Kontemplation – das Geschenk in uns wecken

 In FEATURED, Roland Rottenfußer, Spiritualität

Die Wirksamkeit von Kontemplation widersprich weder wissenschaftlichen Erkenntnissen noch schließt sie aktive Beteiligung an gesellschaftlichen Veränderungen aus. Vielmehr wird sich der kontemplativ Geübte bewusster der Welt (wieder) zuwenden. Er wird bei allem, was er tut, stärker verbunden sein mit seinem „inneren Heiligtum“, das ihm Kraft und Gelassenheit verleiht. Man kann Kontemplation auf verschiedenen Ebenen und mit unterschiedlichen Absichten praktizieren: nur als „Stress reduzierende“ Form der Gesundheitsvorsorge oder tatsächlich, um Gott in sich selbst zu begegnen. In jedem Fall fügt uns Kontemplation nichts hinzu, was nicht schon als Potenzial in uns angelegt wäre. Kontemplation ist, wie ich in meinem letzten Artikel zum Thema beschrieben habe, die Praxisform der Mystik, deshalb bleibt eine rein theoretische Betrachtungsweise letztlich unzureichend. Roland Rottenfußer

Sie müssen mir nicht glauben, wenn ich sage, dass Kontemplation heilsam, beruhigend und sinnstiftend ist. Die rationaleren Naturen unter Ihnen werden vielleicht eher Wissenschaftlern glauben. Dokumentiert ist der Wert spiritueller Übungen u.a. in dem hervorragenden Buch von Andrew Newberg und Mark Robert Waldman: „Der Fingerabdruck Gottes“. Den Forschern ging es dabei nicht darum, die Richtigkeit bestimmter religiöser Überzeugungen zu beweisen. Ihre Frage war nicht: „Ist es wahr?“, sondern „Hilft es?“ Die Frage nach der Existenz Gottes bleibt in ihrem Buch offen. Wichtiger ist Newberg und Waldman die Frage, ob wir durch die Übungen bessere und glücklichere Menschen werden. Die Antwort ist ein klares „Ja“: Religiöse und spirituelle Besinnung „dienen nämlich der Stärkung eines einzigartigen Neuralkreislaufes, der gezielt das soziale Bewusstsein und Einfühlungsvermögen fördert und destruktive Gefühle und Emotionen eindämmt.“

Ursache dieser Effekte ist die so genannte neuronale Plastizität, die Veränderbarkeit der Neuronen im Gehirn. „Wer über etwas so Komplexes und Mysteriöses wie Gott nachdenkt, verursacht unglaubliche Schübe an neuronaler Aktivität, die in verschiedenen Hirnregionen ausgelöst werden.“ Vereinfacht: Schon das Nachdenken über Religion führt dazu, dass unser Gehirn wächst. Die Aktivierung des präfrontalen und des anteriorischen cingulären Kortex im Großhirn „verbessert nicht nur das Gedächtnis und die Kognition. Sie wirkt gleichzeitig den Auswirkungen der Depression entgegen, die so oft Symptome altersbedingter Erkrankungen sind“ (z.B. Alzheimer). Dies kann den Autoren zufolge durch Yoga und kontemplative Meditation, aber auch durch Gebete bewirkt werden. Sie stärken unser Gefühl der Verbundenheit mit anderen, schützen vor gesundheitlichen Schäden durch Stress, machen den Geist gelassen, friedlich und wachsam.

Newberg und Waldman beschreiben die wesentlichen Aspekte so: „Das Bewahren des entspannten Bewusstseins, das Regulieren des Atems und das Ausführen einer einfachen oder auch einer komplizierten Körperbewegung mit einem beliebigen Körperteil. Gleichzeitig wiederholen Sie singend, im Sprechgesang oder auch lautlos einen für Sie bedeutsamen Klang oder eine für Sie sinntragende Wortverbindung.“ Damit ist die Zauberformel für eine spirituelle Praxis benannt, die gleichermaßen spirituell, psychisch und körperlich wohltuend wirkt. Schon in den 70er-Jahren hatte Herbert Benson (Harvard-Universität) nachgewiesen, dass es Stress reduziert, wenn man „langsam atmet und Wörter oder Wortverbindungen wiederholt, die einem das Gefühl von Behaglichkeit verleihen“.

Eine typische Übung, geeignet für fast alle

* Wählen Sie ein „Mantra“, einen für Sie besonders bedeutungsvollen, vielleicht „heiligen“ Satz. Am besten mehrere, damit ein Zeitrahmen von ca. 30 Minuten ausgefüllt werden kann.
* Wählen Sie einen Ort in Ihrer Wohnung, an dem Sie täglich ungestört üben können. Ein Hausaltar mit für Sie wichtigen Symbolbildern ist ideal. Geben Sie dem Ritual einen Rahmen: Z.B. zu Beginn eine Kerze entzünden, sie am Ende löschen.
* Kommen Sie zunächst an, setzen Sie sich auf einen Stuhl oder ein Kissen und entspannen Sie Ihren Körper vollständig. Atmen Sie mehrmals langsam und tief durch, bis Sie zur Ruhe gekommen sind.
* Singen Sie nun Ihr „Mantra“ (monoton oder auch mit einer Melodie) und lassen Sie den Klang Ihren ganzen Körper durchdringen. Verbinden Sie das Mantra mit Ihrem Atemrhythmus, so dass eine Regelmäßigkeit entsteht. Kurze Phrasen können 100 x, längere auch nur 30 x oder 10 x wiederholt werden.
* Nach einer Übungseinheit halten Sie eine Weile inne, atmen Sie und spüren Sie den Wirkungen nach. Dann gehen Sie zum nächsten Wort, zum nächsten Satz oder Gebet über.
* Fügen Sie ein persönliches Gebet an, wenn Sie möchten, und sitzen Sie am Ende noch eine Weile ruhig da, um in die Stille einzutauchen, die entstanden ist. Die ideale Dauer für eine kleinere Kontemplationsübung liegt bei 20 bis 40 Minuten.

Wenn ich Ihnen den Geschmack einer Frucht beschreibe, die Sie noch nie probiert haben, werden Sie meinen Worten nicht blind vertrauen, wenn ich sage, dass Sie gut ist. Aber vorab zu behaupten, es „bringe nichts“, sie zu essen, ohne selbst hineinzubeißen, ist auch keine rationale Verhaltensweise. Es mag zunächst verwirren, dass man unter Kontemplation mehrere voneinander auf den ersten Blick verschiedene Dinge versteht. Mindestens diese drei:

1. Das konzentrierte Nachsinnen über Sachthemen religiöser oder nicht-religiöser Art.
2. Etwas Ähnliches wie Meditation: Anwesenheit in Stille, nach innen gewandtes „Bei-sich-Sein“
2. Etwas Ähnliches wie Gebet: Zwiesprache mit einer göttlichen oder heiligen „Präsenz“

Gebet der Ruhe – „sprechende“ Meditation

Ich verwende im Folgenden „Kontemplation“ in der Art eines stillen Gebets oder eines Gebets mit wenigen Worten. Normalerweise zielt Kontemplation, nach Richard Rohr, darauf ab, den Kontemplierenden zu verändern, also nicht Gott, aber auch nicht – was politisch Aktive bevorzugen würden – „die Gesellschaft“. Das kann im zweiten Schritte geschehen, weil positiv veränderte Menschen die bessere Grundlage für eine veränderte gesellschaftliche Realität sind.

Meditation wie im Zen hat den Nachteil, dass sie den an Aktivität gewöhnten Geist des westlichen Menschen oft unruhig macht. Obwohl sie auch in Bewusstseinsqualitäten führen kann, die manche als „Liebe“, „Güte“ oder „Freude“ umschreiben würden, fehlt manchem religiös geprägten Menschen dabei doch das persönliche Element: die Vorstellung von Gott als einem wohlwollenden „Gegenüber“, einer väterlichen oder mütterlichen „Person“. Es fehlt quasi das Herz der Meditation. Diese Glaubensvorstellungen sind zunächst zu respektieren – ebenso wie es zu respektieren ist, wenn jemand gänzlich auf religiöse Vorstellungen und religiöse Übungen verzichten möchte. Kontemplation ist Meditation auf die erfüllte Gegenwart des Göttlichen. Die umgekehrte Definition mag jedoch für Atheisten und Agnostiker ansprechender sein: Kontemplation ist ein Gebet der Ruhe ohne einen klar umrissenen „Adressaten“. Denn wer möchte es unternehmen, Gott „klar zu umreißen“ — das Verborgene, Geheimnisvolle, nicht Ausinterpretierbare schlechthin?

Man kann nun, wenn man sich nicht auf eine bestimmte spirituelle „Schule“ allein beschränken will, grob vier Phasen der Kontemplation unterscheiden:

1. Ankommen, präsent sein, zur Ruhe kommen
2. „kontemplative Aktivität“, indem man bestimmte Worte, Sätze – vielleicht auch Bewegungen – wiederholt
3. Begegnung mit einer göttlichen Präsenz
4. Ergebnisse der Kontemplation, Veränderungen im Geist und ihre Auswirkungen im Alltag
Die Sinnestätigkeit dämpfen

Der Priester und Zen-Meister Willigis Jäger, der ein sehr wertvolles Buch zum Thema „Kontemplation“ geschrieben hat, verwendet ein für ihn typisches Wassergleichnis: „In der Gebetsübung geht es darum diese Wellen des Bewusstseins zur Ruhe zu bringen, damit der Geist wie ein durchsichtiges, stehendes Wasser wird. Die Ruhe des Bewusstseins wird dann zum Tor zur Kontemplation.“ Wir alle können das Bild unseres Alltagsbewusstseins als einem „aufgewühlten Wasser“ wohl verstehen. Bei so viel Turbulenz sehen wir meist nicht mehr in die Tiefe.

Jäger spricht von einem „Gebet der Ruhe“, was bemerkenswert ist, weil es doch häufiger vorkommt, dass Gläubige mit ihren Worten Gott quasi „zutexten“. Nach Willigis Jäger ist Kontemplation „ein Gebetszustand, der über die Dämpfung der Sinnes- und Verstandestätigkeit zu deren völliger Ruhestellung führt. Das Göttliche ist im Menschen verborgen, aber wenn die aktiven Kräfte unseres Ego zur Ruhe gekommen sind, stößt der Mensch auf eine Wirklichkeit, die er zunächst als nicht sein Eigenes erfährt. Etwas nicht Beschreibbares, ganz Anderes tritt da in sein Bewusstsein.“ Jäger nennt die Kontemplation auch eine „christlich-ungegenständliche Form des Betens“. Dabei geht es nicht um bestimmte Inhalte, sondern um „einen Zustand des Erfahrens jenseits der aktiven Kräfte unseres Tagesbewusstseins.“

Ungeschützt im Augenblick

Richard Rohr betont an Kontemplation vor allem die Absichtslosigkeit. In einer sehr interessanten Passage schreibt er über Kontemplation: „Es bedeutet, ungeschützt vor dem jeweiligen Augenblick, einem Ereignis oder einer Person zu verweilen – ohne zu spalten oder zu versuchen, die Dinge zu beherrschen und zu kontrollieren.“ Dies „ungeschützt“ zu tun, meint vermutlich, dass man auf weltanschaulichen Gedankenballast und Selbstbilder verzichtet, in denen man es sich bequem gemacht hat. Man setzt sich diesem Augenblick „nackt“ aus, ohne das Erleben quasi gedanklich vorzustrukturieren. Man bewertet nicht (Rohr nennt es „Spaltung“, die Kreation von Gegensatzpaaren wie „gut und schlecht“). Man versucht, das innere Geschehen während der Kontemplation nicht zu „beherrschen und zu kontrollieren“, also kein bestimmtes Erlebnis zu erzwingen bzw. unerwünschtes Erleben zu verhindern. Man zwingt das was geschieht nicht in die Bahnen dessen, was man für gut und nützlich hält. Dadurch ist das „pure“ Erleben möglich, das im Buddhismus auch mit dem Wort „Anfängergeist“ beschrieben wird. Der moderne Mensch neigt ja dazu, sich selbst noch am Loslassen festzukrallen und Kontrolle über die Erlebnisform des Sich-Hingebens erlangen zu wollen.

Was sich in der Kontemplation ereignen kann, ist jedoch mehr Geschenk als „Errungenschaft“. So schreibt Richard Rohr: „Etwas von Gott zu erbitten bedeutet nicht, Gott zu überreden; es bedeutet vielmehr, dass das Geschenk in uns geweckt wird. Man bittet nur um etwas, von dem man bereits einen Vorgeschmack hat.“ Kontemplation ist also – scheinbar paradoxerweise – das Aktivieren von etwas, das als Potenzial schon in uns vorhanden ist – und nicht das Hinzufügen von etwas uns eigentlich Fremdem.

In seinem Buch „Wer loslässt, wird gehalten“, verwendet der Franziskaner Richard Rohr für den Bewusstseinszustand des Kontemplierenden ein Bild, das Kritikern als Beleg dafür dienen könnten, dass Religion mit der Regression ins Infantile zu tun habe: „Das Schweigen führt uns zu einem Ergötzen wie in den Armen der Mutter, zum Genuss eines Schweigens wie dem, in dem wir nach dem Liebesakt verweilen. Da gibt es keine Worte. Es gibt nichts zu sagen, außer: ‚Es ist gut, es ist sehr gut‘“. Wenn für eine eigentlich unaussprechliche Erfahrung hier Bilder der Mutter-Kind-Beziehung und der geschlechtlichen Liebe verwendet werden, heißt das nicht, dass diese Erfahrungen nur illusorisch oder wertlos – im schlimmsten Fall geradezu pathologisch – sind. Ein angenehmes, bergendes Gefühl – der Genuss des Schweigens – wird beschrieben. Und „Es ist gut“ meint eine subjektive, eher vorübergehende Erfahrung, kein Statement über die politische oder ökologische Realität.

Friedvolles Einströmen Gottes

Der evangelische Theologe und Sachbuchautor Jörg Zink deutet Kontemplation im Sinne christlicher Mystik ganz als Eintauchen in Gott: „Da aber Gott mir auch gegenwärtig ist wie die Luft, die ich atme, oder wie das Meer, in dem ich schwimme, das mich umgibt und trägt, so verbindet mich mit ihm auch eine ganz andere Form des Betens: die Kontemplation. Kontemplation ist die vollkommene Ruhe, mit der du in Gott bist.“ Johannes vom Kreuz, der große spanische Mystiker des 16. Jahrhunderts, sagte: „Kontemplation ist ein verborgenes, friedvolles und liebeerfülltes Einströmen Gottes.“ Damit es einströmen kann, ist es aber wichtig, dass die Fenster und Türen geöffnet sind. Der Mensch sollte bereit sein, muss aber für dieses Bereitsein auch nicht allein die Verantwortung tragen. Er kann darum bitten, geöffnet zu werden. „All unser Bemühen ist eine Geste des Bittens, um wesensgemäß empfänglich zu sein.“

Auch für die Kontemplation gilt: „Es gibt nichts Gutes, außer man tut es“. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob ein Kontemplieren auf Gott oder Jesus größeren Gewinn bringt als die Anrufung des berühmten „Fliegenden Spaghettimonsters“, das der Atheist Richard Dawkins herbeizitiert hat, um den Wahrheitsanspruch der Religionen zu verhöhnen. Probieren Sie’s aus, aber geben Sie den Übungen, wenn Sie es tun, eine echte Chance. Legt man die Forschungsergebnisse von Newberg und Waldman zugrunde, wäre es denkbar, dass man zum Kontemplieren auch den Satz „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“ verwenden und damit – in Kombination mit Entspannung und einem bestimmten Atemryhthmus – positive Effekte erzielen kann. Ich denke aber, dass diese Wirkung begrenzt wäre. Es lohnt sich für Menschen, die sich nicht als „religiös“ verstehen, es mit einem neutralen, aber beruhigenden und angenehmen Satz zu versuchen, der keine Assoziationen an ein unliebsames kirchenchristliches Weltbild weckt. Z.B. „Meine Seele darf sich ausruhen.“

Keine Trennung in „heilig“ und „profan“

Eines der größten Missverständnisse in Bezug auf Mystik und Kontemplation ist die Annahme, es handle sich um weltfremde Bigotterie, der Kontemplierende halte sich für „etwas Besseres“ oder wolle sich seiner Verantwortung für „die Realität“ nicht stellen. Kontemplation findet quasi im inneren Heiligtum des Menschen statt, aber sie ist keine Heiligtümelei. Nichts ist weniger auf Außenwirkung bedacht als diese sehr introvertierte „Kunst“. Kein „Schaut alle her, ich bin fromm“ und „Ich habe von Euch allen das kleinste Ego“. Niemand muss wissen, dass Sie „es“ tun, zugleich ist es völlig unnötig, sich deswegen zu schämen. Ein kontemplatives Leben wächst aus dem Alltag heraus und wirkt auf den Alltag zurück. Es ist eine Pause im aktiven Leben und zugleich selbst gesteigerte Lebendigkeit.

Willigis Jäger schreibt in „Kontemplation“ hierzu: „Im eigentlichen Zustand der Kontemplation werden beide Bewusstseinszustände gleichzeitig erfahren: der Zustand der Erleuchtung und der des Tagesbewusstseins. Mit anderen Worten: die Erfahrung ist in die Gesamtpersönlichkeit integriert worden. Es gibt keine Trennung mehr zwischen sakral und profan, zwischen vita activa und vita contemplativa. Alles ist sakral. Oder – wem das lieber ist: nichts ist sakral.“ Kontemplation ist kein Realitätsdrückebergertum, es hilft Realität mitzugestalten, anstatt sie nur passiv zu erdulden. Zunächst ist hier die innere Realität gemeint, die nicht mit Illusion, Halluzination oder Geistesverschwommenheit verwechselt werden darf; gemeint ist eine tatsächliche Realität neben und gleichberechtigt mit der äußeren.

Bei Schicksalsschlägen ruhig bleiben

Auch die äußere – z.B. Familie, Beruf, Gesellschaft – verändert sich jedoch nach und nach zusammen mit der inneren. Das bedeutet nicht, dass wir Phänomene wir Ausbeutung oder Krankheit kontemplativ schön zu färben zu versuchen, sondern dass wir unsere Art des Reagierens auf Negatives verändern, um schließlich – weil wir die Kraft und Ruhe dazu erlangt haben – auch das Negative selbst zu verändern oder dies zumindest zu versuchen.

Hierzu noch einmal Willigis Jäger: „Ist der Mensch durch die Kontemplation wirklich in seine Mitte gelangt, überwältigt ihn kein Problem mehr. Er bleibt auch bei so genannten Schicksalsschlägen ruhig, wenn er etwa Besitz und Freunde verliert, verleumdet wird oder zu wenig oder keine Anerkennung und Zuwendung erfährt. Hat man den wahren inneren Standpunkt gefunden, bleibt man auch in emotionalen und intellektuellen Erschütterungen gleichmütig.“ Natürlich fragt sich bei der Lektüre dieser Zeilen, ob man absolut jeden Schicksalsschlag auf diese Weise abfedern kann. Manches entzieht sich gewiss dem Einflussbereich spiritueller Übungen, und Extrembeispiele wie das von Franz Jalics, der schließlich auf reiche spirituelle Übungspraxis zurückgreifen konnte, sind nicht auf alle Menschen übertragbar. Dennoch rate ich, nicht vorschnell anzunehmen, das eigene Schicksal sei so schlimm, dass es in keiner Weise zu lindern und tröstlich anzuleuchten wäre durch Kontemplation. Versuchen Sie es einfach. Jeder kennt auch in schmerzlichen Lebenssituationen Bewältigungsstrategien, die helfen, und Menschen, die „es“ leichter wegstecken können als andere. Kontemplation könnte eine solche Strategie sein.

Martha, Jesus und Maria

Der Martha-Geist: bewusstes Wirken

Brauchen wir also mehr Maria und weniger Martha in unserer modernen, eher hyperaktiven und mystikfeindlichen Zeit? Nicht unbedingt. Die Geschichte aus dem Leben Jesu wurde oft so gedeutet, dass die Kontemplative die „bessere“ Schülerin ihres Meisters gewesen sei. Man solle also z.B. spirituellen Belehrungen lauschen statt dem Gast ein Glas Wasser zu bringen, zu helfen und in das Weltgeschehen einzugreifen. Eine ganz andere Deutung des Schwesternpaares Maria und Martha lieferte der Mystiker Meister Eckhart. Er beschreibt Martha als Prototypen einer Geisteshaltung, die er „bewusstes Wirken“ nennt. „Bewusstes Wirken nenne ich das, wo man lebendige Wahrheit mit fröhlicher Gegenwärtigkeit in guten Werken verbindet. (…) Da bringen uns Werke ebenso nahe zu Gott und sind uns genauso förderlich wie alles verzückte Schwelgen Maria Magdalenens.“

Dies ist auch Warnung verstehen, sich nicht gleichsam an spirituellen Übungen zu betrinken, aufkommende angenehme Gefühle passiv zu genießen und dabei den Alltag mit seinen praktischen Anforderungen gering zu schätzen. Im Extremfall würde man dabei in mystischer „Verzückung“ versinken und nicht bemerken, dass ein Mensch in nächster Nähe Not leidet und der Hilfe bedarf. Mystik wäre Weltflucht aus einer gewissen Lebensschwäche oder aus spirituellem Egoismus heraus. Dagegen Meister Eckhart: „Martha war so im Wesentlichen, dass alle Wirksamkeit sie nicht hinderte und dass alles Tun und alle Geschäftigkeit sie auf ihr ewiges Heil hinleitete.“ Und in Umkehrung der gebräuchlichsten Auslegung des Bibeltextes: „Maria musste erst eine Martha werden.“

Der im bewussten Wirken zentrierte Mensch wird durch alltägliche Tätigkeit nicht aus seiner kontemplativen Geisteshaltung „herausgerissen“. Er bleibt auf Gott und sein eigenes innerstes Kraftzentrum ausgerichtet – mitten in allen Zerstreuungen und Herausforderungen des Lebens. Schon gar nicht ist ihm das Wohlergehen seiner Mitmenschen gleichgültig. Gleichzeitig ist sein Handeln nie „unbewusst“ im negativen Sinn; es wird ausgerichtet bleiben auf den in der „Versenkung“ gefundenen Seelenschatz. Der Bewusste sollte wirken – aber umgekehrt gilt auch: Wer wirkt, sollte dies bewusst tun. Der traditionell existierende Graben zwischen dem politischen (aktiven) und dem spirituellen (kontemplativen) Leben, erscheint vor diesem Hintergrund sinnlos.

Anknüpfend an Meister Eckhart, schreibt der Dominikaner Burkhard Conrad treffen: „Bewusstes Wirken, auch in der Politik, geschieht dort, wo in der Gegenwart des guten Lebens das kontemplative Schauen nie fern ist. Im bewussten Wirken fließt die Kontemplation in die Aktion über, nicht chronologisch, sondern beständig. Aber auch das aktive Handeln kontaminiert fortdauernd die Kontemplation. Die nur scheinbar getrennten Welten von Schau und Tun sind so aufs Engste miteinander verschachtelt. Unrecht tut nicht der, der persönlich das eine dem anderen vorzieht. Unrecht tut der, der normativ das eine höher als das andere bewertet. Genau das zeigt einen Mangel an ‚Bewusstsein‘ im Wirken und Beten.“

 

Buchtipps:

Willigis Jäger: Kontemplation. Gott begegnen – heute. Verlag Herder spektrum.

Richard Rohr: Pure Präsenz. Sehen lernen wie die Mystiker. Verlag Claudius

Jörg Zink: Die goldene Schnur. Anleitung zu einem inneren Weg. Verlag Kreuz

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