Späte Chancen

 In Gesundheit/Psyche, Politik (Inland)

Alternde Menschen dem kapitalistischen Kosten-Nutzen-Denken zu unterwerfen ist ein Frontalangriff auf deren Würde. Alte Menschen werden in der öffentlichen Wahrnehmung oft beurteilt wie gescheiterte Jüngere: Fast alles können sie nicht mehr so gut. Man betrachtet sie im besten Fall als bemittleidenswert, im schlechtesten als Nerv- und Kostenfaktoren. Dabei wird zu selten gesehen, dass nicht Senioren „falsch“ sind, sondern die Kriterien, nach denen wir sie bemessen. Ältere können nicht nur mit ihrer Lebenserfahrung hilfreich sein, sie verschaffen Jüngeren auch das Erlebnis, in eine ganze andere Erlebniswelt einzutauchen, in der andere Dinge zählen als Effizienz, Erlebniskonsum und Geschwindigkeit. Ein Übungsleiter für Rehasport bei Menschen mit Demenz berichtet über seine Erfahrung. Heinz Schwirten, Werner Voß

Älter werdende Menschen werden in der Öffentlichkeit oft verzerrt dargestellt. Beim Thema Rente zeigen Zeitungen fast immer Bilder von gebrechlichen, auf der Parkbank sitzenden Senioren, die mit knöchernen Händen einen Spazierstock halten. Oder der alte Mensch ist grauhaarig, geht über den Rollator gebeugt oder wird im Rollstuhl über den Gehweg geschoben, ist zudem langsam im Denken und schon ein wenig „tüdelig“.

Diesem Klischee des zunehmenden Verfalls ist entschieden entgegen zu treten, denn jeder Mensch, auch der Betagte, hat immer eine Würde: weil er Mensch ist, und es bis zu seinem Tode bleibt — auch dann, wenn er gebrechlich ist. Das Leben aller Menschen (gerade auch der Älteren) darf nicht dem ökonomischen Sachzwangdenken, sprich seiner reinen Funktionalität hinsichtlich eines Kosten/Nutzen-Denkens, unterworfen werden.

Der Jugendwahn, wonach der Mensch nach Aussehen und Leistungsfähigkeit beurteilt wird, darf nicht Maßstab des Zusammenlebens zwischen den Generationen sein, weil dann der Mensch selbst nicht mehr im Mittelpunkt steht, sondern die neoliberalen Regeln, denen er unterworfen ist.

Die Polarisierung von Jung gegen Alt, im Sinne von: „Wir müssen für die Alten schuften“, ist Gift für das Miteinander in einer Gesellschaft. Vielmehr bedarf es der beidseitigen Befruchtung: Die Jungen können sich an den Alten orientieren — weil diese mehr Lebenserfahrung haben —, und umgekehrt können Jüngere, beispielsweise hinsichtlich der Bedienung digitaler Arbeitsmittel, Älteren Hilfestellung geben. So können neue Räume der Begegnung geschaffen werden, die Alt, aber auch Jung, aus der Isolation, der Einsamkeit herausholen, und die Menschen ein Miteinander ermöglichen, das ihrer sozialen Natur gerecht wird.

Damit entstehen gerade für jüngere Menschen „reale“ Gegenwelten zu den oftmals oberflächlichen und distanzierten digitalen Welten. Hier können junge Menschen erfahren, dass das Leben im Alter sehr lebenswert sein kann. Das gibt den Jungen Hoffnung. Der Mensch entfaltet auch im Alter seine Kreativität im Austausch mit Jüngeren und umgekehrt.

In unserer Gesellschaft muss viel mehr über Chancen des Älterwerdens gesprochen werden. Ältere können ihr Erfahrungswissen weitergeben. Denken wir an das Ehrenamt, so sind es überwiegend Rentner, die sich auf kommunaler Ebene im Stadtrat für das Gemeinwohl engagieren.

Weitere Beispiele bieten Sportvereine, Lesepaten, Tafeln oder die Flüchtlingshilfe.

Hier gilt es schlummernde Potenziale zu wecken und gemeinsam Fähigkeiten zu entwickeln, wobei die Beteiligten oft gegenseitige Wertschätzung und Respekt füreinander erfahren. Das soziale Miteinander können insbesondere — aber nicht ausschließlich — diejenigen fördern, die gerade aus dem Berufsleben ausscheiden und plötzlich über viel Freizeit verfügen. Indem diese sich den Mitmenschen im vierten Lebensabschnitt, den sogenannten Hochaltrigen, zuwenden, finden sie eine sinngebende und erfüllende Aufgabe.

Ein gutes Beispiel für die Stabilisierung der kognitiven, psychosozialen und körperlichen Fähigkeiten ist der Rehasport für Menschen mit Demenz: Gute Stimmung, Lebensfreude und Spaß sind die bedeutenden Faktoren, die hier neben der körperlichen Aktivität für das Wohlbefinden auf beiden Seiten ganz entscheidend sind. Die Teilnehmer erfahren Teilhabe, Wertschätzung und zwischenmenschliche Verbundenheit, welches wiederum ihr Selbstwertgefühl hebt. In dieser Atmosphäre bildet sich ein ganz natürlicher Gegenpol zum Werteverfall in unserer Gesellschaft. Siehe dazu auch das folgende Beispiel.

Meine Erlebnisse als Übungsleiter im Rehasport bei Menschen mit Demenz

Seit nunmehr acht Jahren habe ich mit sehr großer Freude Erfahrungen im Präventionssport bei verschiedenen Gruppen — Skigymnastik, Rückentraining und allgemeine Fitness — gesammelt. Vor ein paar Wochen habe ich neues Terrain betreten, nachdem ich meine Übungsleiterlizenz „Rehasport Neurologie“ beim Behinderten- und Rehasport Verband Nordrhein-Westfalen erwarb.

Ich ging völlig unbedarft an meine neue Aufgabe heran und merkte, wie ich nach einigem Stolpern von Übungsstunde zu Übungsstunde immer besser wurde. Ich begann zu erkennen, dass auch Menschen mit größeren Einschränkungen, im Rollstuhl sitzend, durchaus für Bewegung zu gewinnen sind — natürlich im Rahmen ihrer Möglichkeiten —, indem ich mich Ihnen zuwende. Dies erlebte ich bei einer Teilnehmerin, die in der ersten Übungsstunde unbeweglich, starr blickend im Rollstuhl saß, und der nun plötzlich ein Lächeln über ihr Gesicht huschte, und die ihren Fuß zu drehen begann oder ihre Arme hochriss.

Ich war ganz begeistert von der Aktivität, die ich ihr entlocken konnte. Ähnliches passierte mit einer sonst eher zur Aggression neigenden Teilnehmerin, der ich unter Zuhilfenahme meiner Mimik und Gestik einen Redondo Ball in die Hände gab, welchen sie dann mir nachahmend mit den Fingern knetete und anschließend von einer Hand zur anderen beförderte und dabei lächelte. Dabei ging mir das Herz im wahrsten Sinne des Wortes auf!

Interessant ist für mich zu erleben, wie die etwas fitteren Teilnehmer feinmotorische Übungen ausführen, beispielsweise eine Wäscheklammer mit dem Daumen und dann abwechselnd mit allen Fingern drücken.

Ähnliches erfuhr ich auch bei anderen Übungen, die ich zunächst weglassen wollte, da sie sehr viel Geschick erfordern und zu meinem Erstaunen doch von einigen bewältigt wurden. Mein Lob galt dem Erfolg.

Kleine Säckchen oder Bierdeckel in Frisbee-Manier vom Stuhlkreis aus in eine aufgestellte Schüssel zu werfen und diese zu treffen, war für alle ein Erfolgserlebnis, welches das Selbstwertgefühl der Sportler ebenfalls um einiges steigerte.

Jede Übungsstunde beginnt und endet mit einem Ritual der spielerischen Art und ist mit Versen unterlegt, die dann viele schon nach wenigen Trainingseinheiten mitsprechen. Einfach wunderbar!

Ein Herr aus der Gruppe ist immer sehr hilfsbereit, reicht mir am Ende die Trainingsjacke und hilft beim Einsammeln der kleinen Sportgeräte, wie Bierdeckel, Luftballons und Säckchen.
Interessant auch zu erleben, wie breit das Spektrum Sport, angefangen vom kommerziellen Profihochleistungssport über den ambitioniertem Hobbysport, den Breiten-, Präventions- bis hin zum Rehabilitationssport für Menschen mit Handicap ist. Bei Letzterem stehen Sport, Spiel, Spaß und Bewegung mit all ihren positiven psychologischen, physiologischen und sozialen Wirkungen im Vordergrund.

Ich bin mir ganz sicher: Nicht nur für mich ist diese Tätigkeit alles in allem Balsam für die Seele.

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