Fuckland (2/2)

 In FEATURED, Kurzgeschichte/Satire

Die Wahrheit über Deutschlands erfolgreichsten Sex-Discounter. Supermärkte und Discounter prägen das Einkaufsverhalten wie keine andere Einrichtung des modernen Lebens. Billig, abwechslungsreich und dabei übersichtlich – wer möchte auf diese unschlagbare Mischung verzichten? Merkwürdig nur, dass sich dieses Prinzip bei einem besonders bei ganzen Kerlen beliebten „Produkt“ lange Zeit nicht durchgesetzt hatte. Das ist seit dem Boom der Fuckland-Filialen jetzt anders. Ein HdS-Mitarbeiter hat sich so einen Laden mal genauer angeschaut. Ein Rätsel allerdings blieb bisher ungelöst: Was bewegt Frauen, sich derart billig zu verkaufen? Der erste Teil ist hier nachzulesen.   Satire: Roland Rottenfußer

Mein erster Eindruck von Parvati war, dass sie mein Eintreten fast zu Tode erschreckt hatte. Nachdem sie auf ihrem von roten, goldbestickten Tüchern überzogenen Lager kurz, aber merklich zusammengezuckt war, schien sie sich zu fassen und brachte sich in eine unnatürliche und antrainiert wirkende Pose. Sie lag da, auf ihre Ellbogen gestützt, öffnete provozierend langsam ihre Beine und ließ ihren Sari, offenbar ihre einzige Bekleidung, zwischen die Schenkel gleiten. „Danke, dass du dich für Fuckland entschieden hast“, waren ihre ersten Worte. „Was kann ich tun, um dich glücklich zu machen?“ Die klangvolle, aber etwas gepresst wirkende Stimme, ließ deutlich erkennen, dass sich Parvati mit diesen Sätzen wie mit der ganzen Situation denkbar unwohl fühlte. Hatte ich etwa doch die falsche Wahl getroffen?

Der Raum war nur etwa so groß wie eine Toilette. Die Wände waren in dilettantisch ausgeführten, groben Pinselstrichen mit klischeehaften indischen Motiven bemalt. Taj Mahal vor bonbonrotem Sonnenuntergang. Ich hatte kaum die Muße, mich umzusehen, weil mich auf einmal ganz der Anblick von Parvatis Gesicht und Körper gefangen nahm. Das Mädchen war keine großbusige, dramatische Schönheit, eher zierlich und ein wenig schutzlos wirkend, als ob sie – trotz ausreichender Zimmertemperatur – frieren würde. Das Gesicht war eher das einer etwas scheuen Studentin als eines Models für Telefonsex-Werbung, jedoch mit einem „arabischen“ Einschlag, der ihm einen eigentümlichen Reiz verlieh. Die wie erschrocken aufgerissenen, auch in der aufgesetzten Verführerpose noch von Melancholie umflorten Augen dominierten ihr Gesicht vollständig, zumal Parvati weder mit einer vollständig geraden Nase noch mit üppigem Schlauchbootmund zu prunken wusste. Nur ihr schulterlanges, lockenloses Haar war ein echter Hingucker und glänzte im bordellroten Kunstlicht wie ein Wasserfall aus schwarzem Teer.

In meiner Unsicherheit, was ich sagen sollte, versuchte ich mich, wie so oft, mit Ironie zu retten: „Danke für deine persönlichen und spontanen Worte“, sagte ich (und wusste genau, dass ihre Begrüßungsworte das Mantra, das Markenzeichen von Fuckland waren). „Äh – wie wäre es vielleicht mit der liegenden V-Stellung?“ Ich hätte mich selbst ohrfeigen können. Warum musste ich es mir selbst so schwer machen. Ich hatte doch keine Ahnung, wie man das mit der liegenden V-Stellung überhaupt anstellen sollte.

„Ähm, ja … bitte!“ Parvatis Stimme klang mädchenhaft und trotzdem relativ tief, zärtlich hingehaucht, wie von jemandem, der um Schonung bittet.

Wir schwiegen beide. Lange Zeit rührte sich keiner.

„Ich dachte, dass du mir vielleicht zeigen könntest …“, begann ich.

„Ich dachte eigentlich, dass du mir das zeigst“, erwiderte Parvati unsicher. „Bei uns bestimmt allein der Kunde, wo’s lang geht. Der Kunde ist nämlich bei Fuckland … König.“ Es klang, als ob ein Schulmädchen unwillig ein Gedicht aufsagte.

„Ich muss dir etwas gestehen, Parvati“, versuchte ich den Bann zu brechen. „Ich war noch nie in meinem Leben bei Fuckland und, ehrlich gesagt, auch noch nie in einem Bordell.“

Das schien Parvati tatsächlich aufzuheitern, denn die Angststarre ihres Gesichts lockerte sich für einen Moment auf, und ihr violett geschminkter, ausdrucksvoller Mund formte ein schönes, etwas scheues Lächeln. „Das ist jetzt blöd! Ich hatte nämlich noch nie in meinem Leben einen Freier.“

Jetzt musste ich auch lachen. „Das ist allerdings blöd. Ich war der festen Überzeugung, dass du jetzt irgendwas Souveränes sagst: ‚Zieh dich schon mal aus!“ zum Beispiel, oder: ‚Nicht so schüchtern.’“ Ich versuchte dabei mit meiner Stimme die betonten Erotik von Filmschlampen zu imitieren.

„So, das dachtest du?“

Ich merkte an der Art, wie sie ihre starken dunklen Augenbrauen nach oben zog und die Augen leicht verdrehte, dass wir mit Hilfe einer bestimmten Art von Humor miteinander kommunizieren konnten.

„Ja, das dachte ich. Ich dachte, dass Prostituierte eben … so sind.“

„Und was weißt du noch so alles von Prostituierten?“

„Oh, ich weiß, dass sie ihr Geld vorher verlangen, dass sie es nie ohne Kondom tun, dass sie einen Freier nicht küssen …“

„Und wo hast du dir dieses tiefe Wissen angeeignet?“

„Es ist aus ‚Pretty Woman’, da hab ich es gehört’“

„Ja, da hab ich es auch gehört“, sagte Parvati. Jetzt lachten wir beide. Ich merkte, dass sie mich reizte, dass ich sie gern berühren wollte. Zum ersten Mal, seit ich Fuckland betreten hatte, wollte ich es wirklich. Aber gerade, als unsere Begegnung etwas authentischer zu werden versprach, überkam mich eine tiefe Scheu, wie immer, wenn ich im Begriff war, die Grenze zur körperlichen Berührung zu überschreiten. Ich setzte mich vorsichtig auf den Bettrand und roch ihr schweres Parfum aus Jasmin und Patchouli. Parvati zog ihre Füße sofort ein Stück näher an ihren Körper heran, was ich als Abwehr deutete.

„Parvati, oder wie immer du heißt“, versuchte ich sie zu beruhigen. „Ich will dir sagen, dass du dich nicht gezwungen fühlen musst, es zu tun. Ich meine, ich will nicht, dass du vor mir Ekel empfindest.“

„Nein, nein, das ist es nicht, ich ekle mich nicht vor dir.“

„Ich meine damit: Ich muss nachher an der Kasse für dich 20 Euro zahlen. Ich habe das Recht, mich dafür eine halbe Stunde hier aufzuhalten. Außerdem zahlt mein Freund für mich. Es besteht kein Zwang, dass wir es tatsächlich tun. Vielleicht war es sowieso eine blöde Idee. Ich hätte nicht hierher kommen sollen. Es ist sonst gar nicht so meine Art.“

Parvati schien plötzlich mehr Angst davor zu haben, dass ich gehen könnte, als Angst vor meiner Berührung. Sie streifte mich sacht an der Schulter und sagte hektisch: „Nein, nein, es macht mir nichts aus wirklich. Du darfst nicht gehen. Ich meine, es sieht nicht gut aus, wenn mein erster Freier nach fünf Minuten wieder verschwindet.“

„Seit wann sind solche Zeitintervalle bei Männern ungewöhnlich?“

Parvatis Gesicht heiterte sich wieder auf.

„Machen wir es doch so, Parvati: Ich bleibe eine Viertelstunde hier, dann geh ich raus, und sage niemandem was, dass wir es nicht gemacht haben. O.k.?“

„Du müsstest mir hier unterschreiben, dass du die Ware erhalten hast“ – Parvati zeigte auf einen Apparat, der wie ein Handy der ersten Generation aussah und auf dessen Display man mit einem Druckstift unterschreiben konnte. „Außerdem könnte es sein, dass dich der Produktmanager draußen fragt, ob du zufrieden warst …“

„Ich unterschreibe alles und lobe deine Künste in den höchsten Tönen. Vor allem die technisch perfekte Beherrschung der liegenden V-Stellung, o.k.?“

„O.k., danke.“

Ich streckte Parvati meine Hand hin und nannte meinen Namen.

„Ich bin Aischa“, sagte Parvati und schüttelte meine Hand erleichtert und ungewöhnlich burschikos.

„Türkin?“

„Ja, aber in Freiburg aufgewachsen. Meine Familie ist aus Koyna.“

„Und warum haben sie dich nicht „Aischa, die geile Blume von Istanbul“ genannt?

„Weiß auch nicht. Ich denke, sie hatten schon zu viele Türkinnen, da brauchten sie eine Inderin.“

„Darf ich dich noch was Fragen, Aischa?“

„Klar.“

„Die Frage ist mir etwas peinlich. In den Filmen mit Prostituierten wird sie ständig gestellt, und die Prostituierten reagieren immer ein bisschen gereizt darauf.“

Aischa lachte. „Ach du meinst die Frage, warum ein hübsches, recht vernünftig wirkendes Mädchen wie ich, die doch jederzeit die Ehefrau eines anständigen Mannes werden könnte, es nötig hat, in diesem Beruf zu arbeiten?“

„Ja, so in etwa.“

Aischa war jetzt sehr ernst geworden. Ihre Augen, die durch üppige violette und schwarze Schminke noch größer und ausdrucksvoller wirkten, blickten mich nervös und wie beschwörend an. „Du musst mir versprechen, dass du niemandem verrätst, dass ich es dir verraten habe. Es ist wichtig, verstehst du, es kann mich meinen Job kosten. Vielleicht denkst du, ich könnte ganz froh sein, einen Job als Billignutte zu verlieren, aber glaub mir: es ist nicht so. Ich wüsste nicht, wo ich morgen wohnen und wo ich was zu essen her kriegen sollte.“

„Ich verspreche es dir.“

Mir war, als hätte Aischa, als sie „Billignutte“ sagte, ihre letzte Maske abgelegt und sich mir nackt gezeigt. Ihr Gesicht war jetzt nur noch gut einen Meter von meinem entfernt, während sich ihr nackter Fuß mit den Modeschmuckkettchen zutraulich an mein Gesäß angelehnt hatte. Ich erkannte aus dieser Nähe, dass Aischa wahrscheinlich gar nicht mehr so jung war wie ich gedacht hatte – vielleicht 35 oder 40. Ihre frische Stimme mit dem leichten badensischen Dialekteinschlag, der jedenfalls keine Assoziationen an eine „Ausländerin“ weckte, hatte die Illusion, ein Mädchen vor mir zu haben, lange aufrechterhalten.

„Ich habe den ehrwürdigen Berufsstand einer Nutte ergriffen, weil ich ihn ergreifen musste. Das Arbeitsamt hat ihn mir, sagen mir es einmal freundlich, ‚vermittelt’. Ich bin eine 1-Euro-Jobberin. Diese Fuckland-Jobs sind Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Hartz-IV-Empfängerinnen. Wenn ich mich weigern würde, als Nutte zu arbeiten, würden sie mir Hartz-VI von heute auf morgen komplett streichen, verstehst du?“

Ich war sprachlos. „Aber …“, begann ich meinen völlig aussichtslosen Versuch, gegen die Realität aufzubegehren, „das könne die doch nicht machen. Ich meine: Es geht um Prostitution. Da wäre der Staat ja so was wie … Ich verstehe nicht, wie du dir das gefallen lassen kannst!“

„Und was machst du beruflich?“, unterbrach mich Aischa schroff.

„Ich bin Hartz-IV-Empfänger“, antwortete ich etwas kleinlaut.

„Und hast du jemals den Mut aufgebracht, dich gegen einen Job zu sträuben, den die dir vermittelt haben?“

„Wie sollte ich denn das machen? Du weißt, ja: ‚uneingeschränkte Mitwirkungspflicht’ ab 1.1. des Jahres. Das heißt: einmal ein Beschäftigungsangebot von der Agentur abgelehnt, und die Stütze ist weg.“

„Siehst du, und mir wurde eben als Beschäftigungsangebot ein Job als Fachprostituierte für Missionarsstellung, Löffelstellung und liegende V-Stellung bei Fuckland angeboten, für ein Gehalt von 1 Euro stündlich, das ich zusätzlich zu meiner Grundsicherung von 235 Euro behalten darf. Zuzüglich Zimmer im Fuckland-Mitarbeiterinnen-Wohnheim.“

Aischa verhüllt ihren Körper wieder ganz mit dem Sari, als schämte sie sich plötzlich, blickte mit starrer Miene in den Boden und erzählte: „Ein Typ von der Fuckland-Personalabteilung ist in den Wartesaal gekommen, zusammen mit Herrn Schmal, meinem Arbeitsvermittler. Der Fuckland-Typ hat mit einem schmierigen Grinsen auf mich gezeigt und auf andere Hartz-IV-Empfängerinnen, die da saßen – offenbar nur die, die er attraktiv fand. Schmal hat jeder von uns eine Sondernummer gegeben. Dann hieß es: Frauen mit der Sondernummer 1 bis 20 in Raum 466. Wir mussten in Reih und Glied antreten und uns vollkommen nackt ausziehen. Der Fuckland-Personal-Mann hat uns von oben bis unten begafft. Einige von uns hat er begrapscht. Wer aufmuckte, den hat Herr Schmal sofort zurechtgewiesen: Frau Müller, Sie müssen nicht bei uns bleiben. Sie können gehen, wenn Sie wollen. Allerdings ist Hartz IV dann erst mal für ein Jahr für Sie gestrichen. Sicherlich haben Sie ja finanzielle Reserven. Die betreffenden Frauen sind dann kleinlaut wieder in die Reihe zurückgetreten. Mir hat der Personaler befohlen, den Mund aufzumachen. Dann hat er meine Zähne und Zunge überprüft wie auf dem Pferdemarkt.

Vier von den Frauen wurden als untauglich aussortiert. Wir anderen mussten sofort, ohne dass wir vorher zu Hause anrufen durften, mit zu den Garagen kommen, wo wir auf einen Transportlaster verladen wurden. 20 oder 30 andere Fuckland-Kandidatinnen waren schon im Laderaum. Ihre Augen waren so leer, fast tot. Es war so voll, dass man nur stehen konnte. Bei jeder Kurve rumpelten wir Frauen ineinander. Es war dunkel, keine Öffnung, durch die Licht rein kam. Nach einer Weile wurde die Luft unerträglich stickig. Einige haben begonnen, hysterisch zu schreien, andere haben leise vor sich hin geschluchzt, wieder andere haben die, die laut wurden, angefahren, sie sollten still sein.

Als wir schon glaubten, dass wir alle sterben müssten, ging die Klappe auf, und wir befanden uns auf dem Lieferantenparkplatz von Fuckland. Unser Produktmanager, Herr Lude, nahm uns in Empfang und führte uns erst mal zu unseren Quartieren. Bewachung gab es keine. Sie wussten wohl, dass keine von uns abhauen würde. Der Wink mit dem gestrichenen Hartz-IV-Geld war Motivation genug. Herr Lude sagte uns, dass wir ein zweitägiges Ausbildungsseminar zu absolvieren hätten, bevor man uns bei Fuckland einsetzen konnte. Er sagte, er würde persönlich unser Ausbildungsprogramm überwachen. Dabei schaute er einigen von uns ganz gierig in die Augen …“

„Aber“, würgte ich fast sprachlos vor Entsetzen heraus, „das kann doch nicht sein. Das verstößt doch gegen die Würde!“

„Hör mir auf mit Würde“, giftete Aischa, deren angestrengter Gesichtsausdruck jetzt nichts Liebliches mehr an sich hatte. In der Verfassung steht was von Würde, ja. Aber in der Verfassung steht auch, wir sind ein Sozialstaat und alle Gewalt geht vom Volke aus. Wir beide, ich und du, wissen doch ganz genau, dass die Politiker nur Handpuppen von Großunternehmern wie Schnidl sind. Und kannst du dich erinnern, dass irgendeiner die gewählt hat? Der Kampf, den wir führen, dreht sich um weit weniger hochtrabende Dinge als Würde. Wir versuchen, hier irgendwie zu überleben, verstehst du? Und sich von irgendwelchen verklemmten Arschlöchern ficken zu lassen, ist vielleicht immer noch besser als zu krepieren, oder?“

Ich weiß nicht, wie lange ich stumm vor Staunen da saß und sie anstarrte.

„Entschuldige, ich mein nicht dich“, fuhr Aischa nach einer Weile fort, und ihr Gesichtsausdruck wurde wieder etwas weicher. „Du bist o.k., ich meine: du bist weder eklig, noch brutal oder so. Aber eines muss ich dir schon sagen, wenn du angeblich so viel Mitgefühl mit mir hast: Ohne Männer wie dich, die sich hier billig einen abrubbeln wollen, gäb es auch keine Zwangsrekrutierung von Prostituierten durch die Arbeitsagentur, keine Demütigung, kein Elend. Das System frisst uns auf, ja. Aber ganz oben in der Nahrungskette sitzen immer die, die von dem System profitieren, die’s immer so billig wie möglich haben wollen: die Kunden!“

„Bitte verzeih mir!“, sagte ich geknickt. “Ich hätte nie hier herkommen sollen. Ich habe mir nie überlegt, wie sich jemand wie du fühlen muss. Das heißt, einmal auf dem Hinweg hab ich es mir überlegt, aber irgendwie war die Neugier stärker und die Lust, und ich fand dich“ – ich zögerte ein wenig vor dieser Enthüllung – „so schön.“

Aischa weinte. Sie hatte sich in den hintersten Winkel ihres Bettes verkrochen, stützte ihr Gesicht in die Armbeuge und weinte. Als sie sich mir wieder zuwandte, rann das Schwarz des Kajalstifts, mit dem sie ihre Augen „orientalisch“ geschminkt hatte, an ihren weißen, zitternden Wangen herunter. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Du bist nicht allein das Schwein. Ich bin genauso ein Schwein, wenn ich mein Essen billig bei CheapKauf kaufe. Wir alle sind die Schweine!“

„Ich geh, glaub ich, wieder“, sagte ich resigniert. „Keine Angst, ich verrat dich nicht. Gib mir noch das Formular zum Unterschreiben, und das war’s dann.“

Ich wagte nicht, zu Aischa hinüber zu sehen, die noch immer zusammengekauert unter ihrem spärlichen orangefarbenen Sari mit den Goldborten in der Ecke lag. Ich hatte keine Angst mehr, dass sie mich verurteilte. Ich hatte einfach Angst, dass ihre Schönheit mir eine Wunde zufügen könnte, die sich in den langen einsamen Nächten, die mir bevorstanden, nur sehr langsam wieder schließen würde. Aischa reichte mir den wie ein altes Handy-Modell aussehenden Apparat, ich unterschrieb und ging zur Tür.

Plötzlich war ihre Hand an meiner Wange und dreht meinen Kopf zu ihr herüber. Dann war auf einmal ihr Mund auf meinem. Lippen glitten über meine, weich und feucht wie die Innenseite einer entkernten Traube. Der Geruch ihres Make-ups, der Beerengeschmack ihres Lippenstifts, die vom heftigen Atmen trockene, fast etwas raue Zunge an meiner. Sie schnappte noch einmal mal nach mir wie eine Durstige nach einem Wasserstrahl. Dann ließ sie ebenso plötzlich wie sie gekommen war von mir ab.

„Ich dachte …“, versuchte ich mein Fassung wieder zu gewinnen. „Ich habe gehört, dass ihr eure Freier nicht küsst.“

„Das habe ich auch gehört“, erwiderte Aischa schmunzelnd. Dann wurde sie wieder ernst und fixierte mich mit einem warmen Blick, der erahnen ließ wie nah sie den Tränen war. „Ich hoffe, du behältst Fuckland nicht in zu schlechter Erinnerung.“

„Könnten wir nicht …“ Es war ein wahnwitziger Gedanke, der mir jetzt durch den Kopf schoss. Aber nach all den Peinlichkeiten, die ich heute durchlitten hatte, sollte es auf eine weitere auch nicht mehr ankommen. „Könnten wir uns nicht sehen, ich meine draußen, nach Dienstschluss. Du bist auch nicht verpflichtet …“

Aischa legte ihre Hand sachte und beschwichtigend auf meine und sagte: „Willst du das wirklich? Ich glaube, du machst dir gar nicht klar, was das bedeutet. Ich werde täglich ungefähr 20 Freier bedienen. Abends fall ich erschöpft und angewidert auf mein Bett im Wohnheim. Wenn ich noch die Kraft finde, versuche ich Bewerbungen zu schreiben, um irgendwann vielleicht doch mal hier raus zu kommen. Ich finde es schmeichelhaft, wenn ich dir auch ein bisschen gefalle, aber wie soll das gehen? Ich fürchte, mich kann im Moment niemand lieben, und ich kann für niemanden eine gute Frau sein. Ich bin ’ne Nutte, verstehst du, ich bin Abschaum. Mein Staat hat mich verkauft, zum Durchvögeln frei gegeben für jedes dahergelaufene geile Arschloch.“

Ich muss sehr traurig dreingeschaut haben, denn Aischa umarmte mich noch einmal und legte ihre Hand behütend an meinen Hinterkopf. Dann wischte sie mir behutsam mit einem Papiertüchlein einige Lippenstiftreste von Mund und Wangen. „Du musst dir nichts denken, wenn du jetzt einfach gehst und nie wiederkommst. Keiner hält es aus, mit einer Frau so ein Leben zu teilen. Kümmer’ dich nicht um mich. Es würde dich nur traurig machen, ohne dass du das Geringste ändern kannst.“

„Also dann …“, sagte ich beklommen, weil mir nichts mehr einfiel und wandte mich zur Tür. Ich schämte mich für meine Hilflosigkeit, für mein frühes Eingeständnis, dass ich nicht die Kraft finden würde, sie zu befreien wie ein Ritter seine Schöne aus einer Drachenhöhle herausholt. Ich nahm die Quittung, die mir Aischa wortlos ausgestellt hatte und ging hinaus, ohne mich noch mal umzudrehen.

Draußen kam ich nicht zum Nachdenken, weil mich, kaum dass ich die Tür geschlossen hatte, ein junger, gut gekämmter Anzugträger ansprach. „Guten Tag. Darf ich Sie kurz mal stören. Felix Lude, mein Name. Ich bin Fuckland-Produktmanager im Bereich Blümchensex, europäische Frauen und vorderer Orient. Ich hoffe, Sie waren mit Fuckland zufrieden. Bitte nehmen Sie sich fünf Minuten Zeit für eine kleine Umfrage. Sie helfen uns damit, unseren Kunden auch künftig Qualität für Ihr Geld zu bieten.“

Herr Lude hatte ohne Unterlass in einem antrainierten Moderatorentonfall gesprochen und dabei stets in aufdringlicher Weise bohrenden Blickkontakt mit mir gehalten, wie man es ihm offenbar bei einer Verkaufsschulung beigebracht hatte. Mir war wirklich nicht danach zumute, aber ich fühlte mich einfach zu schwach, um das Ansinnen des Produktmanagers zurückzuweisen, also beschloss ich, die Prozedur hinter mich zu bringen. Roy hatte seinen Rundgang durch den 1. Stock sicher noch nicht beendet.

„Sie haben gerade unsere Mitarbeiterin Parvati, die geile Haremsprinzessin von Touch Mahal, besucht. Bitte bewerten Sie die folgenden Parameter auf einer Skala von 1 – überhaupt nicht zufrieden stellend – bis 5 – sehr zufrieden stellend: Körperliche Attraktivität und Anmachfaktor …“

„Äh – 5“ Ich wusste, dass ich Aischa jetzt den Rücken stärken musste. Die genaue Überprüfung der Kundenzufriedenheit hatte sicher auch damit zu tun, dass sie bei Fuckland noch neu war und sich in ihrem neuen beruflichen Umfeld erst etablieren musste.

„Höflichkeit und Freundlichkeit im Umgang mit dem Kunden“

„5“

„Vorspiel und Geschicklichkeit bei der Schaffung der notwendigen physischen Penetrationsvoraussetzungen“

„5“

„Fertigkeit bei der Durchführung der vom Kunden gewählten Kopulationsstellung“

Meine Aufmerksamkeit war auf einmal von einem Vorgang abgelenkt worden, der mich in höchstem Maße beunruhigte. Ein Mann hatte sich Aischas Kabine genähert. Schon von weitem drang eine üble Mischung aus Schweiß- und Wurstgeruch in meine Nase. Der Mann öffnete die Tür und trat ein. Es war – Horst.

„Moment mal“, unterbrach ich Herrn Lude. „Das geht nicht. Er darf nicht zu ihr gehen. Dieser Mann ist ein Monstrum!“

Lude setzte ein charmantes, bedauerndes Lächeln auf. „Da sind wir leider machtlos. Solche zugegebenermaßen wenig anziehenden Kunden gehören zum Berufsrisiko. Wir sind kein Partnersuche-Institut, bei dem jeder nur Partner treffen kann, die ihm behagen. Fuckland ist ein Discounter. Bei CheapKauf kann sich das 1-Euro-Schweineschnitzel ja auch nicht aussuchen, wer es in seinen Einkaufswagen packt.

Plötzlich drang aus Aischas Kabine ein gellender Verzweiflungsschrei. Ich rannte wie besinnungslos zur Tür, rüttelte an der Klinke, hämmerte mit meinen Fäusten dagegen und schrie: „Aischa, mach auf! Du Schwein, was hast du mit ihr gemacht. Lass sie los!“

Lude fasste mich mit autoritärer Geste an der Schulter und sagte mit scharfem Tonfall: „Gehen Sie da jetzt weg und geben Sie Ruhe. Sie sehen doch, es blinkt das rote Licht. Die Kabine unserer Mitarbeiterin Parvati ist gerade besetzt.“

„Aber haben Sie es denn nicht gehört? Er bringt sie um, das Schwein!“

„Es mag Ihnen befremdlich vorkommen, aber es ist weder unsere Angelegenheit noch Ihre, darüber zu befinden, welche sexuellen Techniken der Kunde bevorzugt. Es gibt einen Notknopf in jeder Kabine. Unsere Mitarbeiterin hat den Alarm offensichtlich nicht ausgelöst, also gehe ich davon aus, dass es ihr gut geht. Außerdem sollte der Grundsatz, dass bei Fuckland der Kunde König ist, nicht wegen jeder Bagatelle in Frage gestellt werden. Das wissen unsere Mitarbeiterinnen und setzten ihre Toleranzschwelle deshalb von vornherein sehr hoch an.

„Nein!“, klang es jetzt verzweifelt aus Aischas Kabine. „Bitte tun sie das nicht! Bitte nicht! Bitte …!“ Ihre weiteren Worte waren wegen der guten Schallisolierung nicht mehr zu hören. Ich riss mich von Lude los und rüttelte nochmals an der Tür. „Wie können Sie das tun?“, schrie ich den Produktmanager an. Wie können Sie zulassen, dass er ihr wehtut? Sie verkaufen sie wie ein Stück Vieh – für 20 Euro!“

„Ich weiß nicht, warum Sie sich aufregen“, erklärte Lude ungerührt. „Warum genießen Sie nicht einfach, was Ihnen hier geboten wird. Diese Preise können wir Ihnen doch nur deshalb bieten, weil wir ein großer Discounter mit über 2000 Fialen sind und deshalb die Ware in großen Mengen ordern können. Fuckland, die Kabinen, die Mädchen, das alles hier gibt es nur, weil es eine Nachfrage danach gibt. Wir tun das alles doch nur für Sie, den Kunden.“ Sein Tonfall wurde jetzt wieder bestimmender. „So und jetzt gehen Sie bitte, oder ich muss die Sicherheitskräfte rufen“.

Entkräftet brach ich vor der Tür zusammen, glitt auf den Boden und lehnte mich keuchend mit dem Rücken an die Kabine. Zwei bullige Sicherheitsoffiziere mit selbstsicherem Blick griffen nach meinem Arm und zogen mich mit einem recht schmerzhaften Ruck in die Höhe. „Kommen Sie jetzt bitte mit. Wir bringen Sie zum Ausgang. Und machen Sie in Ihrem eigenen Interesse keinen Ärger mehr. Wie können nämlich auch anders. Randalierer bekommen bei uns Hausverbot.

„Schon gut“, sagte ich unwillig und schüttelte den Griff der Sicherheitskräfte ab. Ich komme schon mit.“

Die Sicherheitskräfte öffneten eine verschließbare Tür und brachten mich auf einem Schleichweg, einem engen Gang, in den Kassenraum. Dort hatten sich vor den Kassen schon einige Schlangen von beachtlicher Länge gebildet, die sich aber recht flott vorwärts bewegten.

„So, haben Sie Ihren Fuck-Beleg dabei? Ja? Da können Sie jetzt bei der Kasse zahlen und gehen. Und noch was: Wir möchten Sie bei Fuckland nicht mehr sehen. Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe?“

„Ja“, murmelte ich flüchtig, denn ich hatte schon Roy gesichtet, der, an eine mannshohe Willi-Wampert-Werbung gelehnt, auf mich wartete. Ich wollte nicht, dass Roy sah, wie ich von den Männern abgeführt wurde. Ich war nicht in der Verfassung, ihm meine Geschichte zu erzählen.

„Naaa?“, fragte er mit einem breiten Grinsen, als er mich erblickte. „Wie war’s? Auf deine Kosten gekommen?“ Er gab mir einen kumpelhaften Klaps auf die Schulter. „Ich sehe schon, Kavalier genießt und schweigt. Siehst noch ganz mitgenommen aus. Hat dich die Schlampe ordentlich rangenommen, ja? Ausgezuzelt bis auf den letzten Tropfen Saft?“ Dabei schlug er zweimal kräftig mit der linken Handfläche auf den zum „O“ geformten Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand. „Komm, geh mit mir zur Kasse. Brauchst nicht danke zu sagen. War mir doch eine Ehre, zu einer längst überfälligen Softie-Entjungferung meinen Teil beizusteuern.“

An der Kasse saß eine ältliche, bieder wirkende Frau mit angegrauter Lockenfrisur in einer gar nicht zu ihrem Typ passenden leuchtend roten Fuckland-Uniform, auf der ein großes blaues „F“ aufgedruckt war. Sie nahm mit regungsloser Miene meinen Zahlungsbeleg und zog ihn über den Scanner. „Des macht dann bitte 19 Euro 99“, sagte sie routiniert. Roy reichte ihr das Geld mit den Worten „Das geht zusammen.“ Seine eigene Rechnung belief sich auf über 100 Euro, sehr teuer für Fuckland. Die Kassiererin gab die passenden Pfennigbeträge heraus und fragte in einem Tonfall, der kein wirkliches Interesse an der Antwort erkennen ließ: „Haben’s alles g’funden?“

 

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