Frieden ist der Weg

 In FEATURED, Friedenspolitik

Vielfältiger und kreativer Widerstand sind effektiver als Konkurrenz und Gewalt. Das System, das seit dem Kalten Krieg der Entwicklung der Menschheit seinen Stempel aufdrückt, ist nicht zukunftsfähig. In dieser Situation kommt immer wieder ein Spruch ins Gespräch, der mit Rosa Luxemburg in Verbindung gebracht wird: „Sozialismus oder Barbarei“. Letztere greift immer mehr um sich: Wirtschaftskriege und Sanktionen wichtiger Vasallenstaaten des Kapitals gegen Länder, die man gefügig machen will, führen zum Zerfall in sogenannte „failed states“. Derweil wachsen auch noch die ökologischen Gefahren für die Zukunft. Können wir eine gerechte, ökologische und am Gemeinwohl orientierte Gesellschaft mit pazifistischen Mitteln erreichen? Bernhard Trautvetter

Die Diskussion über Pazifismus als Versuch, den Lauf der Dinge in zukunftsverträgliche Bahnen zu lenken, berührt die zentrale Frage des politischen Engagements in der heutigen Zeit. Es geht um die Frage: Ist das System der Konkurrenz und des Primats der Rendite von Anteilseignern — in der marxistischen Begrifflichkeit des Profits von Kapitaleignern — überhaupt durch eine wirkliche Alternative zu überwinden?

Pazifismus wird oft diskreditiert. So schrieb zum Beispiel der „Welt“-Journalist Henryk M. Broder vor einigen Jahren über den deutschen Pazifismus, dass er „… sich vor allem gegen jene richtet, die ihn mit ihrem militärischen Einsatz erst ermöglicht haben. Ohne die Intervention der Alliierten gäbe es keine Friedensbewegung in Deutschland, keine Ostermärsche, … Der Pazifismus des 21. Jahrhunderts ist ein Lebensstil, für dessen Kosten andere aufkommen. Es ist weniger die Liebe zum Frieden als vielmehr der Wunsch, sich die Hände nicht schmutzig machen zu müssen“ (1).

In der Tat war der deutsche Faschismus, der den zweiten Weltkrieg mit zig Millionen Toten ausgelöst und immer weiter forciert hat, mit Waffengewalt niedergekämpft worden. Es ist auch offen, ob eine konsequent pazifistische Opposition in allen Ländern, die er überfallen hat, von der Sowjetunion bis in den afrikanischen Kontinent, eine Chance gehabt hätte.

Nur das Beispiel Guernica, das einen Terror-Luftangriff der Nazi-Luftwaffe erlitt, zeigt, dass gewaltfreier Widerstand bestimmte Kriegsverbrechen kaum hätte verhindern können. Ähnliches gilt für Hiroshima und Nagasaki. Diese beiden Städte und mindestens ebenso Tokio und Dresden mit ihrem von den Alliierten ausgelösten Feuersturm im Bombenhagel zeigen, dass offensichtlich auch ein als Verteidigungskrieg begonnener Waffengang dafür anfällig ist, zum Kriegsverbrechen zu entarten (2). Neonazis missbrauchen diese Verbrechen für ihr Propaganda-Ziel, Hitler und den NS-Staat irgendwie von seiner ungeheuren Schuld zu entlasten, als ginge das zum Beispiel durch Abwälzung.

Der differenzierte Blick auf die Fragen nach dem Sinn des Pazifismus im Angesicht der Gewalt erfordert ein genaueres Hinsehen auf die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts und auf die Infrastruktur, von deren Funktionieren unser Leben abhängt. Jede Entwicklung, die die Gefahr eines Zusammenbruchs der Lebensadern unserer Gesellschaft heraufbeschwört, verbietet sich im Angesicht der Abhängigkeit des Lebens vom Funktionieren der Infrastruktur.

Europa mit seinen circa 200 Atomreaktoren, mit seiner alltäglich zunehmenden Abhängigkeit von digitalen Abläufen im Internet und in Endgeräten, mit seiner verletzlichen Ressourcen-Ver- und -Entsorgung, einem elektronisch basierten Gesundheits- und Bankensystem, seiner hochempfindlichen Verkehrsinfrastruktur würde einen mit militärischer Gewalt ausgetragenen Konflikt nicht überleben. Die einzige realistische Aussicht auf Veränderungen ergibt sich aus dem Weg des gewaltfreien Widerstandes gegen das Unrecht.

Gandhi und die Bürgerrechtsbewegung in den USA in den Jahren von Martin Luther King und auch nach seiner Ermordung verfolgten ein Konzept, das sich nicht in pazifistischer Friedfertigkeit erschöpft.

Es geht darum, die neuralgischen Punkte der Macht des Gegners anzugehen, um der Öffentlichkeit die Überwindbarkeit seiner Herrschaft so vorzuführen, dass sich der Protest gegen das Unrecht mit der Zivilcourage verbindet, die der Solidarität und Humanität entspringt.

In den USA machten die Menschen mit farbiger Hautfarbe das Unrecht deutlich, das dem demokratischen Selbstanspruch Hohn sprach. Dadurch hob der Protest an.

Das englische Commonwealth-Regime hatte es Indern verboten, Textilien und Salz zu produzieren, sodass die fremden Herrscher über eine einfache und ungefährdete Geldquelle verfügten, um sich durch den Verkauf von Textilien und Nahrungsmitteln wie dem Salz finanzieren und die unterdrückte Bevölkerung in Abhängigkeit halten zu können. Gandhi kündigte an, wann er wo Salz aus Meerwasser gewinnen wolle und wann er wo mit einem Spinnrad Fäden produzieren werde. Die Weltpresse war informiert, und die Bilder, wie die brutalen Kolonialherren gegen die einfachen Menschen in seinem Land vorgingen, zeigten der Öffentlichkeit die Illegitimität der Macht.

Es ging hier mitnichten nur um Gewaltlosigkeit. Der Pazifismus verband sich mit der nichtkooperativen Provokation und einer systematischen Öffentlichkeitsarbeit. Zusätzlich war den Vorkämpfern dieses Politik-Konzepts eines klar: Wenn sie den Weg der Gewaltlosigkeit verlassen, bieten sie der Macht einen Vorwand für einen brutalen Gegenschlag, der dann die gesamte — auch weniger beharrlich vorgehende — Opposition verfolgt und im Keim erstickt.

Die Erfolgsaussichten von politischem Engagement unter Rückgriff auf Gewalt oder auf rein gewaltfreie Vorgehensweisen sind Thema von Studien, die Maria Stephan, Direktorin des Programms „Gewaltfreie Aktion“ und die Politikwissenschaftlerin Erica Chenoweth auswerten.

Eine dieser Studien hat 2011 weltweit die Diskussion über Theorie und Praxis von sozialem Engagement bereichert:

In „Why Civil Resistance Works“ (3) untersuchten hunderte Kampagnen zivilen Widerstands gegen Ungerechtigkeit, Zerstörung von Lebensgrundlagen und Unterdrückung, die zwischen 1900 und 2006 von mindestens eintausend Menschen, meist viel mehr getragen wurden.

Diese Bewegungen stellten sich meistens nicht nur gegen etwas, sondern sie verfolgten oft auch Ziele wie die Bewahrung von Lebensgrundlagen der Menschen in der Region und darüber hinaus, oder sie setzten sich für eine Erweiterung demokratischer Gestaltungsmöglichkeiten für einzelne und damit für die gesamte Gesellschaft ein.

Zum Spektrum der Bewegungen gehören solche, die eine direkte Konfrontation mit der Macht suchten. Oft handelte es sich um solche, die unterschiedliche Formen der Nicht-Kooperation im Angesicht struktureller Gewalt in Verbindung mit Ungerechtigkeit und Zerstörung von Lebensgrundlagen praktizierten. Andere Kampagnen setzten sich friedfertig für ein soziales Miteinander ein.

Konkret ging es beispielsweise um die Bewegung von Indianern, die in den USA gegen ihre Benachteiligung aufbegehrten, und die sich für ihre Unabhängigkeit vom System der weißen Mehrheit und Macht engagieren (Indian Independence). Auch der gewaltfreie Widerstand in Dänemark gegen die faschistischen Besatzer während des zweiten Weltkrieges ist Gegenstand der Forschung über Formen zivilen Ungehorsams, so beispielsweise Verfolgte zu verstecken, über unauffälligen Regelbruch und andere Formen der Nicht-Kooperation.

Zudem wurden ebenfalls die Anti-Apartheid-Bewegung im damals von der weißen Minderheit diktatorisch regierten Südafrika sowie die Solidarnosc-Bewegung in der Schlussphase der Existenz der Volksrepublik Polen untersucht. Weitere Beispiele für die Bewegungen, die für die Studie interessant sind, sind die gewaltfreie Bürgerrechtsbewegung gegen die Rassendiskriminierung in den USA in der Zeit Martin Luther Kings und danach sowie der antifaschistische Widerstand gegen die 1973 unter CIA-Beteiligung installierte chilenische Militärdiktatur (4).

Die Studien ergaben, dass gewaltfreie Kampagnen ab einer Beteiligung von 3,5 Prozent der Bevölkerung repressive Macht, Diktaturen und Besatzungsregimes beenden können. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Partizipation unterschiedlichster Bevölkerungsteile, von Menschen unterschiedlichen Alters, die unterschiedlichen sozialen Gruppen angehören. Je mehr unterschiedliche Bevölkerungsschichten aktiv sind, umso aussichtsreicher sind die Nachhaltigkeit und die Erfolgsaussichten ihres Engagements.

Der Erfolg wird umso aussichtsreicher, je unterschiedlicher und kreativer die Aktiven ihre Aktionsformen gestalten. Das umfasst klassische Aktionsformen wie möglichst breit verankerte Streiks, Sit-Ins, Demonstrationen und Kundgebungen, auch das breit verankerte Zuhause-bleiben und Konsumstreiks zählen zu den Aktionsformen. Ihr Erfolg hängt zudem davon ab, ob sie — wie das Gandhi praktizierte — an neuralgischen Punkten der sozialen und ökonomischen Basis der Macht ansetzen. Je kreativer sie abwechselnd eingesetzt werden, umso hilfloser reagiert die Repression, wodurch ihre Machtbasis schwindet. Macht hängt davon ab, dass der ökonomische Kreislauf von Produktion und Konsum floriert. Andernfalls ist die Gesellschaft nicht mehr in der Lage, unter der Herrschaft zu existieren, und die Herrschenden sind unfähig, dem Lauf der Dinge ihren Stempel aufzudrücken.

Quintessenz: Gewaltfreier Widerstand als Form zivilen Ungehorsams lebt von seiner größeren öffentlichen Wirksamkeit und von seiner Transparenz, die mit davon abhängt, dass ein kluges System aus Information, Kampagne, Partizipation und Medienarbeit existiert. Ein Wechselspiel aus Methoden der Konzentration von Menschen bei Sit-Ins, Demonstrationen einerseits und Streuung etwa in Form von Konsumentenboykott andererseits erhöht die Erfolgsaussichten. Diese Form der Nicht-Kooperation bedeutet für eine noch so repressive Macht eine Erschwernis, einen erfolgreichen Gegenschlag zu führen.

Im Vergleich zu gewaltsamem Widerstand ist die Schwelle, dass sich Menschen an den Aktionen beteiligen, geringer, der Einzelne muss niedrigere Barrieren bei seiner Motivierung überwinden. Und die Gewalt sozialer Bewegungen führt immer wieder nicht nur zu einer weiteren Verbreitung von Leid, sondern sie eröffnet der Macht auch immer neue Formen der Legitimation für immer neue Instrumente der Unterdrückung. So wurde bekannt, dass die Macht bei den Demonstrationen gegen den G 8-Gipfel in Heiligendamm Agents Provocateurs bezahlte, um mit der Gewalttätigkeit dieser Kräfte die Gegengewalt zu rechtfertigen (5).

Wenn es einen Weg zu einer anderen Gesellschaft gibt, die den Kapitalismus zur Geschichte machen kann, dann ist es der Weg der Gewaltlosigkeit. Ob das geht, ob das noch geht, ist offen. Es ist einen Versuch wert. Denn ohne eine Strategie, die die Zerstörung der Lebensgrundlagen durch Gewalt zu vermeiden versucht, gibt es keinen Weg in eine überlebensfähige, in eine zukunftsfähige Gesellschaft.

Quellen & Anmerkungen:

(1) http://www.kath.net/news/46489
(2) Veranschaulichendes Bsp. hierzu: s. Daniel Ellsberg zum Terrorangriff auf Tokyo am 26.5.1945: https://www.democracynow.org/2017/12/6/doomsday_machine_daniel_ellsberg_reveals_he
(3) https://cup.columbia.edu/book/why-civil-resistance-works/9780231156820
(4) http://magazin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/41652296
(5) https://www.jungewelt.de/artikel/88485.was-geschah-in-heiligendamm.html

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Dank an den Rubikon, www.rubikon.news, wo dieser Artikel zuvor erschienen ist.

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