Der Herzlotos – das unbekannte Organ

 In FEATURED, Spiritualität

Herz-Jesu-Bilder sind in der religiösen Kunstgeschichte verbreitet.

Das Herz wird manchmal nicht ernst genommen, weil es in vielen kitschigen Schlagern und im „Herzkino“ des ZDF vorkommt. Gerade in „intellektuellen“ Kreisen steht der Verstand in weitaus höherem Ansehen. Damit verschließen wir uns aber vor einem Quell der Freude, der Gesundheit und der spirituellen Inspiration. Auch unsere Beziehung zu den Mitmenschen verbessert sich, wenn wir „herzoffen“ sind. André Shanteem ist Sufi-Lehrer aus München mit ägyptischen Wurzeln. In seinem Buch „Öffne deinen Herzlotos“ beschreibt er eine wirksame Herzmeditation zur Öffnung (André Shanteem) des „feinstofflichen Herzens“ – mit positiven Wirkungen auf unser Gefühlsleben und unsere Weltwahrnehmung. (Andree Shanteem)

Wir Menschen tragen in uns einen pulsierenden Quell der Freude, der darauf wartet, von uns freigelegt zu werden. Dieser Brunnen ist das spirituelle Herz, das schon seit frühester Kindheit in uns lebt. Es war seither nie wirklich weg: Wir haben es allenfalls vergessen. Weil dieses Organ nie richtig gefördert wurde, ist es vielleicht verkümmert. Doch auch wenn wir es im Alltag meist nicht spüren: Es ist ein Teil unseres menschlichen Erbes, eine Art Geschenk, das uns mitgegeben wurde, um ein erfülltes Leben zu führen.

Das Herz hat in seiner Gesamtheit viele positive Aspekte: So gilt es als das Organ der Liebe. Wenn wir frisch verliebt sind, fängt unser Herz an, in einem bestimmten Rhythmus zu schlagen: Wir sind dabei hellwach und werden von Glückshormonen überflutet, die uns sowohl Leichtigkeit als auch Klarheit und große Gewissheit verleihen. Frischverliebte begegnen all ihren Mitmenschen mit großer Aufmerksamkeit und Offenheit. Freunde von gestern erscheinen ihnen plötzlich als normale Menschen mit ihren ganz besonderen Eigenheiten, und auf einmal wirken auch im Alltag viele zuvor unwichtige Details interessant.

Stellen Sie sich einmal vor, dieses himmlische Gefühl des Frischverliebtseins sei nicht nur auf wenige Tage in unserem Leben begrenzt; vielmehr könnten Sie über diese Leichtigkeit und innere Freude andauernd verfügen. Wie würde es sich wohl anfühlen, wenn Sie diese Wachheit in allen Situationen des Lebens voll auskosten könnten? Das Herz ist der Schlüssel dazu. Und es ist auch wie ein Fenster zur Welt. Wir wissen von fünf Sinnesorganen, aber wussten Sie, dass auch das Herz ein spezielles Sinnesorgan ist, mit dem wir die Welt wahrnehmen? Es ist wie ein Spiegel, der das Äußere reflektiert. Bei den meisten Menschen ist dieser Spiegel allerdings grau und trübe. Dadurch erscheinen ihnen auch die Welt und die Mitmenschen grau und trübe. Woher kommt es, dass manche Menschen andere ständig nur in schlechtem Licht sehen, ohne dass sie sie überhaupt richtig kennen? Die Antwort aus meiner Sicht ist, dass der Herzspiegel dieser Menschen verdunkelt ist. Die Umwelt und die anderen erscheinen auf diese Weise düster und feindselig. Ist aber der Herzensspiegel klar poliert, so sehen wir unsere Mitbürger in völlig neuem Licht. Wir erkennen, dass die Menschen, mit denen wir weniger gut zurechtkommen, lediglich ihre Eigenheiten haben, die es nicht unbedingt zu verurteilen gilt.

Unsere Sicht auf die Welt verändert sich durch ein offenes Herz tatsächlich komplett. Nicht die Welt um uns herum ist dann anders geworden, vielmehr hat sich unser Bewusstsein , unsere Wahrnehmung der Welt verwandelt.

Das Herz ist aber auch ein Organ zur unmittelbaren spirituellen Erfahrung. Im Lauf der Geschichte gab es in der Technologie immer wieder einige logische Gottesbeweise, so die von Platon, Aristoteles, Anselm von Canterbury, Spinoza, Descartes und aktuell den von Kurt Gödel. Doch auch bei diesen „Beweisen“ bleiben Zweifel, denn letztendlich sind es nur Theorien und alles, was logisch bewiesen werden kann, könnte auch logisch widerlegt werden.

Die Gottesschau des Herzens ist eine andere, eine mystische. Hier wird nichts mit dem Verstand logisch gerechtfertigt, vielmehr wird das Spirituelle bewusst erfahren. Es handelt sich um jenes Phänomen, das die Mystiker unio mystica (Vereinigung mit dem Göttlichen) oder visio beatifica (Schau des Göttlichen) nennen: ein Gewahrsein der Vollkommenheit ohne alle Zweifel.

Das Herz ist zugleich auch ein wichtiger Ratgeber. Wir haben mit ihm einen Gefährten an unserer Seite, der uns unmittelbar auf rechte Weise leitet, einen Boten höherer Erkenntnis, der uns den sicheren Weg durchs Leben zeigt. Wenn unser Herzlotos offen ist, dann spüren wir unmittelbar, was für uns gut ist und was nicht. So bemerkte schon Hildegard von Bingen: „Der Mensch sollte alle seine Werke zunächst einmal im Herzen erwägen, bevor er sie ausführt.“

Wie der Sufi Al Ghazzali (gest. 1111) schreibt, ist das Herz nicht nur das Organ der Gotteserkenntnis, sondern auch das eigentliche Organ der Weisheit. Das Herz, so Al Ghazzali, ist dabei von engelhafter Substanz und sehnt sich deshalb zurück nach seinem himmlischen Ursprung. Indem die Menschen ihrem Herzen folgen, finden sie ihren Weg zurück zum Himmel und damit zur Glückseligkeit. Verschließen sich Menschen jedoch diesem Boten, so übernehmen andere, triebhaftere Impulse die Macht, wodurch die Menschen sich und andere ins Unglück stürzen.

Es ist, als lebte in unserem Inneren ein Lotse, der uns mitten im irdischen Leben schnurstracks zurückbringt zu unserer himmlischen Heimat. In diesem Leben gibt es viele Stationen zu passieren, und immer wieder machen wir auch Halt für bestimmte Erfahrungen. Doch kommen wir von unserem Ziel ab, so wird unser Herzenslotse unruhig. Er warnt uns gleichsam, sodass wir spüren können, dass etwas nicht stimmt, und wir unseren Weg wieder begradigen können.

Der befreite Herzlotos versetzt uns nicht zuletzt auch in einen Zustand hoher Konzentration. Darunter darf man sich nichts Anstrengendes vorstellen, vielmehr etwas sehr Fließendes, Weiches. Normalerweise ist unsere Aufmerksamkeit abgelenkt, das ständig an dies und das gedacht werden muss. Es entspinnen sich innere Dialoge, durch die wir unsere Sicht auf die Welt ständig neu zu bestätigen suchen. Durch das Feuer der Liebe aber werden wir in eine sehr klare Aufmerksamkeit versetzt – ein Zustand, in dem wir die Welt weitgehend ohne den Filter der Gedanken wahrnehmen.

Das Herz ist auch ein Organ der Vergebung und der Segnung. Der logisch denkende Verstand erinnert sich ständig an schlechte Taten unserer Mitmenschen und sucht deshalb nach Vergeltung oder Wiedergutmachung. Im Herzen löst sich die Logik des Vorwurfs und der Rache einfach auf. Sie wird durch keine Kraft mehr gespeist, sodass Verzeihen stattfinden kann.

Der natürliche Zustand unseres Herzens besteht darin, dass wir ständig Segnungen aussenden und empfangen. Es ist wie ein Resonanzkörper in uns, der andere Resonanzkörper ebenfalls zum Schwingen bringt. Bei offenem Herzlotos wünschen Sie Ihren Mitmenschen nichts Schlechtes mehr. Im Gegenteil: Sie wünschen sich, dass alle Menschen an diesem Glück teilhaben. Wenn immer mehr von uns ihren Herzlotos befreien, würden auch Elend und Leid auf der Erde aufgelöst. Es wird eine Vibration freigesetzt, die uns voll und ganz erfasst und von uns auch ständig auf andere Menschen übergeht: Freude. Normalerweise schlägt es freudig, wenn wir im Äußeren vom Leben beschenkt werden: ob es sich um das Wiedersehen mit einem Freund handelt, das erste Rendezvous, einen prächtigen Gewinn oder auch den Sieg der eigenen Fußballmannschaft. Durch einen speziellen Herzpuls entsteht dann Freude, die bald wieder vergeht, wenn der Alltag mit all seinem Aufgaben und Problemen zurückkehrt. Doch stellen Sie sich vor, wie es wäre, wenn diese vitale Freude nicht nur von kurzer Dauer wäre und von äußeren Dingen abhinge, sondern wenn sie stabil und von Äußerlichkeiten völlig unabhängig wäre.

Mancher Zweifler sagen, zur Freude müsse auch Leid gehören und dass darum ein ausschließlich freudvolles Leben zu einseitig wäre. Doch die Menschen, deren Herz geöffnet ist, berichten, dass Freude der Urzustand unserer Seele ist. Freude ist wie die Rückkehr zu unserem eigentlichen Selbst. Frustration und Leid sind demnach unnatürlich. Sie gleichen Gitterstäben, die unser Selbst gefangen halten. Wenn aber der eigentliche Urzustand unserer Seele eine freudige Leichtigkeit ist, warum sollten wir dann in dunklen Gefühlen eingesperrt bleiben?

Durch die Entfaltung des Herzens erlangen wir auch eine Erfahrung des eigentlichen Selbst, das manche als die Seele bezeichnen. Der Urzustand der Seele ist reine Glückseligkeit, eine Erfahrung, von der auch Mystiker aller Religionen berichten: eine Seligkeit, die aus sich selbst heraus entsteht.

Gerade in der heutigen Zeit versuchen Menschen, Glückseligkeit vor allem durch äußere Mittel zu erlangen: durch Alkohol, Drogen und Medikamente genauso wie durch materielle Dinge wie Konsumgüter und Statussymbole, teilweise auch durch Liebespartner oder ein besonderes Ansehen der eigenen Person. Da aber äußere Dinge keinen dauerhaften Bestand haben, hat auch die äußerlich hergestellte Freude keine Dauer. Auf den Rausch folgt der Kater, auf das Stimmungshoch der Absturz, auf die Freude über einen bestimmten Konsumartikel folgt die Sehnsucht nach dem nächsten Kaufobjekt und dem Frischverliebtsein folgt oft die Beziehungsroutine oder gar der Beziehungsfrust.

Anders hingegen ist der freudige Zustand der Seele. Er ist im Prinzip immer vorhanden: ein Glück, das aus sich heraus besteht und nur darauf wartet, von uns Menschen wiederentdeckt zu werden. Die Seele ist aus sich heraus glücklich und offen, völlig unabhängig von äußeren Dingen.

Mystiker sagen, dass die Seele und das damit verbundene Glücksgefühl nie wirklich abwesend waren. Wir Menschen haben nur das ursprüngliche Gefühl der Seele vergessen. Es ist wie ein Schatz, der endlich geborgen werden will.

Die Erfahrung der Mystiker nach ist die menschliche Seele mit der All-Seele verbunden. Mit der göttlichen Seele, die alles umfasst und alles durchdringt. So eröffnet sich über die Erfahrung der eigenen Seele auch ein Zugang zu Gott: die unio mystica, von der unabhängig voneinander mehrere Heilige aus verschiedenen Weltreligionen berichtet haben.

Die Herzöffung als universelle spirituelle Konstante

Die Herzöffnung ist wahrscheinlich eine der ältesten spirituellen Techniken überhaupt. Zu fast allen Zeiten und in eigentlich allen Religionen wurde es al zentrales Organ der religiösen Erfahrung erwähnt. Zwischen den einzelnen Religionen mag es zahlreiche theologische Unterschiede geben – gemeinsam aber ist allen die mystische Erfahrung der universellen Liebe, die mit der Öfffnung des Herzens einhergeht.

So heißt es bereits in der Thora: „Schaffe in mir Gott ein reines Herz“ (Psalm 51,12). Jesus spricht in der Bergpredigt. „Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen.“ (Math. 5,8). Und Franz von Assisi sagt: „Ein Mensch mit gütigem, hoffendem Herz fliegt, läuft und freut sich, er ist frei. Weil er geben kann, empfängt er, weil er hoffen kann, liebt er.“

Die Meditation über das Herz ist so auch eine wichtige Technik bei vielen Christen. Manche meditieren in ihren Exerzitien zum Beispiel über das Herz Jesus als eines seiner Wundmale bei der Kreuzigung am Berg Golgatha, und im Herzensgebet der orthodoxen Mönche erfolgt ununterbrochen die Anrufung von Jesus, bis sie schließlich völlig übergeht in den Atem und den Puls.

Im Vajrajana-Buddhismus wird ebenfalls die Meditation auf das feinstoffliche Herz gelehrt. Wie Buddha spricht: „Nach der Reue ist mein Herz leicht wie eine Wolke, die unbeschwert am Himmel dahinsegelt.“ Und wie der Zen-Meister Ganseki spricht: „Der Buddha ist das gute Herz.“ Sein Schüler Doppa lehrt später: „Das Wichtigste in der Welt ist ein gutes Herz.“

Auch im Hinduismus spielt diese Öffnung eine wichtige Rolle. So ist die Meditation auf die Brustmitte die zentrale Praxis gleich mehrere Yoga-Systeme, so des Bhakti-Yoga oder des Laya-Yoga. Nachdem die Yogis mehrere Yoga-Positionen (Asanas) und Reinigungsübungen (Kriyas) gelernt haben, beginnt die Meditation auf das feinstoffliche Herz, um so die spirituelle Erleuchtung (Samadhi) zu erlangen.

Wie es im Vydhya-Tantra über die Herzöffnung heißt: „Ich bin reine Freude und Glückseligkeit.“ Und in der Chandogya Upanishad: „Dieser ist mein Atman (Selbst) im Inneren Herzen, kleiner als ein Reiskorn oder Gerstenkorn oder Hirsekorn oder eines Hirsekornes Kern. Dies ist mein Atman (Selbst) im inneren Herzen, größer als die Erde, größer als der Himmel, größer als die Welten (3,14)

Auch im mystischen Islam spielt die Herzöffnung eine wichtige Rolle. In fast allen Suren des Koran wird das Herz als Ort der Bewusstwerdung erwähnt. Wie es zum Beispiel in der Sure Ar-Rad heißt: „Er (Allah) führt die zu Sich zurück, die glauben und deren Herz im Gottgedenken Ruhe findet“ (13,27). Die Sure 94 widmet sich sogar ganz dem Prozess der Erleuchtung des Herzens: „habe Ich (Gott) dir nicht die Brust geöffnet und dich von den Beschwernissen befreit?“ (94,1-2)

Darüber hinaus beziehen sich zahlreiche Aussprüche des Propheten Mohammed auf die Öffnung des Herzens: „Gott ist bei dem, dessen Herzen um Seinetwillen geöffnet ist.“ „Das Herz ist die Wohnstatt Gottes.“ „Die ganze Schöpfung ist nicht groß genug, um Gottes Schönheit zu fassen – aber das Herz der Gläubigen ist groß genug, um Gottes Schönheit zu fassen.“

Im Sufismus, der islamischen Mystik, spielt darum der Quell in der Brustmitte eine zentrale Rolle. Bei ihrer Initiation sitzen sich die Sufis gegenüber, um so das geheime Zentrum in der Brustmitte (Sirr) zu aktivieren.

Auch aus der chinesischen Tradition gibt es zahlreiche Überlieferungen zum Herzen. So schreibt etwas Laotse: „Das Herz im Himmel – den Himmel im Herzen.“ Und Konfuzius: „Wenn im Herzen Aufrichtigkeit ist, wird sich Schönheit im Wesen zeigen.“

Das Herz ist tatsächlich eines der großen Mysterien der Menschheit. Es wurde in der Minne hochgelobt, in Märchen thematisiert und von Dichtern wie Goethe, Novalis oder Hölderlin besungen. Im klassischen Japan wurde es in Haikus genauso verklärt wie in den orientalischen Dichtungen von Saadi, Hafiz oder den Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht.

Es wurde über die Kontinente hinweg in der sakralen Kunst verewigt, sei es in den Kirchen und Kathedralen des Abendlandes; in indischen Tempelanlagen oder in orientalischen Kalligrafien. Genauso wurde es auch in der Musik behandelt: in volkstümlichen Liedern, klassischen Opern, aber auch über die Erde hinweg in unzähligen modernen Popsongs.

Das irdische Exil

Doch warum sind sich die meisten Menschen dieser universellen Liebesenergie nicht bewusst? Warum gibt es so viel Hunger und Krankheit, Terror, Krieg und Ausbeutung, aber auch Wohlstandsleiden wie psychische Leere, Depression und Süchte?

Der Grund besteht aus Sicht der Sufis darin, dass die Menschen durch ihre angelernten Konzepte, Ich-Vorstellungen und Gewohnheiten aus ihrer Mitte gebracht wurden. Im Laufe der Sozialisation bekommen junge Menschen von der Gesellschaft zahlreiche Rollenbilder, Strategien und Konzepte überliefert, die sich in den Köpfen verankern. Ab einem gewissen Alter haben sie dann den Kopf voll mit allen möglichen Gedanken, sodass der subtile Herzimpuls übertönt und schließlich ganz vergessen wird.

Darum schreibt Rumi im Mathnawi in seiner Meditation über das Schilfrohr: „Ist das Schilf voll mit Mark, so können darauf keine Melodien erklingen. Erst wenn das Innere des Rohrs ausgebrannt ist, können darauf die Lobpreisungen Gottes klingen“ Das Schilf ist in diesem Gleichnis unsere Persönlichkeit, die voll ist mit Gedankenmustern, Erwartungen, Konzepten und negativen Prägungen, die uns blockieren. Wenn diese Blockaden verschwinden, so kann auch der Herzton in uns frei vibrieren.

Auch Laotse schreibt etwas Ähnliches: „Der einen engen Verstand hat, hat kein breites Herz.“ Damit wird angedeutet, dass es der menschliche Verstand ist, der uns von unseren zentralen Liebesenergie abbringt. Ist der Kopf eingeschränkt durch alle möglichen Sorgen, Urteile und Konzepte, so sind wir von unserer Liebesenergie getrennt.

Auch in der modernen Psychologie werden die Mechanismen der seelischen Verkümmerung beschrieben. So lehrt er Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, dass wir während des Prozesses der Kulturation andauernd moralischen Imperativen ausgesetzt sind, durch die sich ein Über-Ich in unseren Köpfen etabliert, das uns dauerhaft aus unserer Mitte bringt und in Gewissenskonflikte stürzt. So haben wir bald immer weniger Bezug zu uns selbst und unseren Gefühlen.

Der Freud-Schüler und Begründer der Humanistischen Psychologie Wilhelm Reich lehrt, dass wir seit der frühesten Kindheit und Jugend immer wieder Zurückweisungen, Traumata und Verletzungen ausgesetzt sind, auf die wir mit Verhärtung reagieren, die sich sowohl körperlich als auch psychisch manifestieren. Sie schützen uns zwar in gewisser Weise vor Zurückweisungen, Beleidigungen und psychischen Verletzungen, allerdings entsteht dabei auch ein Charakterpanzer, der uns leicht verächtlich werden lässt sowohl gegenüber den eigenen Gefühlen als auch gegenüber der Besonderheit und dem Leiden anderer Menschen. So kommt es, dass wir aus Angst vor Verletzungen immer zynischer und zurückweisender werden können gegenüber den Mitmenschen – die natürliche, grundsätzliche Liebesenergie geht verloren.

Einer esoterischen Überlieferung nach gehört es zur menschlichen Entwicklung dazu, dass wir erst einmal unseren göttlichen Ursprung vergessen müssen. Wir gehen in einem oder mehreren Leben durch verschiedene Verfahrungen hindurch, um uns am Ende auf einer bewussteren Stufe wieder mit dem Göttlichen zu vereinen.

Wie es in einem Ausspruch des Propheten Mohammed heißt: „Ich (Allah) war ein verborgener Schatz, darum erschuf ich die Welt, damit sie mich sucht und findet.“ Und wie der weise Rabbi Nachmann spricht: „Gott versteckt sich in Seiner von Ihm erschaffenen Welt vor den Menschen, damit sie Ihn suchen und finden.“

Gemeint ist: Die Reise des Menschen durch die Schöpfung beginnt mit einer vermeintlichen Trennung. Er sammelt durch diese Isolation viele Erfahrungen, die ihn dann wieder in die Einheit bringen.

Aus Sicht vieler Sufis war darum der „Sündenfall“ von Adam und Eva ein Teil des göttlichen Plans. Die Menschen mussten erst einmal ihre göttliche Herkunft vergessen, um in der Schöpfung dann wieder das göttliche Sein neu für sich zu entdecken.

Sufis sprechen manchmal vom „irdischen Exil“: Die Seele der Menschen weilt demnach von ihrem Ursprung getrennt in der irdischen Sphäre und sehnt sich danach, mit ihrer himmlischen Herkunft wieder vereint zu sein – auch wenn der Verstand diesen Ursprung scheinbar vergessen hat.

Bezeichnend dafür ist eine Erzählung des persischen Mystikers Suhrawardi, der die Situation so beschreibt: Der Ursprung der Menschen liegt im Lichtland im Osten. Eines Tages geht ein junger Mann auf Wanderschaft nach Westen, um dort Dinge zu erledigen und Erfahrungen zu sammeln. Auf der Reise jedoch gerät der Wanderer in Gefangenschaft und wird in ein dunkles, vergittertes Erdloch gesperrt. Er findet sich schließlich mit seiner Gefangenschaft ab und vergisst sogar seine göttliche Heimat, schließlich hält er – ähnlich wie in Platons Höhlengleichnis – die Höhle irgendwann für die einzig reale Welt. Der Wanderer in dieser Geschichte ist das Herz, das himmlischen Ursprungs und nun auf der Erde gefangen ist. Allerdings weiß es, dass die Gefangenschaft nicht das eigentliche Leben ist.

So sehnt sich das Herz danach, wieder in der himmlischen Heimat anzukommen, wobei es nicht so ist, dass dieser Zustand erst nach dem Tod oder in einem der nächsten Leben erreicht werden kann, sondern durchaus schon in diesem Leben.

 

Buchtipp:
André Shanteem
Öffne deinen Herzlotos
Lotos Verlag
251 Seiten, € 19,99

Einen Kommentar hinterlassen

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen