Michael Ende – Der Aufstand der Fantasie gegen die Macht

 In FEATURED, Filmtipp, Kultur, Roland Rottenfußer

 

Filmszene aus „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“

Scheinriesen, Oberbonzen, Halbdrachen, Graue Herren, die Kindliche Kaiserin – viele der Kreationen Michael Endes sind heute Gemeingut. Eine aufwändige Realverfilmung des Kinderbuch-Klassikers „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ erweckt den Zauber für eine neue Generation zum Leben. Wer aber war Michael Ende (gest. 1995)? Mit Sicherheit ein ernsthafter Mann, der eine Botschaft hatte und in seinen Romanen Wirtschaftstheorie wie Machtkritik publikumswirksam verarbeitete. Ende war aber auch ein Nachfolger der Romantiker, die eine Wiederverzauberung unserer Wirklichkeit herbeisehnten und das kreative Subjekt zum Mittelpunkt des Universums erhoben. (Roland Rottenfußer)

Was für ein Theater, weil in der Verfilmung von Tolkiens „Der Hobbit“ ein Drache animiert wurde! In „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“, Dennis Gansels Realverfilmung des Kinderbuchklassikers, kommen dutzende dieser Kreaturen vor. Und – was nicht jeder Fantasy-Film von sich behaupten kann – ein veritabler Halbdrache. Für mich selbst war Jim Knopf prägend. Nicht die Fernsehproduktion der „Augsburger Puppenkiste“ mit ihren ungelenken Marionette und dem Plastikfolien-Meer. Nicht der Superhit „Eine Insel mit zwei Bergen“ – nein die Bücher selbst, die mich als Kind in eine faszinierende Welt entführten.

„Ich setzte mich also an meine Schreibmaschine und schrieb: ‚Das Land, in dem Lukas der Lokomotivführer lebte, war nur sehr klein.’ Das war der erste Satz, und ich hatte nicht die geringste Vorstellung, wie der zweite heißen würde. Ich hatte keinerlei Plan zu einer Geschichte und keine Idee.“ So beschrieb Michael Ende den Beginn seiner Arbeit am Buch. Lummerland war der Kindheits-Mikrokosmos von so vielen – bis heute. Ende der 50er-Jahre entwickelte Ende die Idee zu seinem ersten Roman. Er war damals Filmkritiker für den bayerischen Rundfunk und – nicht uninteressant im Hinblick auf den subversiven Humor seiner Werke – Texter für ein politisches Kabarett. Denkt man etwa an das System der „Bonzen“ im stark verfremdeten „China“ des Jim-Knopf-Universums, ein bürokratisches System, in dem es einen Menschen ohne Ausweis „gar nicht gibt“, so ist das beste Satire.

Keine Angst vor Fremden!

Das wichtigste politische Statement aber war die Hauptfigur selbst. Ein Leser von „Jim Knopf“ wird für jede Abneigung gegen Menschen anderer Hautfarbe nach der Lektüre schlicht kein Verständnis mehr aufbringen. Der Scheinriese „Herr Tur Tur“, auch ein Diskriminierter und Ausgegrenzter, der in die Wüste fliehen muss, weil er alle Menschen durch seine (scheinbare) Größe erschreckt, ist ein weiterer prägender Held der Geschichte. Hab keine Angst vor dem Fremden, will seine Geschichte sagen. Je näher er dir kommt, desto mehr schwindet die Angst. Und als Lukas seinem Schützling Jim erklärt: Weißt du, in manchen Ländern mögen Leute einen Jungen nicht, nur weil er schwarz ist, kann der Titelheld nur ungläubig staunen.

Diese engagierte Haltung kam nicht von ungefähr. Vor einigen Jahren veröffentlichte die Jounalistin Julia Voss eine innovative Deutung des Romans, der den „Märchenonkel“ Ende in einem ernsthafteren Licht erscheinen ließ. Demnach sei „Jim Knopf“ ein Gegenentwurf zur Rassenideologie der Nazis. Michael Ende war Jahrgang 1929. Er war dem vulgärdarwinistischen Rassismus der Hitler-Diktatur somit als Schüler ausgesetzt. Michael war der Sohn des surrealistischen Malers Edgar Ende – nach Einschätzung der Reichs-Kulturkammer ein „entarteter“ Künstler. Damals war das Anderssein des Vaters brandgefährlich. Freunde der Familie, darunter Juden, wurden deportiert. Michael lernte gegenüber Fremden seine Worte zu wägen. Die Familie blieb dennoch in Deutschland, etwas in Endes Wesen musste sich aber schon früh der einengenden Ideologie jener braunen Herren widersetzt haben. Als der Teenager kurz vor Kriegsende zur „Heimatverteidigung“ herangezogen werden sollte, desertierte er – und überlebte den Krieg.

Halbdrache Nepumuk – ein antifaschistisches Statement

Nahe der Drachenstadt „Kummerland“, in der entführte Kinder Opfer einer kruden schwarzen Pädagogik werden, lebt – ausgegrenzt – der Halbdrache Nepomuk, Sprössling eines Drachens und eines Nilpferds. „Achtung! Der Eintritt ist nicht reinrassigen Drachen bei Todesstrafe verboten“ hängt am Eingang zur Drachenstadt. Nepomuk der Nicht-Reinrassige leidet unter dieser Diskriminierung und wünscht sich nichts sehnsüchtiger als die Anerkennung als vollwertig, „gefährlicher“ Drache. Eine skurrile Episode am Rande mit ernstem Hintergrund.

„Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ und die Fortsetzung „Jim Knopf und die Wilde 13“ sind aber auch einzigartig durch die Art und Weise, wie darin mit dem „Bösen“ verfahren wird. Es soll nie vernichtet werden, stets vollzieht sich mit ihm am Ende einer wundersamen Erlösung und Verwandlung. Frau Mahlzahn, die Drachen-Lehrerin, Schreckgespenst aller Schüler, wird zum gutartigen „Goldenen Drachen der Weisheit“. Die Piraten der „Wilden 13“ mutieren, gezähmt, zur Leibwache Jims, der sich als Prinz eines versunkenen Königreichs erweist.

Ein Marc Chagall der Literatur

Im eigenen Land aber galt der bald in viele Sprachen übersetzte „Prophet“ wenig. Kritiker – Ende nannte sie später „Büchernörgele“ – nahmen den Autor aufs Korn, warfen ihm „Eskapismus“ vor. Ende bereite seine Leser zu wenig auf die harte Realität vor. Daraus spricht ein besserwisserischer Bierernst, der vielleicht zu den Schattenseiten der damals grassierenden 68er-Mentalität gehörte. Später beschwerte sich Ende: „Man darf von jeder Tür aus in den literarischen Salon treten, aus der Gefängnistür, aus der Irrenhaustür oder aus der Bordelltür. Nur aus einer Tür darf man nicht kommen, aus der Kinderzimmertür. Das vergibt einem die Kritik nicht.“ Nicht zuletzt wegen der Anfeindungen in der Heimat zog das Ehepaar Ende Anfang der 1970er-Jahre nach Italien. Die dortige gelassene und lebensfreundliche Mentalität bildete später den bezaubernden atmosphärischen Hintergrund des Romans „Momo“.

Wäre er ein Maler geworden, so hätte er in der Art von Marc Chagall gemalt, äußerte Ende einmal. Eine lebensfreundliche Verspieltheit wohnt den Werken beider Künstler inne, in der Art wie sie aus der vordergründigen Realität Bruchstücke nehmen und sie in der frei schweifenden und träumerischen Art ihres Geistes wieder zusammensetzen – märchenhaft, „kindisch“ zwar, jedoch auch im Wissen um die grausamen Aspekte der Realität. Chagalls Werke träfen, so Ende, „den Herzton des Ewig-Kindlichen“, welches uns wissen lässt, „dass es alles das gibt, dass es sogar wirklicher ist als alle nur diesseitige Wirklichkeit“. Es sei für den Menschen entscheidend, so sagt Michael Ende, kein „richtiger Erwachsener“ zu werden. Diesen definiert er als „das entzauberte, banale, aufgeklärte Krüppelwesen, der in einer entzauberten, banalen, aufgeklärten Welt so genannter Tatsachen existiert.“

Der schleichende Tod Fantasiens

Der Realist als Schrumpfform des Menschen, der in der Folge seiner Sozialisation einen Großteil seines Potenzials geopfert hat. Wir können dabei ruhig an die „Unendliche Geschichte“ denken und an jene Traumlandschaft Fantasien, die Schritt für Schritt von einem bedrohlichen „Nichts“ aufgefressen wird. Es ist die zur symbolischen Realität gewordene Leere im Kopf der Menschen, die aufgehört haben, an Träume und Geschichten zu glauben. Bastian Bux, der jugendliche Held der Geschichte, schafft es, Fantasien aus einem kleinen verbleibenden Geistesfunken aufgrund seiner Einbildungskraft wieder zu errichten. Das „Nichts“ aber ist kein Schicksalsschlag, sondern eine von Dunkelmächten inszenierte Auslöschung. Verkörpert wird es durch den Werwolf Gmork, einem Wesen, das wie Richard Wagners Alberich aus der Macht über die Seelen eine giftige Ersatzbefriedigung zieht. Voll Neid auf die liebesfähigen, fantasiebegabten Kräfte, will er zerstören, was ihm selbst nicht gegeben ist.

Interessant im Hinblick auf die negativen Kräfte in Endes Werk ist die Tatsache, dass der Künstler dämonische Einflüsse auf unserer Erde wahrscheinlich für real hielt. Prägend hierfür war wohl Rudolf Steiners Anthroposophie – Ende machte nach dem Krieg 1948 sein Abitur an einer Waldorfschule in Stuttgart. In einem Aufsatz skizziert er seine spirituelle Weltsicht: „Ich bin überzeugt, dass es außerhalb der mit unseren Sinnen wahrnehmbaren Welt noch eine andere reale Welt gibt und dass der Mensch von dort herkommt und dort wieder hingeht. Für mich ist die Natur nicht bloß die Summe aus Chemie und Physik. (…) Für mich schaut die Welt so aus, dass der gesamte Kosmos wie ein riesiges Amphitheater von Göttern und Dämonen erfüllt ist, die mit atemloser Spannung zuschauen, was wir hier machen.“

„Die grauen Herren“ – Symbolfiguren unserer Epoche

Erst 1973 konnte Michael Ende an den Erfolg seines Erstlings „Jim Knopf“ anknüpfen. „Momo“ – auch verfilmt und durch Musik von Angelo Branduardi geadelt – wird viel geliebt, in seiner politischen und wirtschafstheoretischen Bedeutung aber nicht immer verstanden. Ende lehnt sich in seinem Bild der „Grauen Herren“, die den Menschen ihre Zeit stehlen und sich vom kalten Rauch nicht gelebten Lebens nähren, u.a. an die Ideen des Geldtheoretikers Silvio Gesell an. Er entwirf aber auch die Utopie eines „guten Lebens“, das eigentlich ein ganz einfaches ist: eine Welt, in der Menschen mit wenigem zufrieden sind, einander zuhören und füreinander Zeit haben. Auch gegen reale „Graue Herren“ unserer Zeit bedeuten Herzlichkeit und Einfachheit Widerstand.

Vor allem ist es ein Buch über die Zeit, die hier in einem besonderen Sinn zugleich Geld ist. Die „Grauen Herren“ sind Spukgestalten, die sich von jener Zeit ernähren, die die Menschen auf ihr Geheiß eingespart haben. Aus den „Stundenblumen“, Symbolen des Schönen und Lebendigen wird kalter Rauch, das Suchtmittel der spröden Zwingherren. Unter ihrem Diktat verwandelt sich die freundliche mediterrane Welt, die Momo ursprünglich bewohnte, in eine dystopische Schreckensvision, in der Hetze, Unfreundlichkeit und Geiz regieren. Eine zugleich erhellende und unheimliche Satire auf unsere moderne Realität

Horte nicht, lebe!

Die Idee, Menschen sollten Zeit „horten“, sie damit dem zwischenmenschlichen Austausch entziehen und lebensfeindlichen Mächten zur Verwertung auszuliefern, ist der deutlichste Hinweis darauf, dass Ende mit seinem „Märchen“ auch unser Geldsystem im Auge hatte. Im Briefwechsel mit dem Ökonomen Werner Onken, der ein Buch über die wirtschaftstheoretischen Hintergründe von „Momo“ verfasst hatte, bekannte Ende: „Ich freue mich sehr, dass Sie mein Buch so gut verstanden haben, vor allem auch, was die esoterischen und ökonomischen Hintergründe betrifft. Übrigens sind Sie bis jetzt der erste, der bemerkt hat, dass die Idee des ‚alternden Geldes’ im Hintergrund meines Buches MOMO steht. Gerade mit diesen Gedanken Steiners und Gesells habe ich mich in den letzten Jahren intensiver beschäftigt, da ich ja zu der Ansicht gelangt bin, dass unsere Kulturfrage nicht gelöst werden kann, ohne dass zugleich, oder sogar vorher, die Geldfrage gelöst wird.“ Als „alterndes Geld“ hatte Silvio Gesell die Idee bezeichnet, Geld solle – wie Gemüse – „verfallen“ und an Wert verlieren. Dadurch würden es Menschen, anstatt es zu horten und auf Zinsgewinne zu spekulieren, in den Umlauf zurückschleusen, wo es die Wirtschaft anregen könne.

Kreative Ideen wie diese haben sich in der „Graue Herren“-Welt der Ökonomie bis heute nicht durchgesetzt. Umso erfrischender wirkt Endes antikapitalistischer Utopismus, der auch erwachsene Leser mit politischen Interessen frei durchatmen lässt. In einer komplett entzauberten Welt, in der im Dienst von Machtinteressen emotionale Kälte, Bewusstseinsenge, Zeitnot und ein die Kreativität erstickendes Effizienzdenken herrschen, bedeutet Poesie Widerstand. Michael Ende war ein später Frühromantiker in der Tradition des „deutschen Idealismus“, einer Philosophierichtung, die das schöpferische „Ich“ als die Ursache der wahrnehmbaren Realität ansah. Schon der Dichter Novalis beabsichtigte ja eine Poetisierung der Welt.

Jim Knopf reloaded

Michael Ende erlebte die Realverfilmung seines Erstlings nicht mehr. Ob er zufrieden gewesen wäre ist schwer zu sagen, denn gegen die Macher des Films „Die Unendliche Geschichte“ (Regie: Wolfgang Petersen) hatte der Autor bekanntlich einen Prozess angestrengt. Auf den ersten Blick jedoch trifft der liebevoll gemachte „Jim Knopf“-Film den Tonfall der Buchvorlage recht gut. Wenn das Werk an den Kinokassen reüssiert, dürfte ein „Sequel“ nicht lange auf sich warten lassen. In „Jim Knopf und die Wilde 13“ würden die Zuschauer dann der Meerjungfrau Sursulapitschi begegnn, würden lernen, warum ein Perpetuum mobile entgegen rationalistischer Vorurteile doch funktioniert und endlich erfahren, aus wie vielen Mitgliedern die Seeräuberbande „Die Wilde 13“ besteht. Dies ist nicht ganz so leicht zu beantworten, wie es auf den ersten Blick scheint…

 

Einen Kommentar hinterlassen

Beginnen Sie mit der Eingabe und drücken Sie Enter, um zu suchen