Der Islam gehört zu Europa!

 In FEATURED, Politik, Spiritualität

Oder: Warum der Blick zurück in eine Sackgasse führt. Kriege zwischen dem “Abendland” und der islamischen Welt gab es seit dem Mittelalter. Sie zeugen aber mitnichten von der Unvereinbarkeit beider Kulturkreise; vielmehr von Machtpolitik und kollektivem Wahn. Der Koran an sich ist eher die Fortsetzung geistiger Strömungen, auf die sich Europa beruft: speziell solchen der Bibel. Es ist daher verfehlt, Muslimen das Bleiberecht in Deutschland mit Blick auf die blutige christlich-muslimische Geschichte zu verwehren. Zu Europa gehört, was zu den Menschen gehört, die hier wohnen. Nicht wenige davon bekennen sich zum Islam.  4. Teil der Islam-Serie von Holger Wohlfahrt
Geschichtsvergessene Geschichtsbetrachtung

Aleida Assmann, Gewinnerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2018, beginnt eines ihrer Bücher mit der Aussage „Alles, was wir aus der Geschichte lernen können, ist, dass wir nichts aus ihr lernen können.“ Zu verschieden seien vergangene gesellschaftliche, religiöse und politische Strukturen, als dass man einst Erlebtes und vielfach von der Erinnerung Verzerrtes, einfach auf die Gegenwart anwenden könne. Sie beruft sich in ihrer Aussage auf so großartige Denker wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel oder George Bernard Shaw. Dennoch, möchte man einwerfen, gilt es grobe Fehlentwicklungen der Vergangenheit als Mahnungen für die Gegenwart zu begreifen. Geschichtsvergessenheit führt schließlich nicht nur zu entwurzelten, sondern vielfach auch zu gewissenlosen Menschen.

Ein zu starkes geistiges Verharren in der Vergangenheit bedingt jedoch nichts als Erstarrung. Schon die biblische Erzählung von der Frau Lots, die sich entgegen göttlichen Weisungen auf der Flucht aus dem brennenden Gomorra umdreht und zur Salzsäule erstarrt, verweist auf diesen Zusammenhang. Wer nur nach hinten schaut, versteinert und verpasst die Zukunft.

Genau eine solche Versteinerung lässt sich vielfach im Umgang mit dem Islam beobachten. Statt die Chancen in dem engen Zusammenleben mit den Angehörigen einer anderen Denkweise zu erkennen, werden angeblich geschichtlich begründete Gefahren genannt. Statt auf all die anregenden, bereichernden Facetten einzugehen, wird lieber vor dem Untergang des Abendlandes gewarnt. Statt frohgemut nach vorne zu schreiten und sich an dem Unbekannten zu erfreuen, verharren nur allzu viele ängstlich versteinert in einem konstruierten Mittelalterbegriff.

Der Islam sei grundsätzlich unvereinbar mit dem christlich geprägten Abendland, heißt es nicht nur unter Anhängern dubioser politischer Parteien. Als Beweis wird die angeblich lange Geschichte gegenseitigen Misstrauens und feindlicher Ablehnung herangezogen. Letztlich werden dabei stets drei weltgeschichtliche Phasen bemüht, in denen das sogenannte Abendland in einem spannungsreichen Verhältnis zur muslimisch geprägten Welt stand. Diese gelten dann als historischer Beweis für jene Unvereinbarkeit der Kulturen.

Die erste Phase ist jene der Kreuzzüge. Bei der zweiten Phase handelt es sich um die Zeit der versuchten Türkeninvasionen. Die dritte Phase ist jene der jüngeren Vergangenheit und Gegenwart, in der sich der politische Islam und der Islamismus als Reaktionen auf die im Namen westlicher Politik- und Wirtschaftsdoktrinen vollzogene Globalisierung gebildet haben.

Die sieben großen, zwischen 1095 und 1291 unternommenen Kreuzzüge (der Begriff „Kreuzzug“ wurde übrigens erst ca. 600 Jahre nach dem letzten derartigen Eroberungskrieg in Anlehnung an die Literatur Walter Scotts eingeführt) nach Jerusalem waren jedoch vornehmlich Resultat einer komplexen gesellschaftlichen Situation in den christlichen Ländern Zentraleuropas. Sie waren zu keinem Zeitpunkt reine Glaubenskriege. Schon gar nicht ist der Islam für sie verantwortlich zu machen.

Der Historiker Tamim Ansary zeigt, dass der päpstliche Aufruf zum Kreuzzug vor allem an den europäischen Kriegsadel adressiert war, der „weder Lesen noch Schreiben“ konnte, sondern sich „nur mit dem Kriegshandwerk“ beschäftigte. Die starke Ausrichtung auf das Kriegswesen war wiederum eine Folge wiederkehrender Angriffe von Hunnen, Magyaren und Nordmännern, der man sich hatte erwehren wollen.

Dieser europäische Kriegsadel besaß einen Großteil der europäischen Ländereien. Es war zu jener Zeit die Regel, dass allein der älteste Sohn sämtliche Ländereien der Familie erbte. Auf diese Art sollten diese im Namen der Hauptlinie einer Adelsdynastie zusammengehalten werden. Die Folge war aber auch, dass es aufgrund des Alleinerbes der Ältesten irgendwann sehr viele land- und besitzlose Adelige gab, die in ihrer Jugend nichtsdestoweniger eine herausragende Schulung im Kriegswesen erfahren hatten.

Als im 11. Jahrhundert einige technische Erfindungen wie die metallene Pflugschar oder die Drei-Felder-Wirtschaft gemacht wurden, konnten die Ernteerträge gesteigert und in der Folge die Lebenserwartung erhöht werden. Die Bevölkerungszahlen explodierten. Auch die Zahl der landlosen Adeligen wuchs. Immer mehr von ihnen betätigten sich als „Raubritter“. Die Zahl der Privatfehden nahm zu und lähmte Europa. Papst Urban II. rief daher die sogenannte „Gottesfriedensbewegung“ aus. Für den Frieden sollte mit Waffengewalt eingetreten werden. D.h. landlose „Raubritter“ wurden brutal bekämpft. Derartige „Friedenskriege“ bewirkten vor allem jedoch eine moralische Aufwertung des Kriegswesens innerhalb der europäischen Christenheit. Wie fast immer, wenn Krieg mit Krieg bekämpft werden soll, nahm die Bereitschaft zu Brutalität und Gewalt weiter zu. Statt einer Eindämmung erfolgte eine Ausdehnung des mittelalterlichen Fehdewesens.

Der Historiker Jonathan Phillips schreibt, dass der politisch geschickte Papst Urban II. schließlich erkannte, dass eine Beruhigung des christlichen Kontinents allein durch eine Kanalisierung der enthemmten Gewalt zu bewerkstelligen sei. Und so wurde auf ein Rezept zurückgegriffen, dass geschwächte Potentaten zur Beruhigung ihrer rebellischen Untertanen bis heute gerne verwenden: Ein gemeinsamer, die eigenen Reihen zusammenschweißender Gegner wurde gesucht und im fernen Orient gefunden. Der Papst forderte die christliche Ritterschaft öffentlich dazu auf, aus der verderblichen „malitia“ eine nützliche „militia“ zu machen. Indem ein gerechter Krieg nach Außen geführt wurde, sollte im Inneren der Christenheit Ruhe geschaffen werden.

Entgegen kam dem Papst die Tatsache, dass er vom byzantinischen Kaiser Alexios um Hilfe gebeten wurde. Das einst expansive byzantinische Reich in Kleinasien sah sich seinerseits ähnlichen Problemen wie Zentraleuropa ausgesetzt. Nur fanden dortige Konflikte nicht nur innerhalb der christlichen Byzantiner, sondern auch zwischen Byzantinern und Muslimen der Nachbarregionen statt. Alexios und Urban sahen nun die Chance, im Aufbau eines gemeinsamen Feindbildes Frieden zu schaffen und zudem noch Gebietsgewinne für sich zu verzeichnen.

Als die Kreuzzugsidee vom Papst in Europa verbreitet wurde, fand sie sofort begeisterte Anhänger. All die landlosen Adeligen, deren Bildung oftmals auf den Umgang mit Lanze, Schwert und Hellebarde beschränkt war, sahen die Chance, ihre Fähigkeiten einzubringen und dabei neue Besitztümer im Orient zu erlangen. Verstärkt wurde ihre Hoffnung durch ein weit verbreitetes Orientbild. Einzelne christliche Pilger, die aus Jerusalem zurückgekommen waren, hatten in romantischer Verklärung das Bild von einem orientalischen Wunderland gezeichnet, in dem „Milch und Honig“ flossen.

Und so machte sich 1095 erstmals eine Horde christlicher Adelsrüpel, begleitet von zahlreichen Bauern, die ihrerseits auf eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse und sicher auch auf den vom Papst werbewirksam versprochenen Lohn im Jenseits hofften, auf den Weg nach Jerusalem. Die Kreuzzugsbewegung kann also mit Fug und Recht zuvorderst als eine Folge sozialer und politischer Gegebenheiten der Zeit des christlich geprägten Mittelalters betrachtet werden. Umso deutlicher wird das, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Kreuzzüge nicht nur gegen zu Feinden deklarierte Muslime in Kleinasien, sondern der Einfachheit halber auch gegen zu Häretikern erklärte Mitchristen in Europa (z.B. gegen die Albigenser in Südfrankreich) geführt wurden.

Von den sieben großen Kreuzzügen fiel übrigens nur der erste siegreich für die europäischen Invasoren aus. Und auch dieser Sieg war sehr teuer erkauft, bedingte eine gewaltsame Reaktion des Gegners und wandelte sich rasch zu einer verheerenden Niederlage. Wer, wie der frühere US-Präsident George W. Bush, „moderne Kreuzzüge“ gegen muslimische Länder führen will, suggeriert damit also vor allem das Anstehen militärischer Niederlagen. Manchmal sorgen geschichtsvergessene Vergangenheitsapostel für unfreiwillig-tragische Komik.

Die zweite Phase, die von derart geschichtsvergessenen Vergangenheitsaposteln gern als Beweis für die Unvereinbarkeit des Westens mit dem Islam herangezogen wird, beginnt mit den sogenannten Türkenkriegen im Jahr 1453. Damals hatte sich im kleinasiatischen Raum ein großer machtpolitischer Block gebildet: das Osmanische Reich. Dieses hatte sich als siegreiche Macht im Konflikt zahlreicher muslimisch geprägter Stammesvereinigungen und kleinerer Reiche behauptet und war schließlich, ähnlich wie einige europäische Großmächte jener Zeit, stark gewachsen. Seine anhaltende Expansionsbestrebung brachte das Osmanische Reich zwangsläufig in Berührung mit dem christlich geprägten Europa. Vor allem das damals mächtige Venedig sah seine Vormachtstellung im Mittelmeerraum durch die neue militärische und handelspolitische Größe herausgefordert.

Zwischen den beiden Reichen entstanden erste Spannungen. Das Osmanische Reich nutzte schließlich innereuropäische Konflikte, wie etwa einen Machtkampf verschiedener Potentaten um die Herrschaft in Ungarn, um sich zunächst vorsichtig, dann immer entschlossener einzumischen und seinerseits den eigenen Machtbereich nach Europa auszudehnen.

Bei diesen machtpolitischen Auseinandersetzungen spielte die Religion erneut keine vorrangige Rolle. Ersichtlich wird dies schon allein daraus, dass die Osmanen sich immer wieder auch mit Christen im Sinne ihrer Machtpolitik verbündeten. So paktierte Frankreich vor allem ab dem 17. Jahrhundert mit dem Osmanischen Reich gegen gemeinsame Gegner, wie etwa das Habsburger Reich.

Auch war die Mehrzahl der angeblichen „Türken“, die versuchten, das Osmanische Reich auf europäischen Boden auszuweiten, gar nicht muslimisch. Die Mehrheit der Soldaten waren Söldner aus Albanien, Bulgarien, Bosnien, Griechenland, Serbien und der Walachei. Eine Konvertierung zum Islam war nicht nötig. Und so waren es überwiegend orthodoxe Christen, die für die angeblichen „Türken“ bzw. für die „muslimische Gefahr“ kämpften. Die „Türkenkriege“ waren vor allem eine Art Bürgerkrieg zwischen den Anhängern und den Gegnern des Osmanischen Reiches. Ein Glaubenskrieg waren die letztlich gescheiterten Expansionsversuche der Osmanenkrieger zu keiner Zeit.

Dass die Kriege zwischen jenen Großmächten doch immer wieder als Glaubenskriege begriffen wurden, ging letztlich auf die damalige Propaganda zurück. Wie so oft wurde versucht, die moralische Hoheit über die militärischen Auseinandersetzungen zu gewinnen. Die Religion wurde daher von beiden Seiten instrumentalisiert. Im Namen Gottes ließ es sich schließlich leichter mobilisieren und rekrutieren. Wer im Namen Gottes kämpfte, konnte nicht auf der falschen Seite stehen! Der Mitte des 15. Jahrhunderts erfundene Buchdruck ermöglichte es den europäischen Opponenten des Osmanischen Reichs, publizistisch massiv gegen die drohende „Türkengefahr“ vorzugehen. Bis heute sind einige dieser Propagandaschriften gut erhalten und trüben im unreflektierten Rückblick die Wahrnehmung der wahren Konfliktgrundlagen.

Dass in der dritten und jüngsten Phase des von vielen diagnostizierten Konflikts mit dem Islam vielfältige wirtschaftliche und machtpolitische Interessen stehen, wurde bereits ausführlich thematisiert (vgl. Artikel 3/1 und 3/2: „Der Islam als Aggressor?“). Dankbar wird dabei die Propaganda der Vergangenheit in neue Propaganda eingearbeitet.

Und so verwundert es nicht, dass auch in Deutschland selbst von einem Bundes-Innenminister in Sachen Islam vor allem die Vergangenheit als Beurteilungsgrundlage herangezogen wird. Die Frage ob der Islam nun zu Deutschland gehört oder nicht, beschäftigt Politiker verschiedenster Couleur. Auch in anderen europäischen Ländern werden ähnliche Fragen gestellt.

Warum der Islam zu Deutschland und Europa gehört

Wer, wie der deutsche Innenminister Horst Seehofer, zum Ergebnis kommt, dass der Islam nicht zu Deutschland gehört, müsste freilich erst einmal definieren, was eigentlich als Bestandteil Deutschlands zu sehen ist. Doch was sind dann die Definitionsgrundlagen? Wenn offiziellen Angaben zufolge zwischen 4,4 und 4,7 Millionen Muslime in einem Land wohnen und überwiegend anerkannte Staatsbürger dieses Landes sind, sollte man doch davon ausgehen, dass dieser Glaube Teil der Realität des Landes ist.

Andernfalls begibt man sich von vornherein auf das Niveau von radikalen Fundamentalisten, die eine Absolutheit ihres Glaubens annehmen. Demnach ist eine Religion überzeitlich und unabhängig von den menschlichen Gläubigen. Den Islam hätte es als ewige Wahrheit dann auch schon zur Zeit der Dinosaurier gegeben. Indem der Islam also als überzeitliche, überpersönliche und ewiggültige Wahrheit begriffen wird, wird er ganz im Sinne eines radikalen Islamisten verabsolutiert. Eine derartige Verabsolutierung kann erst dann, wenn sie mit einer weiteren Absolutheit, wie etwa der unhistorischen Vorstellung eines homogenen, idealisierten Volkes in Zusammenhang gebracht, als unvereinbar mit dieser zurückgewiesen werden.

Horst Seehofer und Thilo Sarrazin begeben sich argumentativ somit auf ein Niveau mit Vertretern von al-Quaida. Tun sie das aber nicht und begreifen den Islam als abhängig von den Menschen, die sich an seinen Glaubenssätzen orientieren, kommen sie nicht an der Tatsache vorbei, dass eben fast 5 Millionen Muslime in Deutschland leben. Diese Muslime und damit auch ihre Religion sind somit Teil des sie beherbergenden Landes. Viele dieser Muslime üben als deutsche Staatsbürger tragende Rollen in Politik, Wirtschaft und Kultur aus oder begeistern als Sportstars ein Millionenpublikum.

Oder zählt für Horst Seehofer und Konsorten allein eine historische Argumentation? Ist die Frage danach, was zu Deutschland gehört, allein aus dessen spezifischer Geschichte abzuleiten? Was aber ist dann die Referenz? Der erste, 1871 gegründete deutsche Nationalstaat, der wenigstens im Ansatz der heutigen Ausprägung zu entsprechen scheint? Dann dürften aber auch Demokratie und Menschenrechte nicht zu Horst Seehofers Land gehören.

Oder ist das aus seiner Sicht historisch zu kurz gedacht? Benötigt es eine quasi mythologische Fundierung? Sollte man zurück in die Zeit der Germanen? Etwa zur Varusschlacht im Teutoburger Wald? Dann müsste man aber das Christentum, das doch immerhin Teil des Namens seiner Partei ist, als legitime Grundlage Deutschlands radikal ablehnen und stattdessen diversen germanischen Kulten frönen. Ob Horst Seehofer und andere führende Politiker aber einen Kult langhaariger Wilder, die keulenschwingend durch deutsche Wäldern turnen, goutieren würden, erscheint mehr als fraglich. Bärtige Waldbesetzer wurden in jüngerer Zeit von staatlicher Seite jedenfalls nicht unbedingt freundlich behandelt.

Auch wenn eine ideengeschichtlich begründete Wertegemeinschaft als Grundlage des gegenwärtigen Deutschland herhalten soll, wird es schwer, eine klare Definitionsgrundlage zu finden. Dem noch immer vorherrschenden neoliberalen Wirtschaftssystem lassen sich schließlich auch Muslime problemlos eingliedern. Führende Politiker in muslimischen Ländern wie den Vereinigten Arabischen Emiraten oder auch Saudi Arabien befördern letztlich einen wirtschaftlichen Extremkapitalismus, wie er durchaus im Sinne vieler neoliberaler Islamkritiker sein dürfte.

Demokratische Grundwerte und Menschenrechte sind, abhängig von der Interpretationsweise, durchaus mit dem Koran und der islamischen Glaubenstradition zu vereinbaren (wie das auch für die Bibel und die christliche Glaubenstradition gilt). Auch in der Realität hat sich selbst in jüngerer Zeit (vom Mittelalter, als die muslimische Welt dem Westen in vielen Belangen überlegen war und auch einige muslimisch geprägte europäische Regionen wie Sizilien oder Andalusien eine wahre Blütezeit erlebten, wollen wir gar nicht erst reden) immer wieder herausgestellt, wie emanzipatorisch und demokratisch muslimische Länder sein können. So stellt mit Indonesien ein überwiegend muslimisches Land eine der größten Demokratien der Welt. Aserbaidschan führte schon 1919 das Frauenwahlrecht ein. Die Türkei hatte bis vor kurzem noch mehr weibliche Hochschullehrer als Deutschland und Österreich zusammengenommen. Und muslimische Länder wie Pakistan, Bangladesch oder Indonesien wählten Frauen zu Regierungschefinnen, lange bevor dies in den meisten europäischen Ländern geschah.

Wer schließlich meint, dass der angeblich westliche Wertekanon sich allein aus griechischer Philosophie und Christentum speist und daher ein Alleinstellungsmerkmal darstellt, das andere Denksysteme ausschließt, kommt bei einem genauen Blick in die Geschichte ebenfalls in gewisse Argumentationsnöte. So zeigt etwa die Islamwissenschaftlerin Angelika Neuwirth, dass der Koran nicht nur Teil einer islamischen Tradition, sondern auch als „Dokument einer Gemeindebildung inmitten einer christlich-jüdisch-synkretistisch geprägten Debattenlandschaft“ zu sehen ist.

Der Koran ist demnach seinerseits als Erbe biblischer Texte und davon geprägter Denkweisen zu begreifen. In der Spätantike flossen seine daraus entwickelten Glaubensinhalte dann wieder zurück in die Debattenkultur Kleinasiens. Jedes aus diesen Debatten entstehende Denksystem ist dabei maßgeblich auch von der geistigen Auseinandersetzung mit dem Koran geprägt. Es entstanden also unter den Anhängern aller Religionen Kleinasiens neue Wertesysteme und Weltanschauungen. Ein angepasstes christliches Denkschema breitete sich schließlich bis nach Zentraleuropa aus. Neuwirth kommt daher zu dem Schluss, dass die zahlreichen in Europa lebenden Muslime nicht nur Teil des europäischen Alltags sind, sondern in gewissem Sinne auch mentalitätsgeschichtlich zu Europa gehören.

Bekannter und auch unter Islamkritikern unstrittig ist weiterhin die Tatsache, dass die von den antiken Denkern Griechenland geprägte Philosophie, welche immer und immer wieder als geistige Grundlage des modernen Europa bezeichnet wird, über Jahrhunderte allein im muslimisch geprägten Kleinasien rezipiert wurde. Erst während der Renaissance kamen die Werke von Aristoteles sowie die damals einflussreichen, von dem Muslim Averroes verfassten Aristoteles-Interpretationen nach Europa.

Egal, wie man es also dreht und wendet: Der Islam gehört nicht nur zur deutschen und europäischen Gegenwart, sondern er ist auch geschichtlich eng mit Europa verbunden.

Doch damit sollte es auch genug des Rückblicks sein. Gerade Politikern, wie genanntem Horst Seehofer, sollte es nicht obliegen, die Rolle des Historikers, also des „rückwärtsgewandten Propheten“ (Hans-Ulrich Wehler) zu spielen. Die Aufgabe des Politikers ist es vielmehr, die Zukunft zu gestalten.

Bei dieser Zukunftsgestaltung soll durchaus berücksichtigt werden, dass quasi institutionalisierte Religionen immer auch missbraucht werden können und daher tatsächlich gewaltige Gefahrenpotentiale in sich tragen. Doch stets ist der differenzierte Blick zu wahren. Nie sollten Verallgemeinerungen und grobe Vereinfachungen zur Normalität werden. Und immer ist zu berücksichtigen, dass Religionen wie der Islam auch ein geistiges Korrektiv zu einer zunehmend eindimensional gewordenen Welt darstellen. In ihren Weisheitslehren sind oft tiefe Wahrheiten verborgen, die helfen können, das Leben intensiver, lebendiger und schlichtweg wunderbarer wahrzunehmen. Sie können helfen, ein tiefes Verständnis für so etwas wie eine Weltenseele für sich zu entdecken.

Wie ein Umgang mit dem Islam aussehen könnte, der nicht nur verbindlich und integrativ, sondern auch anregend und bereichernd wirkt, soll im letzten Artikel der Islamserie gezeigt werden.

 

Literatur:

Zygmunt Abrahamowicz: Die Türkenkriege in der historischen Forschung, Wien 1983.

Aleida Assmann: Der europäische Traum. Vier Lehren aus der Geschichte, München, 2018.

Klaus-Peter Matschke: Das Kreuz und der Halbmond. Die Geschichte der Türkenkriege, Düsseldorf u. a. 2004.

Jonathan Phillips: Heiliger Krieg. Eine neue Geschichte der Kreuzzüge, Bonn, 2012.

Ansary Tamary: Die unbekannte Mitte der Welt, Globalgeschichte aus islamischer Sicht, Bonn, 2010.

Christopher Tyerman: Die Kreuzzüge. Eine kleine Einführung, Stuttgart, 2009.

Holger Wohlfahrt: Die Vereinbarkeit des Unvereinbaren. Christliche Bibel und Koran: Vergleich der politischen Inhalte und ihrer Deutungen, Würzburg, 2017.

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