Warum aber das Kind mit dem Bade ausschütten? Warum den konstruktiven, humanen Liberalismus zusammen mit seiner destruktiven Verfallsform, dem Neoliberalismus verwerfen? Warum Flüchtlingen die Hilfe verweigern, weil man manche der Helfer für unglaubwürdig hält? Warum sich als Opfer der neoliberalen Globalisierung der zutiefst kapitalismusfreundlichen AfD in die Arme werfen?

Eine verantwortungsbewusste linke Politik müsste versuchen, diese Zusammenhänge aufzudecken und den nach rechts Tendierenden ihre falschen Ideen auszureden.

Der Respekt vor Frauen, Homosexuellen, Behinderten und Zugewanderten ist nicht deshalb falsch, weil solche liberalen Einstellungen teilweise auch von Menschen vertreten werden, die eine kapitalistische Wirtschaftsweise präferieren. Den Kampf gegen Diskriminierung, egal welcher Art, müssen wir unter Einsatz all unserer Kraft und Menschlichkeit weiterführen.

Wer selbst als Wenigverdiener oder Hartz-IV-Betroffener Opfer von Diskriminierung geworden ist, sollte das am besten wissen.

Schließlich geht es bei dieser notwendigen Entscheidung auch um die Zukunft von #Aufstehen selbst. Wenn mich nicht alles täuscht, ist der anfängliche Schwung schon abgeebbt, sind die Protagonisten teilweise uneins, spielt die Bewegung in der öffentlichen Wahrnehmung angesichts des Theaters, das die Medien derzeit um Union, SPD und Grüne veranstalten, keine so große Rolle mehr wie anfangs. Ein Scheitern des Projekts wäre jammerschade, eine große verpasste Gelegenheit.

Nötig wäre jetzt – speziell von Sahra Wagenknecht – eine Richtigstellung zum partiellen Rechtsruck, ein klares Bekenntnis zu unteilbarer Humanität, die den Vorwurf der Naivität nicht scheut und eher auf den Applaus der Verhärteten verzichtet als auf die Liebe derjenigen, die ihre Hoffnung auf eine menschlichere Zukunft noch nicht auf dem Altar der „Realpolitik“ geopfert haben.

Wer dem rechten Zeitgeist widersteht, kann verlieren; wer nicht einmal versucht, ihm zu widerstehen, hat schon jetzt das Kostbarste verloren.

Wer das Liberale für das Soziale opfert, wird beides verlieren.

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