Das Flüstern des Windes im Schilf oder: Vom Nutzen des Nutzlosen

 In FEATURED, Kultur, Wirtschaft

Nur das Objekt von “Forstwirtschaft”? Gemälde: Caspar David Friedrich

“Eine eigenartige Ironie sorgt dafür, dass, sobald ein Nutzenkalkül ins Spiel kommt, genau das zerstört wird, was den Nutzen ausgemacht hat. Sobald man den Dingen wissenschaftlich auf den Leib rückt, zieht sich das Geheimnisvolle und Wunderbare zurück. Diesen für die Moderne kennzeichnenden Vorgang hat der Soziologe Max Weber die ‘Entzauberung der Welt’ genannt. Man versucht, alles zu vermessen, technisch zu beherrschen und sich dienstbar zu machen. Der Zauber des Waldes verfliegt, wenn man ihn auf Rezept aufsucht und mit einem festumrissenen ‘Um … zu’.” Der Autor übt in diesem glänzenden Essay Kritik an der Allgegenwart von Nützlichkeitserwägungen unter kapitalistischen Vorzeichen. Er ermutigt zu einem Leben und Lieben “ohne Warum”. (Götz Eisenberg)

„IWF WB GATT WTO NAFTA FTAA – ihre Akronyme kotzen Sprache, und was sie tun, erstickt die Welt.“

(John Berger: A und X)

 

Um nach Kommentaren zu meinem Text über die Russische Revolution zu schauen, scrollte ich dieser Tage durch den Blog Hinter den Schlagzeilen. Mein schweifender Blick blieb an einer Überschrift hängen, die Stille macht schlau lautete. In der Anmoderation des Artikels hieß es: „Stille ist eine knappe Ressource. Dabei beweisen Studien, dass Stille das Wachstum neuer Gehirnzellen und das Ruhezustandsnetzwerk im Gehirn anregt.“

Diese paar Zeilen genügten, um mich auf die Palme zu bringen. Allein das Wortungetüm „Ruhezustandsnetzwerk“ müsste ausreichen, einen halbwegs sensiblen Menschen in die Flucht zu schlagen. Was für eine verdinglichte Terminologie, was für ein grauenhafter ökonomistischer Neusprech, ärgerte ich mich, und las erst einmal nicht mehr weiter.

Semantische Rauchmelder

Es mag sein, dass im Industriezeitalter Braunkohle eine Ressource ist, aber doch nicht Stille! Als Amos Oz im Jahr 2014 den ersten Siegfried Lenz Preis erhielt, gab er der Süddeutschen Zeitung ein Interview, in dem er sagte: „Ich habe eine bestimmte Verantwortung für die Sprache. Wenn sie missbraucht wird, ist es meine Pflicht loszubrüllen. Ich reagiere wie ein Rauchmelder. Wenn Menschen als ‚unerwünschte Ausländer‘ bezeichnet werden oder als ‚Parasiten‘, muss ich Alarm schlagen. Denn eine enthumanisierte Sprache ist das erste Indiz für eine enthumanisierte Gesellschaft.“  Was Amos Oz hier im Hinblick auf Rassismus und Fremdenfeindlichkeit formuliert, gilt auch für das Eindringen ökonomischer Begriffe in die Sprache. Dabei geht es natürlich nicht nur um die Sprache, sondern vor allem um das von ihr Bezeichnete. Die Logik von Ware und Geld triumphiert in allen Bereichen, dringt in alle Poren der Gesellschaft bis in die alltägliche Lebensführung und intimen Binnenwelten der Menschen vor.

Hört man heutige Paare über ihre Beziehung streiten, so gewinnt man den Eindruck, als sei eine neue Art von informeller Börse entstanden, an der mit Gefühlswerten gehandelt wird. Diese Entwicklung begann, als wir das Wort Liebe durch das handschweißhemmende Wort Beziehung ersetzen. Wir scheuen offenbar die Aura alter Worte und ersetzen sie durch neutrale oder technizistische Begriffe, die Handhabbarkeit und Verfügung über das von ihnen Bezeichnete versprechen.

Heutige Beziehungskrisen, gern Crash genannt, haben meist mit der Enttäuschung zu tun, dass das eingesetzte Gefühls-Kapital nicht genügend Gewinn abgeworfen hat. Es geht um Input und Output und sich verzinsende Gefühlsinvestitionen. Dann fallen Sätze wie: „Ich habe so viel in dich investiert, und was habe ich zurückbekommen?“ Geht die Rechnung nicht auf, wird die freundschaftliche Zugewinngemeinschaft gekündigt und das Gefühlskapital woanders neu investiert. Konsequenterweise werden Liebesbeziehungen inzwischen über Tinder angebahnt und von Algorithmen gestiftet.

Der Terror der Nützlichkeit

Nichts entgeht der ökonomischen Verwurstungsmaschine. Ballett, Tanz, Theater, Sport und Spiel – nichts ist gefeit vor dem Einbezug in den Bereich der ökonomischen (Un-)Vernunft. Wenn ich im Gefängnis Geld benötigte für Sport- und Kulturprojekte, bekam ich zu hören: „Schreiben Sie mal einen Projektentwurf, in dem sie begründen, wozu das nutze ist!“ Ich weigerte mich und beharrte darauf, dass Sport und Kultur zu den Bereichen gehören, die ihren Zweck in sich selbst tragen. Ich habe meine Vorhaben dann mit Hilfe privater Spenden oder ganz ohne Geld durchgeführt und das funktionierte prima. Kulturelle, künstlerische, sportliche Aktivitäten wirken gerade deswegen, weil und wenn sie nichts bewirken wollen. Würde man den Teilnehmern einer Kochgruppe oder eines Sport-Projekts verkünden, sie würden beim gemeinsamen Herstellen einer Speise oder im gemeinsamen Spiel ihre „sozialen Kompetenzen“ und ihre „emotionale Intelligenz“ verbessern, würden sich diese Aktivitäten selbst um das Geheimnis ihrer Wirkung bringen. Schlüsselerlebnisse mit manchmal lebensverändernder Kraft sind gewissermaßen Gratisbeigaben von Aktivitäten, die kein „um … zu“ verfolgen, keinem ökonomischen Effizienz- oder pädagogisch-therapeutischen Nützlichkeits-Kalkül unterliegen. Ihr Zweck fällt mit ihrer Ausübung und der Befriedigung zusammen, die man bei ihrer Verrichtung empfindet – auch wenn sie Anstrengung und Mühe erfordern. Gerade das „macht“ manchmal etwas mit Menschen, was darauf verzichtet, etwas mit  ihnen „machen“ zu wollen.

Also: Stille ist Stille und diese sollte vor ihrer Indienstnahme geschützt werden. Sonst ist sie nicht mehr lange still. In Industriegesellschaften findet man sie gewöhnlich nur außerhalb der Städte, die zu Produktions- und Dienstleistungsstätten und zum Aufmarschgebiet der Waren geworden sind. Zum Beispiel im Wald. „Wald“ ist ja inzwischen in unseren Breitengraden ein Euphemismus; seit Jahrzehnten haben wir nur noch Forstwirtschaft. Wo Harvester wüten, ist kein Platz mehr für Ludwig Tiecks „mondbeglänzte Zaubernächte“, und auch Nymphen, Feen und Kobolde, die die Romantiker noch auf den Ästen der Bäume und im Moos sitzen sahen, ziehen sich aus Wäldern zurück, die zur Forstwirtschaft geworden sind.

Die Menschen suchen den wie auch immer verkümmerten Restwald auf, um zur Ruhe und zu sich selbst zu kommen und für eine Weile von Hektik und Lärm der städtischen Existenz verschont zu bleiben. Das hat den geplagten Bewohnern der Städte immer schon gut getan. Jetzt aber genügt das nicht mehr. Die Wellness-Industrie bemächtigt sich des Waldes und der Stille. Der Gang in und durch den Wald wird neuerdings Waldbaden genannt und eines nicht mehr allzu fernen Tages werden dafür Rezepte ausgestellt und entsprechende Klamotten verkauft.

Warnung vor sprachlichen Trojanern

Eine eigenartige Ironie sorgt dafür, dass, sobald ein Nutzenkalkül ins Spiel kommt, genau das zerstört wird, was den Nutzen ausgemacht hat. Sobald man den Dingen wissenschaftlich auf den Leib rückt, zieht sich das Geheimnisvolle und Wunderbare zurück. Diesen für die Moderne kennzeichnenden Vorgang hat der Soziologe Max Weber die “Entzauberung der Welt” genannt. Man versucht, alles zu vermessen, technisch zu beherrschen und sich dienstbar zu machen. Der Zauber des Waldes verfliegt, wenn man ihn auf Rezept aufsucht und mit einem festumrissenen “Um … zu”. Die bürgerliche Gesellschaft, sagte Schiller, steht unter dem Diktat der Nützlichkeit. Er beschreibt sie als geschlossenes System der Zweckrationalität und der instrumentellen Vernunft. Bei Kunst und Spiel, darauf beharren Schiller und die Romantiker, kann man lernen, dass die wichtigen Dinge des Lebens – die Liebe, die Freundschaft, die Religion und eben auch die Kunst – ihren Zweck in sich selbst haben, dass sie primär nicht darum sinnvoll sind, weil sie funktional etwas anderem dienen.

Vor einiger Zeit hörte ich eine Psychiaterin sagen, man müsse lernen, „die Muße in den Alltag einzutakten“. Ein Professor aus München erklärt im Radio, jeder Mensch verfüge über „spirituelle Kompetenzen“, die der behandelnde Arzt sich als „Ressource“ zu Nutze machen solle, um den Heilungsprozess zu befördern. Ja, spüren diese Leute denn nicht, dass diese Wortungetüme alles zunichtemachen, was in den Gedanken an Richtigem stecken mag? Neuerdings empfiehlt man Müttern: Wenden Sie sich ihrem Kind liebevoll zu, das fördert die Synapsenbildung und macht aus ihrem Kind ein hochbegabtes Kind. Mutterliebe schafft „Humankapital“, hörte ich einmal jemand im Radio sagen, und er verband das mit der Forderung, Mütter für ihre „Liebesarbeit“ angemessen zu bezahlen. Er kam sich dabei vermutlich rebellisch und fortschrittlich vor. Im Bemühen, Anerkennung zu finden, wird alles und jedes mit einem Bindestrich mit dem Wort Arbeit verknüpft und damit der ökonomischen Vernunft unterstellt.

Hier löst mein semantischer Rauchmelder sofort Alarm aus. Wir, die wir uns für eine befreite, menschliche Gesellschaft einsetzen, sollten darauf achten, welcher Sprache wir uns bedienen. Sprache entscheidet darüber, was wir denken und ausdrücken können und in welcher Form wir das tun. Man kann nicht in der herrschenden, verdinglichten Sprache des Kommerzes oder in Computermetaphern – wie zum Beispiel Vernetzung – über eine befreite Gesellschaft reden. Wenn wir nicht aufpassen, dringen wohlklingende, modische Begriffe wie trojanische Pferde in uns ein und kontaminieren unser Denken. Das Eindringen des Neoliberalismus in die Alltagssprache, in unsere Reaktionsmechanismen, Denk-, Affekt- und Wahrnehmungsgewohnheiten ist eigentlich noch viel besorgniserregender als seine Dominanz in der politischen und ökonomischen Sphäre. Ehe wir uns versehen, sind wir vereinnahmt und eines Tages nicht mehr imstande, das ganz Andere noch zu denken und auszudrücken. Man kann nicht in der Sprache der Herrschaft die Konturen einer herrschaftsfreien Gesellschaft entwerfen. Daher rührt meine für manch eine und manch einen vielleicht übertrieben wirkende Sensibilität in Bezug auf sprachliche Schlamperei und Unachtsamkeit. Ich möchte nicht „vernetzt“ und „ins Boot geholt“ werden oder „gut aufgestellt“ sein. Ich möchte nicht von Win-win-Situationen profitieren und halte nichts von „effektivem Altruismus“. Es gibt hier (wie auch sonst) nichts Harmloses. In seinem Theaterstück Warten auf Godot lässt Beckett Wladimir zu Estragon, der ihn darauf aufmerksam gemacht hat, dass sein Hosenstall offensteht, sagen: „Du hast recht. Nur keine Nachlässigkeit in den kleinen Dingen“.

Die Vertreibung der Zauberfee

„Die Liebe will die Liebe, die Freundschaft die Freundschaft und die Kunst die Kunst; dass dabei auch noch andere Zwecke realisiert werden, ist selbstverständlich, darf aber nicht beabsichtigt sein“, heißt es bei Rüdiger Safranski. Man hört nur solange den Wind im Schilf flüstern, solange man nicht wissen will, was er flüstert und warum und wozu das Flüstern gut und brauchbar ist. Es ist ein bisschen wie im Märchen, wo die Zauberfee verschwindet, sobald man sie bei ihrem Namen nennt. Wird die Stille als Mittel instrumentalisiert und also beredt, verflüchtigen sich ihre segensreichen Eigenschaften. Man muss die Stille also in Ruhe lassen. In Wartezimmern liegen neuerdings Yoga-Zeitschriften aus, in denen zu lesen steht, dass ein Ausflug in den Wald nachweislich positive Auswirkungen auf die körperliche und seelische Gesundheit hat, die Dopamin-Produktion fördert und den Blutdruck senkt. Wissenschaftler haben die Gehirne von Waldgängern gescannt und herausgefunden, dass der Wald beruhigend auf das menschliche Gehirn wirkt: „Es werden weniger Stresshormone ausgeschüttet, die Hirnchemie gleicht sich aus und schon nach 20 Minuten im Wald entspannen sich zahlreiche Muskeln im Körper deutlich.“  Die Empfehlung der Mediziner: „Erleben Sie den Wald und schöpfen Sie neue Kraft für den Alltag oder den Beruf.“ Das ist der Gipfel der Perversion: Der von Stress und Burnout geplagte Mensch soll am Wochenende den Wald aufsuchen und seine Urlaube im Kloster verbringen, damit er seine Berufshölle besser erträgt und sich und seinen Körper in einem Zustand der Ausbeutbarkeit erhält. Wir sollen die Stille aufsuchen, um den Lärm besser ertragen zu können! Statt das Tempo zu drosseln, den Lärm zu reduzieren und die Arbeit menschenförmig zu gestalten, hält sich der entfesselte Kapitalismus am Leben, indem er sich noch die letzten Reservate einverleibt, in denen sich bislang eine alternative Logik durchgehalten hat. Je brutaler es in der Sphäre der Arbeit zugeht und je mehr die Mitarbeiter aufeinandergehetzt werden, desto mehr ist in den Leitbildern der Firmen von wechselseitiger Wertschätzung und Achtsamkeit die Rede.

Henry David Thoreau, der vor 200 Jahren geboren wurde, zog es in die Wälder, wo er „nur den Wind im Schilf flüstern“ hörte. Er würde sich im Grabe rumdrehen, müsste er diese neue Variante des Kolonialismus miterleben. Heute drohte er am Ufer des Walden-Sees auf einen Volkshochschulkurs Turbo-Waldbaden zu stoßen.

Wohin könnte einer wie er, wohin können wir heute entfliehen?

 

Götz Eisenberg ist Sozialwissenschaftler und Publizist. Er arbeitete mehr als drei Jahrzehnte lang als Gefängnispsychologe im Erwachsenenstrafvollzug. In der „Edition Georg Büchner-Club“ erschien im Juli 2016 unter dem Titel »Zwischen Arbeitswut und Überfremdungsangst« der zweite Band seiner »Sozialpsychologie des entfesselten Kapitalismus«. Der erste Band „Zwischen Amok und Alzheimer“ ist 2015 im Verlag Brandes & Apsel erschienen.

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