Produktionsfaktor Kunst

 In FEATURED, Kultur, Philosophie, Politik

Die Schriften von Thomas Metscher zu Kulturfragen zeigen, wie sich der Kapitalismus ideelle Werte aneignet und sie kommerziell ausschlachtet. Wenn Spießer Träume und Wünsche haben, macht der Kapitalismus ein Geschäft daraus — wenn ein neuer Zeitgeist dagegen rebelliert, macht er ein Geschäft aus dieser Rebellion und verkauft Che-Guevara-T-Shirts. Rassistische Unterdrückung ist für ihn ebenso ein Geschäft wie die antirassistische Kritik daran. Unweltverschmutzung wird ebenso vermarktet wie Umweltschutz. „Kulturbetrieb“ und „Kunstmarkt“ haben den Warencharakter kultureller Erzeugnisse augenfällig gemacht. Eingebettete Kultur bringt ihre Abhängigkeit vom großen Geld auf zweierlei Weise zum Ausdruck: durch ihre seichten und angepassten Inhalte und indem sie sich ihrer Vermarktung widerstandslos hingibt. All das ist im Grunde nicht neu. Schon Karl Marx und die an ihn anknüpfende marxistische Kulturkritik haben Glänzendes darüber geschrieben. Der Autor konnte analytisch vor allem von einem profitieren: dem Literaturwissenschaftler und Philosophen Thomas Metscher, dessen Werk er uns in diesem Artikel nahebringt. Rudoph Bauer

 

Lenin sah die weltgeschichtliche Bedeutung des Marxismus darin begründet, „dass er die wertvollsten Errungenschaften des bürgerlichen Zeitalters keineswegs ablehnte, sondern sich umgekehrt alles, was in der mehr als zweitausendjährigen Entwicklung des menschlichen Denkens und der menschlichen Kultur wertvoll war, aneignete und es verarbeitete“. Das Zitat entstammt dem Band „Kultur. Ein geschichtlicher Entwurf“ von Thomas Metscher, erschienen im fortschrittlichen Kasseler Mangroven-Verlag.

Lenins Feststellung gewinnt gerade heute eine besondere Bedeutung. Denn die aus den USA importierte „Cancel Culture“ und die Bewegung der „Political Correctness“ ergehen sich im Wahn der Verdächtigungen und Verbote. Philosophische Schriften und die klassischen Werke der Literatur, der Malerei und der Musik werden ebenso wie die Biografie ihrer Schöpfer nach Anstößigem durchstöbert.

Als schimpflich gilt alles, was den Sittenwächtern des neoliberalen Reinheitsgebots missfällt. Eine Kritik an den Auswüchsen der kapitalistischen Ausbeutung und der imperialistischen Unterdrückung hingegen sucht man bei ihnen vergebens.

Die Fackel des Marxismus

Thomas Metscher ist ein angesehener Literaturwissenschaftler und marxistischer Philosoph von hohem Rang — einer der ganz wenigen, die auch über Deutschland hinaus bekannt sind und die Fackel des Marxismus durch unsere marxistisch wenig erleuchtete Gegenwart tragen. Das schon allein ist Grund, sich seiner Neuveröffentlichung mit dem wachen Interesse des Lernenden zuzuwenden.

Um es vorauszuschicken: Das Interesse wird nicht enttäuscht. Viele neue Einblicke und Erkenntnisse beflügeln die Lernbereitschaft beim Lesen. Die Lektüre wird zu einem intellektuellen Abenteuer, weil uns der Autor einerseits an seinem umfassenden kulturhistorischen und philosophischen Wissensschatz teilnehmen lässt. Andererseits zeigt er auf, wie sich das theoretische Rüstzeug des Marxismus analytisch und kritisch auf die Künste, ihre Geschichte und aktuelle Verfasstheit anwenden lässt.

Der „Kultur“-Band ist in dieser Hinsicht kein solitärer Einzelfall. Er stellt eine wichtige Ergänzung zu den beiden anderen, vorausgegangenen Bänden dar, die in keiner marxistischen Theorie-Bibliothek — aber auch sonst in keiner Bibliothek — fehlen dürfen: Metschers kunsttheoretische Studien mit dem Titel „Ästhetik, Kunst und Kunstprozess“ (veröffentlicht 2013) und seine an die Französische Revolution und die Geschichte der Commune erinnernden „Pariser Meditationen. Zu einer Ästhetik der Befreiung“ (2019).

Der neue Band ist sowohl kunsttheoretisch als auch kunsthistorisch von besonderem Belang. Er gliedert sich in drei Teile, von denen sich der erste der geschichtlichen Herausbildung sowohl des allgemeinen Kunstbegriffs als auch der realen Künste widmet. Der zweite Teil entwickelt, ausgehend von Marx und Engels, eine marxistische Kunsttheorie. Der abschließende dritte Teil beinhaltet theoretische Erweiterungen, Kritik und offene Fragen.

Kunst und Geschichte

Die historische Herausbildung des allgemeinen Kunstbegriffs schlägt den Bogen von der Antike (Aristoteles) über die Neuzeit bis hin zur Moderne (Auerbach, Lukács, Holz). Eine zentrale Rolle spielt hierbei der Begriff der Mimesis. Im Sinne von Realismus bezeichne die nachahmende Mimesis keine naturalistisch simple Abbildrelation oder Imitation. Sie beziehe sich vielmehr auf das Phänomen, dass im Kunstwerk ein Weltmodell im Begriff zu entstehen sei.

Als ästhetisches Prinzip betreffe der Realismus das Verhältnis von Werk und Wirklichkeit, also den Wirklichkeitsgehalt des Kunstwerks. Das Realismus-Prinzip besagt, „dass die Wirklichkeit in ihren vielfältigen bestimmenden Faktoren sich im Kunstwerk niederschlagen soll“ (Holz). Nach Metscher ist Realismus ein ästhetisch-systematischer Begriff. Er beinhalte eine lebendige Wirklichkeitsdarstellung und sei weder historisch begrenzt noch auf eine einzige Kunstgattung beschränkt.

Wie der auf die Wirklichkeit bezogene Kunstbegriff, so haben sich auch die Künste historisch entwickelt. Die Einsicht in ihre Geschichtlichkeit gelte im doppelten Sinn: Kunstgeschichte sei sowohl begriffliche Theoriegeschichte als auch Geschichte materiell existenter, historisch überlieferter Formen. Metschers Entwurf einer Geschichte der Künste verharrt aber nicht in der Rückschau, sondern sie greift aus auf die ästhetische Moderne und „das Spezifikum der Künste im imperialistischen Zeitalter“.

Künste im Imperialismus

Der Autor führt die ästhetische Moderne zurück auf die Krise der bürgerlichen Gesellschaft und die Entstehung des Imperialismus. Das Bewusstsein der Krise finde seinen frühen Ausdruck schon in den künstlerischen, literarischen und musikalischen Werken des 19. Jahrhunderts — genauso auch im „Kommunistischen Manifest“ und im „Kapital“.

Für die Künste im 20. und 21. Jahrhundert zeigt Metscher auf, dass die Werke der Kunstschaffenden vielfältige Formen und Gestalten angenommen haben. Im internationalen Maßstab sei eine Vielzahl von Zentren modernen Kunst- und Kulturschaffens entstanden, die auf global-imperialer Ebene unter anderem auch durch ein kommerzielles Beziehungsnetzwerk miteinander verbunden sind. Mit der technologischen Entwicklung des Kapitalismus seien neue, ästhetisch eigenständige Kunst- und Kunstvermittlungsarten auf den Plan getreten: etwa die Fotografie, der Film, Radio und Fernsehen, schließlich unter anderem Video, Computer, Instagram, YouTube, Zoom.

Gleichzeitig sei Kunst zur Institution und zur ideologischen Macht geworden, bestehend aus Märkten, Messen, Agenturen, Feuilletons, Galerien, Preisverleihungen, Auktionen, Events und so weiter. Im Verlauf dieser Entwicklung überlagerten sich Tauschwert und ästhetischer Wert: Das teuerste Kunstwerk gelte als das ästhetisch anspruchsvollste, der höchstbezahlte Dirigent als der beste Interpret, die kostspieligsten Festspiele werden als die künstlerisch bedeutsamsten gefeiert und so weiter. Nichts wert sei Kunst hinwiederum dann, wenn sie keine Preise erhält sowohl in Form einer Auszeichnung als auch eines Kaufpreises.

Warenfetisch im Kunstbereich

Auf diese Weise dringe die Macht des Warenfetischs in den Kunstbereich ein. Nicht ohne Grund ist vom Kunstbetrieb die Rede. Die ästhetischen Werte erodierten ebenso wie die Kriterien der Bewertung. Kunst erweise sich als ideologische Macht im doppelten Sinn: zum einen, indem sie scheinbar unpolitisch die kapitalistische Realität ignoriert beziehungsweise stabilisiert; zum anderen, indem den Kulturschaffenden Aufmerksamkeit und Anerkennung gezollt wird, wenn sie ihre nicht-kapitalistischen Herkunftsländer verlassen und „rübermachen“, wie es beispielsweise bei DDR-Künstlern und -Schriftstellern vor 1989 der Fall war oder bei Ai Weiwei aus China der Fall ist.

Mit dem Kapitel über die „Transformation des ästhetischen Gegenstands in der Epoche des Imperialismus“ endet der erste Teil von Metschers „Kunst“-Buch. Im Anschluss daran untersucht der kürzere zweite Teil das Verhältnis von Marxismus und Kunst. Die Beziehung beider lasse sich nach Art einer kritischen Synthesis beschreiben: Bestimmend sei einerseits die Kritik des ideologisch Falschen und andererseits die Aneignung dessen, was — wie im Lenin-Zitat eingangs angedeutet — als kulturell wertvoll erkannt wird.

Kunst werde von Marx und Engels in einem sehr exakten und differenzierten Sinn als etwas historisch Gewordenes verstanden, als Teil eines konkreten, geschichtlich je partikularen Ensembles gesellschaftlicher Verhältnisse. Sie könne ebenso wenig wie die Entwicklung eines individuellen Künstlers, Schriftstellers oder Komponisten — männlich wie weiblich — begriffen und verstanden werden, wenn man sie losgelöst von den Verhältnissen und Bedingungen ihrer Produktion und der rezipierenden Konsumption betrachtet.

Materielle Basis oder Überbau

Hiervon ausgehend, berührt die Gedankenführung von Thomas Metscher das Theoriemodell des Verhältnisses von Basis und Überbau, wie es Marx im Vorwort „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ entwickelt hat. Die Frage lautet: Wo ist Kunst in diesem Spannungsverhältnis anzusiedeln, auf der Seite der materiellen Basis oder auf der des ideologischen Überbaus?

Der Autor erklärt, für die Marx-Engels‘sche Kunstauffassung sei in diesem Zusammenhang der Begriff der „ideologischen Formen“ bedeutsam. Bei diesen handle es sich um Bewusstseinsformen, die zum einen den Strukturen des Überbaus eingelagert sind. Zum anderen gelten sie zugleich als Teile des durch die Produktionsweise der materiellen Existenz bedingten sozialen, politischen und geistigen Lebensprozesses. Die ideologischen Formen verfügten über eine eigengesetzliche Struktur und konstituierten eigenständige Bereiche mit entsprechenden Praxisfeldern und Institutionen.

Obwohl Marx und Engels kein systematisches Theoriekonzept von Kunst und Ästhetik ausgearbeitet haben, rekonstruiert Metscher aus den Ideen, die verstreut in ihren Schriften aufzufinden sind, einen systematischen Zusammenhang. Diesen verdeutlicht er in einem Exkurs am Beispiel der Sprache in fünf Schritten. Sprache sei

  1. die materielle Existenz des Bewusstseins,
  2. das Organ des Weltbewusstseins wie auch des Selbstbewusstseins, und
  3. sie sei gesellschaftliches Produkt. Sie entwickle sich
  4. als Bewusstsein des Ich, der anderen und der Welt. Bewusstsein und Sprache durchlaufen
  5. einen Entwicklungsprozess, ausgehend von der archaischen Stufe des bewussten Instinkts bis hin zu ihrem Stellenwert in der Gegenwart.

Die Verschriftlichung von Sprache in der Literatur sei Arbeit, um die Welt zu erschließen. Zugleich sei sie das Archiv menschlicher Erfahrung und des darauf beruhenden Wissens. Nicht zuletzt aber sei der Sprachraum ein ideologischer Raum. Als Ort des Widerstreits divergierender sozialer Kräfte und des Konflikts antagonistischer Interessen seien Sprache und Literatur — ebenso bildende Kunst und musikalische Werke — geprägt vom Klassenkampf. Am deutlichsten zeige sich dies unter anderem in der Sprache der Propaganda, des Militarismus, bei Fake News, in der Unterhaltung ebenso wie bei der Panikmache.

Ästhetische Wahrheit und offene Fragen

Der dritte Teil des „Kunst“-Buches schließt an die Ausführungen des zweiten Teils an. Metscher erweitert hier zunächst die Bestimmung der Kunst im Rahmen des Marxismus als politische Weltanschauung. Er thematisiert die Einheit von Wissenschaft, Philosophie und Kunst als Grundpfeiler des Integrativen Marxismus. In einem weiteren Kapitel übt er Kritik an der idealistischen Dialektik eines Autors, der an dem Anspruch scheitere, ästhetische Probleme von einem marxistischen Standpunkt aus zu lösen.

Abschließend erörtert er unter Bezug auf Hegel, Lukács, Hans Heinz Holz und Wolfgang Heise offene Fragen zum Problem ästhetischer Wahrheit. Aufgrund ihrer sozialen Entstehung und Funktion sei Kunst an Ideologien gebunden und in sie eingebettet. Unter bestimmten Bedingungen sei es ihr dennoch möglich, ihre ideologischen Grenzen und Deformationen zu überwinden und wahre Erkenntnis von Welt, das heißt unverstellte Reflexion wahrer Sachverhalte zu sein.

Dass dies gelingen kann, vermag der Autor überzeugend nachzuweisen am Beispiel von „Die Ästhetik des Widerstands“ von Peter Weiss. Entscheidendes Kriterium für die Wahrheit der Künste sei ihr Gehalt. Dieser werde aber dann erst zur Kunst, wenn er sich als ein in der Form gestalteter Inhalt zeigt. Inhaltsleer und somit bedeutungslos sei daher das meiste, was heute als Kunst vermarktet wird und was die Feuilletons als Kunst anpreisen. Diese Schelte betreffe nicht nur die Kulturseiten und -sendungen der akkreditierten bürgerlichen Medien, sondern auch die der oppositionellen — eine zu beherzigende Kritik an die Adresse einer Großzahl derjenigen, die sich als Linke verstehen und Kunst nicht am Wahrheitskriterium messen.


Thomas Metscher: Kunst. Ein geschichtlicher Entwurf. Zweite, erweiterte Auflage. Kassel: Mangroven Verlag 2020. 248 Seiten. 20 Euro. ISBN: 978-3-9469-460-90

Kommentare
  • Ulrike Spurgat
    Antworten
    ….lädt zum weiteren darüber nachdenken ein.

    Danke für diese Buch Empfehlung.

     

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