Der Wind wird sich drehen

 in FEATURED, Politik (Inland)

Wie bekommen wir unsere Freiheit wieder? Die Frage ist im Grunde falsch gestellt. Sie suggeriert erstens, dass die Jahre vor dem März 2020 pauschal mit »Die Freiheit« charakterisiert werden könnten, was eine idealisierte Darstellung der guten alten Zeit wäre. Zweitens deutet die Fragestellung an, dass eine Entwicklung hin zu mehr Freiheit in der Wiederherstellung des Zustands vor März 2020 gipfeln würde, dass darüber hinaus also keine Freiheit denkbar wäre. Dem ist nicht so, denn schon sehr lange liegt in dieser Hinsicht sehr vieles im Argen. Das betrifft die »bürgerlichen Freiheiten«, die Grundrechte, ebenso wie die sozialen und finanziellen Freiheiten, also die Möglichkeiten des Einzelnen, sich ein menschenwürdiges Leben durch eigene Arbeitskraft zu sichern – an einem demütigungsfreien Arbeitsplatz mit einem hohen Maß an Selbstverwirklichung. Das betrifft die Freiheit zu demonstrieren und die eigene Meinung öffentlich kundzutun. Nicht zu reden hier von der inneren Freiheit, der Fähigkeit, sein Leben ohne Ängste, Blockaden, Zwänge und Selbstboykott zu leben. Das betrifft die Freiheit auch innerhalb von Partnerschaften und Familien. Roland Rottenfußer

 

Der »Vormärz« – die Zeit vor dem März 2020 – dient nur als Orientierungsgröße, die das Minimum der zu erobernden Freiheit markieren soll. Aber wir sollten mit unseren Forderungen und Bewegungen darüber hinausgehen. Ja, große Ziele motivieren nicht nur, sie helfen auch strategisch im Umgang mit den Gegnern der Freiheit. Die arbeiten ja auch so: Sie forderten etwas völlig Abstruses, etwa 2G in Supermärkten, und als das Projekt nach erregten Debatten fallengelassen wurde, strahlten wir triumphierend wie ein Honigkuchenpferd – und merkten dabei gar nicht, dass es uns als Ungeimpften immer noch untersagt war, irgendwo öffentlich Kaffee und Kuchen zu uns zu nehmen. Wenn »das Schlimmste« abgewendet ist, geben wir uns zu leicht mit weniger Schlimmem zufrieden. Diesem Vorbild folgend, sollten wir an die Gegenseite sehr weit reichende Forderungen stellen, überspitzt gesagt: die weltweite Anarchie fordern, um dann am Ende eine libertäre Gesellschaft zu bekommen.

Natürlich wird auch diese Freiheit Grenzen brauchen. Aber wir können uns zum Beispiel für mehr Mitbestimmung in Betrieben einsetzen, für Volksabstimmungen auf Bundesebene, für eine Reduzierung der Straftatbestände, auf die Gefängnis steht, für mehr Freizeit und mehr finanziellen Freiraum für immer mehr Menschen. In den Monaten, in denen ich dabei bin, dieses Buchprojekt abzuschließen, erleben wir erfreulicherweise die größte Freiheitsbewegung, an die ich mich erinnern kann: Menschen gehen überall in Deutschland für eine freie Impfentscheidung und die Beendigung der Corona-Maßnahmen auf die Straße. Wenn uns dieser Schwung ans Ziel tragen sollte, sollten wir ihn nutzen, um noch ein wenig über die Ziellinie hinauszulaufen – in wirkliches libertäres Neuland. Die Menschen sind jetzt für das Freiheitsthema sensibilisiert. Sie haben »ex negativo« gelernt, wie wichtig es ist, ihr Leben weitgehend unbehelligt von der Staatsmacht zu führen.

Wir müssen nicht zwischen Despotismus und Chaos wählen. Letztlich ist die Alternative zwischen destruktivem »Laisser-faire« und beständiger paternalistischer Volksdressur nur eine scheinbare. Sie ist uns aufgeschwatzt worden, um unsere Solidarität mit der Letzteren zu stärken. Schon die indische Schriftstellerin Arundhati Roy machte darauf aufmerksam, »dass die Völker der Welt nicht zwischen einer böswilligen Mickey Maus und wild gewordenen Mullahs zu entscheiden brauchen«,[i] um sich dagegen zu verwehren, dass uns von den Medien ständig Scheinalternativen aufgedrängt werden. Auch wir müssen nicht wählen im Sinne eines absoluten Entweder-Oder. Wir können durch unser Denken und Tun einen »Dritten Weg« beschreiten. Dieser Weg wäre konstruktiv-libertär, basisdemokratisch, auf Toleranz und Pluralismus fußend. In jedem Fall müssen wir dazu den Zugriff der Freiheitsfeinde abwehren oder uns ihm entziehen. Die Freiheit braucht uns jetzt dringend; Ordnung, Sicherheit und Hygiene verfügen bereits über einen beachtlichen und äußerst aufdringlich agierenden Fanclub.

Freiheit und Herrschaft stehen stets in einem Spannungsfeld. Kein despotisches System war jemals für immer am Ruder. Keine Gedankenkontrolle war je so perfekt und flächendeckend, dass sich nicht hie und da Widerstand geregt hätte. Wird die Macht zu bedrängend, kann es sein, dass das Pendel in die Gegenrichtung ausschlägt. Darauf können wir in der derzeitigen Stimmungslage hoffen. Jedoch wäre auch eine frisch errungene Freiheit nie sicher – auch nicht jene, die wir in unserer Vorstellung mit der vollständigen Aufhebung aller »Corona-Maßnahmen« verbinden. Daher: Selbst wenn in den Monaten zwischen der Fertigstellung meines Manuskripts und dem Veröffentlichungstermin alle Masken gefallen sein sollten – trauen Sie dem Frieden nicht blind. Seien Sie gewiss, dass die Feinde der Freiheit bereits an einer Revanche arbeiten. Was es bräuchte, um der Freiheit weltweit wieder Geltung zu verschaffen, wäre kein »Rebelliönchen« – nötig wäre ein Epochenumbruch auf der Basis eines tiefgreifenden kollektiven Mentalitätswechsels. Anzeichen hierfür gibt es – so wie die ersten Schneeglöckchen Ende Januar nur ein kleiner Vorgeschmack des Frühlings sind, jedoch noch nicht der Frühling selbst.

Die US-Autorin Naomi Wolf entwickelte in ihrem Buch Wie zerstört man eine Demokratie?[ii] folgende Theorie: Amerikaner und Europäer neigten dazu, die freiheitliche Demokratie, in der sie leben, als unsterblich zu betrachten. Eine pure Selbstverständlichkeit, für deren Bewahrung man sich nicht einsetzen müsse. Die Geschichte, sagt die Autorin, spreche allerdings eine andere Sprache. Nicht die Demokratie, sondern die Tyrannei sei unsterblich und finde nach Zeiten des Rückzugs immer wieder Wege zurück auf die Bühne der Geschichte. Sie begründet dies für die USA unter anderem mit der McCarthy-Ära und mit Grundrechtseinschränkungen während des Zweiten Weltkriegs. Das Corona-Geschehen ist vielleicht die aussagekräftigste Bestätigung von Wolfs prophetischen Worten.

Wichtig ist, dass wir uns abgewöhnen, in Sachen Demokratie und Freiheit zu anspruchslos zu sein. Selbst wenn mancher die derzeitige Situation als »nicht so schlimm« empfinden mag – nicht erst der letzte Stein in der Mauer, der uns den Blick auf den blauen Himmel endgültig verdeckt, stellt eine Gefahr dar. Schon der erste, mit dem der Bau der Mauer begonnen hat, war ein Verbrechen, dem mit aller Entschlossenheit hätte Einhalt geboten werden müssen. In der Serie Star Trek: The Next Generation, Folge »Das Standgericht«, wird die Besatzung der Enterprise von einer diktatorischen Funktionärin, Admiral Satie, terrorisiert. In einem inszenierten Verhör sagt Captain Picard: »Mit dem ersten Glied ist die Kette geschmiedet. Wenn die erste Rede zensiert, der erste Gedanke verboten, die erste Freiheit verweigert wird, sind wir alle unwiderruflich gefesselt. (…) Wenn die Freiheit irgendeines Menschen zum ersten Mal beschnitten wird, ist das ein Schaden für alle.«

Nachdem die vorübergehende Diktatur auf dem Raumschiff abgeschüttelt werden konnte, sagt Picard zu seinem Mitstreiter Worf: »Wir glauben, so fortschrittlich zu sein. Folterungen von Ketzern, Hexenverbrennungen halten wir für Geschichte. Und dann, bevor man sich versieht, droht alles wieder von vorn anzufangen. (…) Schurken, die ihre Schnurrbärte zwirbeln, sind leicht zu erkennen. Die aber, die sich in gute Taten kleiden, sind hervorragend getarnt. (…) Sie [Admiral Satie] oder jemand wie sie wird immer da sein und auf den richtigen Moment warten, um an die Macht zu gelangen und Furcht zu verbreiten im Namen der Rechtschaffenheit. Wachsamkeit, Mr. Worf, das ist der Preis, den wir kontinuierlich zahlen müssen.«

Wir haben wieder nicht aufgepasst. Wir haben uns einlullen lassen von einer verführerisch daherkommenden Solidaritätskampagne und vom missionarischen Konformismus der meisten unserer Landsleute. Doch die Stimmung ist seit Dezember 2021 besser geworden. Der als Corona-Protestsänger zu einiger Bekanntheit gekommene Rockmusiker Alex Olivari sang:

 

»Und wir werden jubeln, wenn die Ketten zerspringen
Wir tanzen in jedem Palast
Und werden Lieder der Freiheit singen
Das Blatt wird sich wenden
Der Wind wird sich drehen.«

 

Sind Sie je dem Gedanken nachgegangen, wie es wäre, wenn »wir« uns in dieser Auseinandersetzung durchsetzen würden? Haben Sie sich das Freudenfest vorgestellt? Haben Sie dem Gedanken nachgespürt, wie es sich anfühlen würde? Was würden Sie tun? Mit wem würden Sie feiern wollen? Und wie würden Sie sich denen gegenüber verhalten, von denen Sie sich in der harten Zeit verraten gefühlt haben? Ein solches sinnlich vorgestelltes Zukunftsszenario könnte eine enorme Anziehungskraft entwickeln und dahin tendieren, Wirklichkeit zu werden. Ist ein lahmes »Na gut, dann ist es jetzt vorbei« wirklich der Gipfelpunkt unseres Vorstellungsvermögens? Das Regime hat unsere Welt schon so lange hässlich und grau gemacht, dass wir uns teilweise die Farben schon nicht mehr vorstellen können. Da hilft die Erinnerung an die Freiheit, die zumindest den Älteren unter uns noch möglich sein sollte.

Aber wie kommen wir dahin? Genau genommen wäre es anmaßend von mir, hier einen Fahrplan zur Freiheit zu veröffentlichen. Ich bin selbst noch nicht als Initiator einer geglückten Revolution in Erscheinung getreten. Hätte ich das Patentrezept, würde ich es Ihnen gewiss mitteilen. Ja, ich bin für Demonstrationen in möglichst großem Umfang überall im Land. Diesbezüglich hat sich seit der Wintersonnenwende 2021 vieles getan. Ja, ich bin für fantasievolle Protestaktionen. Für den Kampf gegen Entrechtung auf der juristischen Ebene. Für das Nicht-Zurückweichen an jedem Stammtisch und in jedem privaten Gespräch. Für das Versenden von Informationsmaterial an jeden, von dem irgendwie anzunehmen ist, dass er es zur Kenntnis nimmt. Ich bin für Aufklärungsarbeit auf allen für uns zugänglichen Kanälen: Medien und »sozialen Medien«.

Der Wind dreht sich als Ergebnis vieler kleiner »Drehungen«, die im Inneren unserer Mitmenschen stattfinden, wenn ihnen plötzlich bewusst wird, was »die« die ganze Zeit mit uns gemacht haben. Wenn sich plötzlich der große Zorn aus dem Gefängnis abwägender Vernunft und antrainierter Konformität befreit und wir ungläubig vor unserer eigenen bisherigen Duldsamkeit dastehen. Es bewegt sich immer etwas, wenn jemand aufsteht, das Korsett »üblicher« Floskeln und Verhaltensmuster durchbricht, sich mit der Wahrheit – seiner Wahrheit – nackt und ungeschützt vor seinen Widersacher stellt. Ohne Rücksicht auf dessen befürchtete Reaktionen. Ohne Rücksicht auf die Folgen. Es wäre ein »Der-Kaiser-ist-nackt«-Moment, der ein Durchbruch sein kann – auch kollektiv. Das kann schiefgehen und am Ende nur dem Mutigen selbst schaden, wenn es zum falschen Zeitpunkt stattfindet; es kann aber etwas Großes bewegen, wenn es zum richtigen Zeitpunkt passiert. Es kann ein Schlag ins Wasser sein – oder der Schneeball, der die Lawine zum Rollen bringt.

Es muss mit einem Einzelnen begonnen haben – mit einem mutigen Menschen, der auf einmal anfing, 1989 auf einer Jubeldemonstration für den rumänischen Diktator Ceaușescu zu pfeifen.[iii] Er musste gewusst haben, dass das gefährlich war. Er sprang ins Risiko und veränderte die Geschichte. Sein Solo schwoll an zu einem mächtigen Pfeifkonzert. Die Menschen auf dem Platz buhten ihren Staatschef offen aus. Ceaușescu, der es gewöhnt war, unangefochten in gelenkter Zustimmung zu baden, geriet ins Stocken. Sekunden später blendete das rumänische Fernsehen die Live-Übertragung aus. Einen Tag später war der letzte Tyrann des »Ostblocks« Vergangenheit. Eine Revolution ohne Gewalt aus der Macht ansteckender Überzeugung heraus. Solche Vorfälle begeistern uns, aber wir erfahren selten von ihnen. Vielleicht auch, weil Machthaber und ihre Steigbügelhalter in den Medien sich scheuen, uns davon zu erzählen. Zu viel Angst haben sie wohl, einmal selbst auf den Balkonen ihrer angemaßten Überlegenheit von uns ausgebuht zu werden. Übertragen Sie das Beispiel im Gedanken auf destruktive Politikerinnen und Politiker der Gegenwart. Es spricht viel dafür, dass das »Momentum« jetzt auf unserer Seite wäre – jetzt, da ich dies schreibe, und erst recht, wenn mehr Zeit ins Land gegangen ist und Sie das lesen.

In diesem Kapitel will ich aber über Selbstverständlichkeiten wie »Gehen Sie demonstrieren!« hinausgehen. Ich will noch ein paar Anregungen geben, die nicht überall in der »Corona-Skeptiker«-Literatur zu lesen sind. Vor allem will ich sichergehen, dass das, was ich schreibe, über Corona hinaus Bestand hat. Denn das »nächste Corona« kommt bestimmt, und wir sollten nicht wieder so unvorbereitet da hineinlaufen. Die Themen, um die es geht, wurden teilweise schon angesprochen: Klima, Terrorismus, Krieg, neue Flüchtlingswelle, Wirtschafts- und Finanzcrash, Ausbau der technischen Überwachungsstruktur mit oder ohne konkreten Anlass, Stromausfall oder auch eine Krise, die ich mir jetzt nicht einmal vorzustellen vermag. In all diesen Fällen dürfte die Freiheit als erster Ballast über Bord geworfen werden, sofern wir nicht mit großer gedanklicher Klarheit und mutig zu ihr stehen. Dazu müssen wir als Erstes die Narrative der Freiheitsfeinde durchschauen und widerlegen.

 

 

[i] Arundhati Roy, Stupid White House, in: Le Monde Diplomatique, 14.3.2003, https://monde-diplomatique.de/artikel/!800844

[ii] Naomi Wolf, Wie zerstört man eine Demokratie. Das 10-Punkte-Programm, Riemann, München 2008

[iii] Ceaușescus letzte Rede ist als Videofilm erhalten: https://www.youtube.com/watch?v=wWIbCtz_Xwk

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