Ist es in Ordnung, dass jemand regiert? 2/2

 In Politik (Ausland), Politik (Inland), Roland Rottenfußer
Von Anarchisten gern als Stammvater zitiert: Laotse

Von Anarchisten gern als Stammvater zitiert: Laotse

Anarchische Gedanken über das Verhältnis von Staat und Individuum. Der erste Teil dieses Artikels wurde am vergangenen Freitag hier veröffentlicht (Roland Rottenfußer)

Die Debatte um Anarchismus und Gewalt wird von Seiten der Befürworter von Autorität meist in sehr heuchlerischer Weise geführt. Wenn uns zum Thema „Anarchie“ als erstes ein Bombenleger mit wirrem Haar und fanatischem Blick einfällt, so ist das kein Zufall, sondern das Ergebnis gezielter Propaganda über viele Generationen. Vielen dürfte z.B. bekannt sein, dass die österreichische Kaiserin „Sisi“ 1898 von einem Anarchisten ermordet wurde. Weniger bekannt ist, dass die so genannte „Pariser Kommune“ von 1871 auf Seiten der aufständischen Bürger, die von anarchistischen Ideen inspirieren wurden, 20.000 Todesopfer forderte. Ein wahres Blutbad, mit dem die vertriebene Staatsmacht den Bürgern ein für alle mal einbläuen wollte, dass es ein Territorium ohne staatliche Bevormundung nirgendwo geben dürfe. Der Aufstand der autonomen Räterepublik von Kronstadt gegen den Vormarsch der leninistischen Staatsdiktatur kostet 1921 ungezählten Menschen das Leben. Diese Leute wollten nichts anderes als mit der Freiheit, die ihnen die Bolschewiken versprochen hatten, Ernst zu machen.

Man sieht, es gibt durchaus einen Zusammenhang zwischen Anarchie und Gewalt – nämlich insofern, als Anarchisten immer wieder auf brutalste Weise Opfer von Gewalt wurden. Anarchisten gehören traditionell zu den „Verlierern“ der Geschichte, vielleicht auch weil ihnen die Stilmittel der „Gewinner“ (straffe Organisation, unbedingter Gehorsam und mörderische Brutalität) fremd waren. Die Weltgeschichte, wie wir sie heute kennen, ist aber eine Geschichte der Sieger. Bei „Linken“ und „Rechten“ wechselten sich Sieg und Niederlage stets ab. Eine aber blieb immer auf der Gewinnerseite: Die Staatsautorität. Wenn man sieht, wie viel Leid, Verwirrung und Chaos Staatsautorität angerichtet hat, kann man Vorwürfe gegen anarchische „Chaoten“ nur als groteske Form der Schattenprojektion deuten. Wie viele Menschen, die einigermaßen frei und in Frieden lebten, wurden wegen Machtrangeleien zweier Staatsführer zu den Waffen gerufen und in Elend und Tod getrieben? Wie viel Unordnung und Leid hat allein die ungerechte Verteilung der Güter angerichtet? Darüber empörte sich bereits der Vordenker des Anarchismus, Pierre-Joseph Proudhon. Seine paradoxe Schlussfolgerung: „Anarchie ist Ordnung.“

Selbst in Friedenszeiten aber ist Staat gleichbedeutend mit Gewalt (was durch Begriffe wie „Staatsgewalt“ und „Gewaltmonopol“ auch noch offenherzig zugegeben wird). Sicher können wir uns an viele der staatlich verordneten Regeln aus freien Stücken halten (etwa an das Verbot von Mord und Vergewaltigung). Dies ändert aber nichts daran, dass hinter jeder noch so unbedeutenden Vorschrift eine Gewaltdrohung steht. Geldstrafen wird durch die Drohung mit Gefängnisstrafen die nötige Dringlichkeit verliehen. Und hinter einer Einweisung ins Gefängnis steht letztlich die Drohung mit gewaltsamer Verschleppung, denn selbstverständlich kann niemand sagen: „Ich will aber nicht ins Gefängnis“. Staatsautorität beinhaltet die ins System integrierte, beständige unterschwellige Drohung, den Willen des Bürgers notfalls mit Gewalt zu brechen.

Aber ist nicht auch die ungebremste Willkür des Einzelnen ein Alptraum? Man denke dabei nur an den Satz „Tu, was du willst, soll sein das ganze Gesetz“, das dem berüchtigten Okkultisten Aleister Crowley zugeschrieben wird. Man muss dazu wissen, dass die meisten Vordenker des Anarchismus eine Form von Ordnung oder Struktur anstrebten, die vom Geist der Gemeinschaft und gegenseitiger Rücksichtnahme bestimmt war. Kollektiver oder „kommunistischer“ Anarchismus ist der Normalfall, Individualanarchismus eher die Ausnahme. Der Philosoph Max Stirner vertrat als einer der wenigen die absolute Selbstbestimmung des Individuums, ohne sich allzu viele Gedanken darüber zu machen, wie eine solche Gesellschaft aussehen könnte. „Was Du zu sein die Macht hast, dazu hast Du das Recht“, sagte er. Bei Stirner überwog der Affekt gegen den übergriffigen Staat: „Jeder Staat ist eine Despotie, sei nun Einer oder viele der Despot“. Damit brandmarkt er auch die Demokratie als ungenügend. Ist so eine Weltanschauung nicht unverantwortlich, narzisstisch, eine Einladung zu rücksichtslosem Verhalten?

Sicher könnte man mutmaßen, dass eine solche Gesellschaft nicht „funktionieren“ würde. Aber ziehen wir einmal eine nüchterne Bilanz aus der globalen Epoche des Staatsautoritarismus: Will man ernsthaft behaupten, dass die Staatsidee „funktioniert“ hat? Phänomene, die man in so genannten „failed states“ (gescheiterten Staaten) vorfindet, z.B. Bandenbildung und hohe Kriminalität, kann man nicht dem Anarchismus anlasten. Ein „Individualist“, der als Raucher z.B. einen Nichtraucher voll qualmt, ist kein Anarchist, weil er ja Macht über sein Gegenüber ausübt. Eine revolutionäre Zelle, die den Arbeitgeberpräsidenten für Wochen in ein „Volksgefängnis“ sperrt und ihm am Ende erschießt, hat mit Anarchismus nichts zu tun, denn sie übt ja in drastischer Weise Zwang aus. Es bleibt uns also nichts anderes übrig als größtmögliche Freiheit zu organisieren und gleichzeitig Formen der Gegenwehr gegen Zumutung, Übergriff und Zwang zu finden – gegen die „alten Regime“ ebenso wie gegen neue Tyrannen aus den eigenen Reihen.

Wenn die Befürworter von Autorität darauf hinweisen, dass repräsentative Demokratien des Westens leidlich gut „funktionieren“, so schmücken sie sich eigentlich mit fremden Federn. Die Machthaber vereinnahmen für sich, was eher trotz ihrer Machtausübung (oder im Widerstreit mit ihr) errungen wurde. Warum so viel „Furcht vor der Freiheit?“ Die Willkür des freien Individuums richtet normalerweise nur begrenzten Schaden an. Die Willkür eines Machthabers – potenziert durch ein System automatisierter Gehorsamsreflexe – kann dagegen ein ganzes Volk samt den Anrainerstaaten in den Abgrund reißen. Der „absolute“ (von jeder Rücksicht und Kontrolle losgelöste) Herrscher, der Monarch von „Gottes Gnaden“, der autokratische Diktator – es sind Alpträume, die jedenfalls nicht auf das Konto von Anarchisten gehen. Die Zumutung der Machtausübung ist durch Aufklärung, Revolutionen und Demokratiebewegung in den letzten Jahrhunderten lediglich erträglicher geworden. Und zwar deshalb, weil sie sich den Idealen der Anarchie wenigstens teilweisel angenähert hat: durch Elemente von Selbstbestimmung (Wahlen), Pluralismus und relativ viel persönliche Freiheit.

In westlichen Demokratien haben die meisten Bürger den Eindruck: „Das was ich will, ist fast immer erlaubt, und das was verboten ist, will ich in den meisten Fällen auch nicht.“ In einem solchen System lässt es sich lange bequem leben. Es bleibt dabei allerdings ein schaler Nachgeschmack, weil jede Freiheit eine von der Staatsmacht „gewährte“ Freiheit ist. Was der Mensch seinem Lebensbedürfnissen gemäß tun will, wird definiert als der Bezirk des „Erlaubten“. Dem steht die Tabuzone des „Verbotenen“ gegenüber. Im Deutschland des Jahres 2009 sind Mischehen legalisiert, Homosexualität ist erlaubt, Alkoholkonsum wird nicht eingeschränkt, Kritik an der Regierung darf sein. Danke, Papa Staat! Ob aber legalisiert oder kriminalisiert wird, ob der Bezirk des Erlaubten sich ausweitet oder schrumpft, das bleibt der Staatsmacht überlassen. Derzeit schrumpft er eher wieder. Die bange Frage, ob wir etwas tun „dürfen“, überschattet unsere Gedanken eher stärker als noch vor 10 Jahren. Wann immer ein oder mehrere Politiker sich entscheiden, eine „harte Linie“ zu fahren oder „strengere Strafen“ einzuführen, ist der Bürger faktisch machtlos und muss sich der jeweiligen Verbots- und Erlaubnislage reflexartig anpassen. Ein unspezifisches Instrument wie Wahlen im Vierjahresrhythmus genügt nicht, um Gegendruck aufzubauen. Es ist nicht mehr so, dass das Volk Politikern erlaubt, es in einem bestimmten Rahmen zu vertreten; vielmehr lebt die Obrigkeit den Freiheitsrahmen fest, in dem sich die Bürger bewegen dürfen.

Wer ein Anarchist sein möchte oder mit dem Anarchismus sympathisiert, muss sich selbstkritisch ein paar unbequeme Fragen stellen. Die wichtigste ist: Bin ich wirklich aufrichtig entschlossen, selbst auf die Ausübung von Herrschaft zu verzichten? Auch auf die Gefahr hin, dass an meiner Stelle ein weniger „brillanter“ Kopf das Ruder übernimmt? Verzichte ich darauf, Macht auszuüben über meine Frau, meinen Mann, meine Kinder, meinen Hund oder über „Untergebene“ im Berufsleben. Bin ich, wenn meine Kompetenz mir natürliche Autorität verleiht, bereit, kooperativ zu führen – auch dann, wenn ein „Machtwort“ manchmal bequemer wäre? Jeder von uns, selbst der freiheitlichste Denker, ertappt sich gelegentlich dabei, in irgendeinem Punkt „schärfere Kontrollen“ oder „härtere Strafen“ zu fordern. Z.B. gegen die ungeliebten Finanzspekulanten, „Umweltsäue“ oder korrupte Manager. Darin liegt das Dilemma des Anarchismus: Man gewährt auch den Gegnern der Freiheit grenzenlose Freiheit, die diese dann zur Errichtung von mehr Herrschaft nutzen können. Aber man möchte Andersdenkende (also Autoritäre) nicht im Namen der Freiheit unterdrücken.

Ein Anarchist muss zweitens die Frage beantworten, welche Werte er dem primitiven Prinzip „Der Ober sticht den Unter“ eigentlich entgegen zu setzen hat. Es gibt ja tatsächlich eine destruktive Spielart von Freiheit. Wir alle kennen sie in Form des entfesselten Neoliberalismus. Je mehr sich ökonomisches Handeln von staatlicher Regulierung und moralischen Schranken „befreit“, desto mehr nähert sich das System genau genommen eine Wirtschaftsanarchie an. Diese Freiheit ist allerdings immer nur die Freiheit weniger Mächtiger auf Kosten einer machtlosen Mehrheit. Wie immer wird mit zweierlei Maß gemessen: schrankenlose Freiheit gilt im einen Fall (bei Konzernen) als Gebot ökonomischer Vernunft, im anderen Fall (bei Einzelpersonen) als Verbrechen.

Ob Freiheit „auf Kosten anderer“ geht, ist natürlich eine heikle Frage. Schon mein Nachbar, der sich über eine „Pace“-Fahne auf meinem Balkon aufregt, kann argumentieren, dass meine Freiheit sein ästhetisches Empfinden verletzt. Sicher werden aber die meisten zustimmen, dass Freiheit kein Privileg Weniger sein darf. Anders ausgedrückt: Freiheit und Gleichheit gehören zusammen. Die Frage, wo Freiheit möglicherweise doch enden muss, ist von Anarchisten oft mit dem Hinweis auf „natürliche Ethik“ beantwortet worden. Wenn wir plötzliche, schrankenlose Freiheit einführen würden, ohne auch an anderen gesellschaftlichen „Stellschrauben“ zu drehen, könnte ein anarchisches Experiment in der Tat Probleme aufwerfen. „Politik ohne innere Veränderung der an ihr Beteiligten ist Manipulation von Eliten“, sagte Rudi Dutschke. Wenn wir andererseits auf die Verwirklichung der Freiheit warten, bis der „Neue Mensch“ heraufgedämmert ist, können wir lange warten. Wir werden uns vorerst schon mit dem „Alten Menschen“ begnügen müssen.

Erinnern wir uns aber an die These aus der Matriarchatsforschung, dass wir das, was uns heute utopisch erscheint, teilweise durch die Rückkehr zum Urzustand finden können. Damit ist nicht gemeint, dass wir technisch zur Steinzeit zurückkehren sollen, sondern dass Freiheit von Bevormundung, Basisdemokratie, Ausgleichsökonomie, ein Leben in Frieden ganz natürliche, der praktischen Vernunft entsprechende Bedürfnisse des Menschen sind. Sie kommen zum Vorschein kommen, wenn es uns gelingt, die Macht von Fremdsuggestionen zu brechen. Der Prozess der gesellschaftlichen Befreiung könnte damit einhergehen, dass eine wachsende Zahl von Menschen zu ihrem eigentlichen Menschsein erwacht. Von den Institutionen ist dann lediglich zu fordern, dass sie dieses Erwachen nicht einschränken. „Wer ein ganzer Mensch ist, braucht keine Autorität zu sein“ (Max Stirner)

„Menschsein“ aber ist nicht denkbar ohne Harmonie mit einer Art natürlicher Ordnung. Im Tao Te King, dem großen Weisheitsbuch der Chinesen, heißt es: „Als der Weg (Tao) verloren ging, tauchte die Tugend auf; als die Tugend verloren ging, tauchte die Güte auf; als die Güte verloren ging, tauchte die Gerechtigkeit auf; als die Gerechtigkeit verloren ging, tauchte die Moral auf.“ Laotse beschreibt hier vereinfacht einen historischen Verfallsprozess. Man kann hinzufügen: Dieser Verfallsprozess endete nicht bei der „Moral“ (Ethik). Als die Moral verloren ging, tauchten die Gesetze auf. Gesetze sind dazu da, Ethik oder Tugend in konkrete, allgemeingültige Regeln zu übersetzen. In der Praxis ist es jedoch so, dass geschriebene Regeln oft die Moral verfälschen, der Tugend Hohn sprechen und das Gegenteil von Güte sind. Heutige Obrigkeiten pochen auf die Einhaltung des Buchstabens eines Gesetzes und haben die Anbindung an die Ethik verloren (vom Tao zu schweigen).

Wenn wir also eine Gesellschaft bauen wollen, die frei und gerecht ist, müssen wir den von Laotse beschriebenen Weg rückwärts gehen: Von der Gesetzestreue zu Ethik und Gewissen, von der Ethik zu einem selbstverständlichen, unverkrampften „Fließen“ mit dem „Tao“ – einer Ordnung, die zugleich natürlich, vernünftig und gütig ist. Religiöse Menschen würden vielleicht von einer „göttlichen Ordnung“ sprechen. Doch eine religiöse Deutung sollte niemandem aufgedrängt werden, so wie es über „Natürlichkeit“ immer geteilte Ansichten geben wird. Es wird niemals „die Anarchie“ geben, sondern immer „Anarchien“, sonst wäre es ja nicht Anarchismus, sondern Uniformität im Namen der Freiheit.

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