Fuckland (1/2)

 In FEATURED, Kurzgeschichte/Satire

Die Wahrheit über Deutschlands erfolgreichsten Sex-Discounter. Supermärkte und Discounter prägen das Einkaufsverhalten wie keine andere Einrichtung des modernen Lebens. Billig, abwechslungsreich und dabei übersichtlich – wer möchte auf diese unschlagbare Mischung verzichten? Merkwürdig nur, dass sich dieses Prinzip bei einem besonders bei ganzen Kerlen beliebten “Produkt” lange Zeit nicht durchgesetzt hatte. Das ist seit dem Boom der Fuckland-Filialen jetzt anders. Ein HdS-Mitarbeiter hat sich so einen Laden mal genauer angeschaut. Ein Rätsel allerdings blieb bisher ungelöst: Was bewegt Frauen, sich derart billig zu verkaufen?  Satire: Roland Rottenfußer

Zugegeben, Annas Verlust hat mich aus der Bahn geworfen. Vor allem auch sexuell. Nicht, dass noch allzu viel gelaufen wäre zwischen Anna und mir in den letzten zwei Jahren. Madame hat ein karriereorientiertes Quasi-Zölibat vorgezogen. Aber die Beziehung zu Anna hatte mit den Jahren eine Versteinerung meines Emotionalkörpers, ein Einfrieren der natürlichen Energieströme erzeugt, das mich gleich einer Betäubungsspritze vor dem Schlimmsten bewahrte. Ich litt nicht mehr unter mangelnder sexueller Betätigung, weil ich nicht einmal mehr fähig war, mir Sex zu wünschen. Mit Annas Abschied aber begann das Eis zu tauen, bei nachlassender Wirkung der Betäubung wurden die Schmerzen stärker spürbar. Und auch der Wunsch nach schneller Entladung drängte sich mit der Vehemenz eines Heißhungergefühls nach überstandener schwerer Krankheit auf.

Meine Misere hätte sich sicher noch eine Weile hingeschleppt, wenn ich nicht an einem milden Vorfrühlingstag auf der Straße, auf dem Weg zur Arbeitsagentur, Roy begegnet wäre. Roy, meinem alten Schulkameraden, der schon mit 14 als ganzer Kerl und Schulhof-Womanizer bekannt gewesen war, während ich meine pubertierenden Sexfantasien noch im Kinderzimmer über Farbausdrucken der Fotos von Vicky Bolero ausgelebt hatte. Wenn jemand wie mein Schulfreund Roy mich also fragt „Wie läuft’s?“, dann ist von vornherein klar, dass er jetzt keine langatmigen Schilderungen meiner wenig prestigeträchtigen beruflichen Erfahrungen wünscht. Roy, der ganze Kerl, der Womanizer, ist nur an einer einzigen Information interessiert: Habe ich Sex, und wenn ja: mit wem, wie oft und in welcher Stellung?

Ich habe ihm die Wahrheit über meine hormonelle Misere gewiss nicht in der Absicht mitgeteilt, Mitleid oder gar direkte, praktische Hilfe zu erbetteln. Es war wohl eher eine etwas nostalgische Treue zur Wahrheit um ihrer selbst willen. Roy, mein Schulfreund, jedenfalls wusste nach einer halbe Minute Bescheid und hatte sogleich einen für mich schockierenden Vorschlag parat: „Was einem nicht freiwillig gegeben wird, muss man kaufen“, sagte er forsch und fügte, wie um meinen unvermeidlichen finanziellen Einwand vorwegzunehmen, hinzu: „Komm, ich lad dich ein!“

„Roy, das ist wirklich lieb von Dir, aber ich kann das nicht annehmen“, erwiderte ich unsicher. Das war gelogen, denn in Wirklichkeit war es mir völlig egal, von Roy, der, wie ich wusste, in Geld schwamm, etwas anzunehmen. Ich hatte schlichtweg Schwellenangst bei dem Gedanken, in einen Puff zu gehen. Ich war nämlich noch nie in einem gewesen. Aber das konnte ich jemandem wie Roy noch viel weniger anvertrauen als alle anderen Details meiner an Peinlichkeiten nicht armen Existenz. „200 Euro“, sagte ich und mimte mit Hilfe meines angelesenen Wissens über die Preisgestaltung im Rotlicht-Milieu den Erfahrenen, „so viel möchte ich von dir nicht annehmen.“

„Ach was“, erwiderte Roy jovial, „wer redet denn vom teuren Einzelhandel. Wir gehen natürlich zu Fuckland. Da bekommst du eine Standardnummer schon ab 20 Euro.“

Ich hatte natürlich schon von Fuckland gehört, der großen Sex-Discounter-Kette, deren Filialen in den letzten zwei Jahren in ganz Deutschland wie Pilze aus dem Boden schossen. Ich hatte auch gehört, dass die Preise dort alles bisher da Gewesene unterboten, dass alteingesessene Zuhälter über Dumpingpreise klagten und in manchen Regionen dem totalen Ruin ihres traditionell lukrativen Gewerbes ins Auge sehen mussten. Als ein Kind der „alten Welt“ mit ihren ineffektiven Gesetzmäßigkeiten hatte ich käuflichen Sex immer unhinterfragt als etwas abgespeichert, das für mich nicht in Betracht kam – aus finanziellen Erwägungen wie auch aufgrund einer lästigen Schüchternheit, die aus meinem Leben so wenig wegzudenken ist wie mein eigener Schatten. Die Preisvorstellungen, die mein Schulfreund Roy nannte, veränderte zumindest eine dieser Grundbedingungen radikal.

Ich versuchte, mir ins Gedächtnis zurückzurufen, was ich über die Fuckland-Kette wusste. Die Gründer des Unternehmens, die Brüder Schnidl, galten als zwei der 10 reichsten Menschen in Deutschland. Die Zahl der Filialen im deutschsprachigen Raum belief sich auf eine vierstellige Zahl und wuchs im Tempo einer galoppierenden Virus-Epidemie immer weiter. Ein Blick auf die Karte mit den Filialen, die ich der Fernsehwerbung entnommen hatte, zeigte, dass der Raum für die letzten Fuckland-freien Winkel der Republik bedrohlich zusammenschrumpfte. Die Karte war mit roten Punkten übersät wie das Gesicht eines infizierten Kindes mit Masern.

Als Gründe für den fulminanten Erfolg dieser Geschäftsidee wurden in der Presse einerseits die kaum zu unterbietenden Preise für sexuelle Dienstleistungen aller Art genannt; andererseits die übersichtliche Raumgestaltung, die dem Stammkunden rasche Orientierung bei reduzierter Angebotspalette bot. Egal welche Fuckland-Filiale man betrat, stets fand man gleich neben dem Eingang rechts deutsche Frauen, die ausschließlich die Missionarsstellung anboten, links das europäische Ausland, nach der ersten Kurve Aufhock- und Nashornstellung sowie Oralverkehr, nach der zweiten Kurve Analverkehr – alle Techniken wiederum gestaffelt nach Frauentypen: rothaarigen, blonden, älteren, jüngeren, dicken, dünnen. Im ersten Stock waren dann dunkelhäutige und asiatische Frauen sowie gewisse Sonderdienstleistungen abrufbar: dominante, sadistische und besonders devote Frauen, Accessoirs für Liebhaber des Besonderen wie Stachelhalsband, Hohlraumvibrator oder Penisschrauben. Schließlich im letzten Gang des ersten Stocks homosexuelle Dienstleistungen, Dreier- und Viererkonstellationen sowie Gruppenorgien.

Es war seltsam, wie ich mir all diese Details gemerkt hatte. Vielleicht lag es an den einprägsamen Slogans und der genialen Werbestrategie des Sex-Discounters. Allein der schlichte, tausendfach in die Köpfe der Radiohörer gehämmerte Satz „Sex? – Fuckland!“, suggerierte, dass ein anderer Anbieter als Fuckland in keiner Weise in Betracht kommen konnte. Die daran anschließende „Geil trifft billig“-Anzeigenserie arbeitete mit wechselnden Bildern verführerisch aussehender Frauen, die den Betrachter mit Sätzen wie „Auch DU kannst mich haben, jederzeit!“ und „Großer Spaß zu kleinen Preisen“ anmachten.

Die neueste Fuckland-Kampagne bediente sich geschickt der ungeheuren Popularität des übergewichtigen Volksschauspielers Willi Wampert, dessen in bayerischer Mundart vorgetragene Statements Kult geworden sind – Pop-Mantras einer Epoche, die vom Boom der Sex-Discounter geprägt wurde wie von keinem anderen gesellschaftlichen Phänomen. „Bei Fuckland gib’s jetzt 30 Prozent Rabatt auf alles außer Oralverkehr. Bläd werd i sei und wo anders vögeln geh’!“, gab Publikumsliebling Wampert zum Besten. Eben diese „Bläd werd i sei“-Serie von Radiospots wurde in Umfragen zur beliebtesten Werbekampagne des Landes gekürt. Bilder von einem zufrieden grinsenden, behäbig-volkstümlichen Willi, an den sich eine lüstern drein schauende Domina in Vampir-Lady-Outfit schmiegte, prägte die visuelle Komponente der Fuckland-Werbung.

„Bläd werd i sei!“, zitierte mein männlicher Schulfreund Roy mit offensichtlichem Frohmut in der Stimme und gab mir dabei einen männlichen Klaps auf die Schulter. „Na was ist, du wird doch nicht so blöd sein, dir mein Angebot entgehen zu lassen?“ Als ich etwas betreten schwieg, fügte Roy hinzu: „Na, ich weiß ja, du bist ein unverbesserlicher Softie. Das warst du schon in der Schule. Aber man kann’s auch übertreiben. Die soziale Situation des Nutzers sexueller Dienstleistungen hat sich in den letzten Jahren drastisch gebessert, der einzige Bereich, in dem es aufwärts geht im Moment. Fuckland, das ist eine Revolution, die Befreiung des Mannes von Jahrhunderte lang erlittenen Entbehrungen. Ja, ich gehe so weit zu sagen, dass Fuckland einem Mann erst wieder ermöglicht, Mann zu sein – sogar einem Flachwichser wie Dir.“ Ein erneuter Klaps auf meine Schulter, Roys charakteristisches Siegergrinsen aus zwei breiten, makellosen Zahnreihen. „Also, was ist? Gib es doch wenigstens zu, dass du geil bist!“

Wenige Momente später hatte ich mit Roy eine Verabredung für denselben Abend. Ich konnte ja nicht zugeben, dass mich etwas so Banales wie Lampenfieber noch zögern ließ, den entscheidenden Schritt zu tun. Ehrlich gesagt, war mir fast schlecht vor Angst, jedenfalls fühlte sich mein Magen an, als befände ich mich in einem Fahrstuhl, der mit 100 Metern pro Sekunde abwärts rast. Ein frühlingshafter Himmel in zarten Pastellfarben, rosa, hellblau und ein wenig verwaschener Goldton, überzog das graue Industriegebiet meiner Heimatstadt mit seinen öden Shoppingturnhallen und den Parkplatzwüsten mit einem etwas beschönigenden Glanz. Es roch verheißungsvoll nach den ersten Blüten, und ich gebe zu, dass sich neben meiner Schwellenangst und einer Vielzahl von Zweifeln intellektueller und grundsätzlicher Natur auch Lust regte.

„Hast du die Presseberichte nicht gelesen?“, fragte ich Roy unterwegs, so als ob irgendein noch so wohl durchdachter Einwand meinen Schulfreund noch von seinem Ziel abbringen könnte. „Ich meine von der Ausbeutung der Reinigungskräfte und Kassierer, von der Auflösung der Gewerkschaften und von Prostituierten, die Fuckland angeblich gegen ihren Willen von den Philippinen hat einfliegen lassen.“

„Mein Lieber“, erwiderte Roy gereizt, aber betont geduldig, wie man einem Kind einen schwierigen Sachverhalt erklärt. „Ich bin nur aus einem einzigen Grund hier: um zu ficken. Und zwar billig zu ficken. Du tust gut daran, deinen verdammten Kopf einmal auszuschalten und einfach zu genießen, oder fällt es dir so schwer, zu genießen?“

Ohne meine Antwort abzuwarten, fuhr Roy fort: „Vor fünf Jahren noch galten Hummer, Sushi oder Eismeerkrabben als unerschwingliche Delikatessen für die Schickeria. Und heute? Jeder Proll lädt sie sich bei CheapKauf für fünf Euro in den Einkaufswagen. Vor zwei Jahren wiederum galt der Besuch bei einer Prostituierten als purer Luxus, den man sich, wenn man nicht zu den Reichen im Land gehörte, höchstens einmal im Monat gönnte. Heute ist der Besuch bei Fuckland alltäglich wie der Gang zur Leihvideothek um die Ecke. Fuckland hat Unschätzbares zur Befreiung der männlichen Sexualität beigetragen. Sei dankbar und genieße!“

„Aber die Mädchen, ich meine, wie müssen die sich fühlen …?“, wandte ich vorsichtig ein.

„Mein Lieber!“ Roy war jetzt stehen geblieben, stemmte die Hände in die Hüften und versuchte in seinen Blick jenes entschlossene, einschüchternde Funkeln zu legen, das ich seit Schulhofzeiten an ihm kann und mit dem er mich immer wieder hatte beeindrucken können. „Damit das ein für alle mal klar ist: diese Frauen sind Nutten. Sie verdienen ihr Geld damit, sich ficken zu lassen. Keiner ist in einem freien Land wie dem unseren gezwungen, sich ficken zu lassen, wenn er sich nicht dazu entschlossen hat. Verstehst du: Wie du lebst, auf welche Weise du dein Geld verdienst, ob du dich gut fühlst mit dem, was du tust, das alles ist einzig und allein die Folge von Entscheidungen, die du getroffen hast. Also kein Mitleid mit den Nutten. Die können froh sein, wenn sie einen stattlichen Burschen wie dich kriegen können, keinen ungepflegten Greis.“ Klaps auf die Schulter. Siegerlächeln.

Roys Grinsen hatte einen gierigen, raubtierhaften Zug angenommen. „Also, wenn ich eine Empfehlung aussprechen darf: Vielleicht hältst du dich besser an die Nutten ganz vorne am Eingang rechts: die mit der Missionarsstellung. Du hattest ja …“ – Roy konnte sich angesichts des Witzes, der ihm auf der Zunge lag, schon im Voraus vor Lachen kaum halten – „du hattest ja schon immer in deinem Wesen etwas Missionarisches. Du hast dauernd Predigten gehalten, und schon deine Schulaufsätze: triefend vor Moral. Spion in geheimer Missionarsstellung. Das ist herrlich!“

Roys unbestrittener Unterhaltungswert hatte mich jedenfalls so weit von meinen eigenen Sorgen und Ängsten abgelenkt, dass ich ganz überrascht war, auf einmal wirklich vor dem zweistöckigen Fuckland-Gebäude zu stehen. Wir überquerten einen 300 Meter breiten Parkplatz, der bereits zur Hälfte mit Autos voll geparkt war. Dabei mussten wir ein etwas hilflos und verloren wirkendes Grüppchen von etwa 12 Demonstranten passieren, die von 20 Polizisten mit durchsichtigen Schilden, Helmen und Schlagstöcken in Schach gehalten wurden. „Nieder mit den Sex-Discountern! Es lebe das Puff um die Ecke!“, war auf Schildern zu lesen. „Klasse statt Masse! Deutsche fickt nur beim Einzelhändler!“, „Fuckland schaufelt uns kleinen Zuhältern das Grab“.

Nachdem die Polizisten unsere Personalien überprüft hatten, standen wir schließlich vor dem Eingang, den eine überdimensionale Willi-Wampert-Statue zierte. „Bläd werd i sei und woanders vögeln“, wiederholte eine Tonbandstimme im 10-Sekunden-Takt, während Willis Plastik-Auge, von einem unsichtbaren Mechanismus angetrieben, dazu lüstern zwinkerte. Es war ganz offensichtlich zu spät, um noch umzukehren. Um mein seelisches Gleichgewicht wieder zu finden, konnte ich nur noch durch diese Erfahrung hindurch gehen, nicht mehr an ihr vorbei.

„Wie läuft das eigentlich hier ab?“, flüsterte ich Roy zu, während wir uns durch eine Gruppe von aufgeräumt plaudernden Senioren wühlten, die den Eingang verstopften. „Wie bezahlt man?“
„Hinterher, an der Kasse“, belehrte mich Roy, sichtlich stolz, für einen – wie er es sah – unschuldigen Buben den Seelenführer durch die Unterwelt zu spielen. „Die Nutte stellt dir eine Rechnung aus, die du beim Rausgehen an der Kasse bezahlst. Wer mehrere Dienstleistungen in Anspruch genommen hat, zahlt alle zusammen am Schluss. Es gibt gewisse preisliche Abstufung, vor allem im Bereich ‚Erster Stock’, wenn du verstehst, was ich meine.

Wir hatten in der Zwischenzeit ein Drehkreuz passiert und die heiligen Hallen von Fuckland betreten.

Ein aufdringlicher synthetischer Moschusduft stieg mir in die Nase. Aus dem Lautsprecher drang eine Frauenstimme, deren Klang gepresstem Stöhnen glich – umhüllt von einer Klangwolke aus seichter, elektronischer New-Age-Musik. Unterbrochen wurde die Musik manchmal von Ansagen, die besonders attraktive Sonderangebote anpriesen: „Lüsterne Philippinas verwöhnen Ihr bestes Stück für nur 12 Euro, 90.“ Oder „Aimee und Jeanette begrüßen Sie in scharfen Ganzkörper-Weichgummi-Kostümen für nur 20 Euro. Besuchen Sie auch unsere Peitschen-Paradise im 1. Stock. Ausgesuchte Qualen und Demütigungen für nur 3 Euro pro Peitschenhieb.“

„Horst, alter Rammler!“ Roy hatte offenbar einen alten Bekannten getroffen, ebenfalls Stammgast von Fuckland. Ich musste den Atem anhalten, weil von Horst ein entsetzlicher Gestank aus abgestandenem Schweiß, dem Dunst gekochter Würste und billigem Schnaps ausging. Auch sein Aussehen war nicht unbedingt anziehend. Er war nicht extrem dick, hatte aber einen plumpen, kegelförmigen Körperbau, keinen erkennbaren Hals zwischen Rumpf und Kopf und eine käsige Hautbeschaffenheit, die lediglich an Wangen und Nase durch rot geschwollene, von einem bläulichen Aderngeflecht durchsetzte Flächen aufgelockert wurde. Horst hatte schlechte Zähne, kleine, zusammengekniffene Schweinsäuglein und eine runde, wie ausrasiert wirkende Tonsur, die jedem Benediktinermönch Ehre gemacht hätte.

Roy schien sich an Horsts mangelnder hygienischer Sorgfalt nicht zu stören. „Wirst du es den geilen Säuen heute wieder ordentlich besorgen, Horst“, feixte er.

„Davon kannst du ausgehen“, erwiderte Horsts sonore Stimme. „Wie ich dich kenne, Roy, wirst du wieder mal keine Fotze trocken lassen.“ Horst lachte lauthals wie ein nach Luft ringender Ertrinkender.
Statt einer Antworte grinste Roy selbstzufrieden in sich hinein. Dann machten beide wie auf Kommando die berühmte Fuckland-Geste, die Volksschauspieler Willi Wampert am Ende jedes seiner Werbespots vorexerzierte: Sie schlugen zweimal kurz und heftig mit der flachen linken Hand auf den zum „O“ geformten Daumen und Zeigefinger der rechten. Als ob es damit nicht genug wäre, wiederholten sie die Geste noch einmal, zweimal, viele Male, breitbeinig, mit gesteigerter Heftigkeit und anscheinend unbändiger Lust. Sie feuerten sich gegenseitig an und steigerten sich wechselseitig in eine Art Rausch hinein, wobei Roy in ein feixendes Kichern, Horst in ein tief tönendes, röchelndes Lachen ausbrach.

„In diesem Sinne, Horst …“

„In diesem Sinne. Man sieht sich. Mach’s gut!“

„Mach’s besser, aber nicht zu oft!“

Horst war in der Menge der Gierigen untergetaucht. Für einen Moment kam mir der Gedanke, wie es für eine der Prostituierten sein müsste, jemanden wie Horst zu „bedienen“. Sein Körpergeruch, sein plumper Leib, seine grobschlächtigen Manieren, seine Respektlosigkeit … Ich musste an meine eigene Sorgfalt denken, die ich heute bei der Körperpflege hatte walten lassen, immer getrieben von der Angst, eine der Prostituierten könne sich vor mir ekeln.

„Du musst entschuldigen, ein alter Kampfgefährte von mir. Horst hat etwas raue Manieren, zugegeben, aber er ist eine Seele von Mensch.“

Ich schwieg etwas betreten

„Also, um zum Wesentlichen zurück zu kommen“, sagte Roy grinsend, „du bist mein Gast heute. Vergnüg dich, gönn dir mal was, damit du nicht immer mit so ’nem griesgrämigen Gesichtsausdruck rumläufst. Wir treffen uns in einer Stunde am Ausgang vor den Kassen, o.k.? Aber …“ – Roy zwinkerte mir zu – „verausgab dich nicht zu sehr. Kleiner Tipp vom Profi: Wenn du mehr für dein Geld haben willst, verschieß dein Pulver nicht zu früh. Ich düs schon mal ab in den 1. Stock. Aber … glaub mir, nichts für kleine Jungs. Tummel dich erst mal hier, da kannst du deinen missionarischen Eifer am besten ausleben.“ Roy lachte wieder, so dass man seine breite, blitzende Zahnreihe sehen konnte, gab mir einen Klaps auf die Schulter und machte zum Abschied noch mal die „Fuck“-Geste.

Ich stand allein auf dem Flur der ersten Vergnügungsstraße, die sich etwas 300 Meter weit bis zu einer von hier aus nicht zu erkennenden Rückwand erstreckte. Hinter der Kehre konnte man einen weiteren langen Gang rückwärts laufen – der Oralflur – danach wieder in umgekehrter Richtung – der Analflur –, bis man schließlich in den hinteren Regionen des Erdgeschosses und im 1. Stock in eine geheime Welt unsäglicher und unvorstellbarer Dienstleistungen würde eintauchen können. In welcher Fuckland-Filiale man sich auch immer befand, ob in Mittenwald, Görlitz oder Flensburg, ob im ländlichen Hohenpeißenberg oder Berlin Kreuzberg – überall fanden die Besucher die gleiche Raumaufteilung, eine bis ins Detail identische Aufeinanderfolge der beliebtesten sexuellen Dienstleistungen vor. Diese beinahe pedantische Regelmäßigkeit verlieh Fuckland den Charakter von Übersichtlichkeit, von absoluter Verlässlichkeit in einer Zeit, in der sich so viele scheinbare Gewissheiten des Lebens in beängstigender Weise zu aufzulösen schienen.

Ja, für Stammkunden, für Männer, die beruflich viel unterwegs waren und sich nach Feierabend gern ein kurzes, kostengünstiges Vergnügen gönnen wollten, bedeutete das Wort „Fuckland“ etwas ähnliches wie „Heimat“. Keine lästigen Preisverhandlungen mit verkäuferisch bestens geschulten Nutten, keine bösen Überraschungen beim Erhalt überteuerter Champagnerrechnungen, keine Angst vor Abweisung bei etwas exotischen Kundenwünschen. Berechenbare, moderate Preise, bei optimaler Hygieneversorgung und standardisierten, verlässlich abrufbaren Dienstleistungen. Fuckland war ein nicht mehr wegzudenkendes Stück moderner Kultur geworden, mehr noch: Fuckland war Kult.

Auf dem Flur war es jetzt leerer geworden, der erste Andrang der Besucher hatte sich auf diverse Servicezellen verteilt. Ich hatte also genug Zeit, mir die Fotos, die Kurzporträts und Angebotsprofile der einzelnen Mädchen, die an den Türen angebracht waren, näher anzusehen. An etwa der Hälfte der Zellen brannte das rote Lämpchen, universelles Zeichen für „besetzt“ wie bei manchen Solarien und Peepshow-Kabinen. Tatsächlich hatte die Werbung auch, was den Schallschutz betraf, nicht übertrieben. Das Stöhnen aus den Zellen drang gar nicht oder – in einigen Fällen – nur sehr gedämpft an mein Ohr. Man konnte sich also, wenn man nicht darauf bestand, beim Orgasmus wie ein Stier zu brüllen, in seiner Intimsphäre einigermaßen geschützt fühlen. Aus manchen Türspalten ragten kleine gelbe Zettel, auf denen mit roter Schrift „billiger“ stand, und die offenbar auf Sonderangebote hindeuteten.

„Lolita, die scharfe Stute mit den dicken Zitzen“, stand auf einem der aussagekräftigen Kurzporträts. Auf dem Foto war ein wasserstoffblondes Vollweib mit grell überschminktem Mund zu sehen, das dem Betrachter seine Ballonbrüste mit wie harte Stachel aufgerichteten Warzen entgegenstreckte. Jedes Frauenporträt war nach dem gleichen Muster aufgebaut: Ein offenbar auf erotische Wirkung hin konstruierter „Vorname“, ein schlüpfriger Beiname, der die wesentlichen Vorzüge der betreffenden Dame auf einen einfachen Nenner bringen sollte – und zum Schluss in kleinerer Schrift die Angebotspalette, auf die der Kunde zugreifen konnte. Im vorderen Bereich, von Fuckland-Stammkunden gern als „Softie-Meile“ verlacht, stand da allerdings selten mehr als „Blümchen Sex. Kuscheln. Missionarsstellung“.

Wahrscheinlich hatte Roy völlig Recht. Für meinen ersten Besuch war „erster Gang, ganz vorne rechts“ völlig ausreichend. Das Herz klopfte mir schon jetzt hörbar bis zur Halsschlagader, mein Atem ging schwer und schnell, und ein Peitsche schwingende Zombie-Frau hätte mir vermutlich heute den Rest gegeben.

„Lolita, die scharfe Stute“ war, wie nicht anders zu erwarten war, besetzt. Allerdings hatte ich ehrlich gesagt auch wenig Bock auf die Karikatur herkömmlicher Vorstellungen von Erotik. Auch „Michelle, die Blume von Moulin Rouge“ und „Randy Roxane mit der nimmermüden Muschi“ konnte ich mir ohne große Probleme verkneifen.

Schließlich fiel mein Blick auf ein Bild, das mich merkwürdigerweise auf den ersten Blick gefangen nahm: „Parvati, die geile Harems-Prinzessin von Touch Mahal“ stand da. Doch auf den Slogan kam es mir nicht so sehr an. Auch die Angebotspalette „Missionarstellung. Löffelstellung. liegende V-Stellung“ war mehr als gewöhnlich. Was mich anzog, war „Parvatis“ Blick. Auf ihrem in der Tat „indisch“ oder „arabisch“ anmutenden Gesicht, teilweise durch einen orangefarbenen Sari mit Goldborte verhüllt, lag etwas wie zarte, unfreiwillige Melancholie. Mir war aufgefallen, dass alle Mädchen auf den Fotos – offenbar unter dem Einfluss streng standardisierter Vorschriften des Fotografen – ein verführerisches Lächeln oder einen lustvoll weit geöffneten Mund zeigten.

Auch Parvatis Gesicht lächelte. Etwas an ihrem Ausdruck, eine Nuance nur, die von den meisten Besuchern gar nicht bemerkt worden wäre, schien jedoch auf Distanz zu diesem Lächeln gehen zu wollen. Ihre traurigen, fast etwas verächtlich blickenden Augen schienen zu dementierten, was der Mund zu sagen versuchte. Die anderen Prostituierten waren, was sie zu sein schienen, Parvati dagegen ließ durchblicken, dass sie nur spielte. Für mich, der die Rolle des Freiers ebenfalls mehr spielte, als dass ich mich wirklich damit identifizierte, war diese Hurendarstellerin vielleicht genau das richtige. Mit immer noch etwas bangen Gefühlen in der Magengrube öffnete ich vorsichtig die Tür …

 

Am Montag könnt Ihr den zweiten Teil von “Fuckland” hier lesen und auch Parvati kennenlernen. Außerdem erfahrt Ihr, warum es trotz mieser Arbeitsbedingungen so leicht scheint, Frauen für diesen “Berufszweig” zu rekrutieren.

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