Unser schauriges Abendland

 In FEATURED, Friedenspolitik

Prof. Jürgen Wertheimer

Friedenspolitik, die gelingen soll, bedarf vor allem einer realistischen Selbsteinschätzung. Der Tübinger Literaturprofessor Jürgen Wertheimer ist kein Mann der Elfenbeintürmelei und der um sich selbst kreisenden interpretatorischen Zergliederungsbemühungen. Mit ihm und seinen flammenden, teilweise zornigen, dabei immer von tiefer Humanität getragenen Reden wird Literatur zu einem emotional aufwühlenden und auch politisch stets relevanten Ereignis. Manchmal greift er auch direkt ins politische Geschehen ein, wie bei einer Veranstaltung zum 30. Bestehen der Gesellschaft Kultur des Friedens, u.a. mit Konstantin Wecker und Mikis Theodorakis. In seiner Rede in der Tübinger Stiftskirche am 8. Mai 2018 wendet sich Wertheimer gegen weich zeichnende Friedens-Flausen der Art “Der Friede beginnt in dir” und konfrontiert seine Zuhörerschaft mit der bitteren Realität – nicht ohne Vorschläge zu machen, was wir alle jetzt und hier besser machen können. (Jürgen Wertheimer)

Liebe Friedensaktivisten,

nach so vielen gewichtigen Worten nun auch noch etwas über Literatur. Warum nicht? Schließlich ist Literatur, ist Dichtung nach Erich Fried dazu da, „möglichst wenig zu lügen und sich möglichst wenig vorzumachen“ (E.F.: Die Beine der größeren Lügen). Deshalb also keine feierlichen Töne, keine Friedensfeier, keine Selbstfeier, auch kein Bloch oder Jens – alles eine Nummer zu groß für ein paar Minuten.

Allenfalls Brecht mit der ihm zugeschriebenen Losung „Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.“ Oft zitiert und genauso oft missverstanden. Abgesehen davon, dass der Satz nicht von Brecht stammt, handelt es sich darüber hinaus nämlich durchaus nicht um ein pazifistisches Geständnis, sondern um einen indirekten Aufruf zum Kampf, denn im Gedicht Brechts heißt es:

„denn es wird kämpfen für die Sache des Feinds

Wer für seine Sache nicht gekämpft hat.“

(Brecht, Koloman Wallisch Kantate )

Keinesfalls passt die Vorstellung, man könne dem Krieg entgehen, wenn man zuhause bleibt, zu Brechts Denken. Doch bei allem Respekt vor seiner Klugheit – es könnte sein, dass Brecht hier irrt. Man kann heute durchaus den Eindruck gewinnen, dass man dem Krieg entgehen kann, wenn man ihn vor der Haustür (zu)lässt. Europa führt vor, wie das geht. Wir feiern uns für 60 Jahre Frieden in Kern-Europa. Den hässlichen Krieg haben wir „outgesourct“ oder an die Ränder verbannt:  in die Ukraine, nach Nordafrika, in den nahen und mittleren Osten… Jedenfalls dorthin, wo die uns heiligen Außengrenzen, die Grenzen unserer viel beschworenen „christlich-abendländischen Werte“ enden.

Das ist in der Tat beeindruckend und vielleicht sogar verständlich. Wir sollten bloß nicht so tun, als sei Europa der Friedenskontinent schlechthin. Wenn man sich die europäische Geschichte ansieht, wirkt es weit eher so, als seien wir die Erfinder eines Perpetuum mobile der Kriege, die wir seit Jahrtausenden in allen Variationen durchdeklinierten. Und in die Welt hinaustrugen. Die europäische Kolonisation erfasste die gesamte Welt und stellt eine einzige „Grenzüberschreitung“ der Außengrenzen anderer Länder dar.

Und jetzt rufen ausgerechnet wir nach strikter Wahrung und Sicherung unserer Außengrenzen – nachdem wir über Jahrhunderte das Gefüge der Welt aus dem Lot gebracht haben: Die afrikanischen Länder wurden von Europäern kartographiert,  Nordamerika ist ein Konstrukt aus dem Geist europäischer Ideen.

Bei all dem berufen wir uns gebetsmühlenartig auf unsere „christlich-abendländischen“ Werte – die nota bene allesamt orientalischer Herkunft sind. Jedenfalls wüsste ich nicht, dass die Bibel und das Neue Testament in Tübingen, Gelsenkirchen oder Straßburg geschrieben wurden…

Und zudem erfolgt diese Berufung auf unsere angeblichen Werte, nachdem wir sie zumindest dreimal bis auf den Grund verraten, zumindest aber verkauft  haben: durch den Faschismus, den Stalinismus, den rabiaten Kapitalismus.

Von wegen, die „Würde des Menschen ist unantastbar“. Wir wissen es längst besser: sie ist nicht nur antastbar, es ist auch möglich, sie massenhaft zu vergewaltigen. Und selbst die hoch gepriesenen universalen „Menschenrechte“ können wir uns, wenn es hart auf hart geht, abschminken. Allenfalls trauern wir betroffen, wenn unsere Interventionen wieder einmal zu spät kamen oder zu lasch waren. Oder wir können uns diese Werte im „Museum“ anschauen: bei lähmenden Uno-Debatten oder vor dem zahnlosen Europäischen Gerichtshof in Den Haag, dessen größte Sorge es ist, Massenmördern faire Prozessbedingungen zu sichern.

Nein, liebe Friedensfreunde, die Zeiten der großen Friedensutopien und -Entwürfe sind vorbei. Die Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat, ebenfalls. Der Krieg ist zur Ware geworden, der Markt blüht weltweit und wir sind mitten drin.

Das „Make love not war“ früherer Tage ist im Angesicht der modernen Kriege geradezu gefährlich weltfremd. Und selbst die Gegenlosung des israelischen Autors Amos Oz von vor 20 Jahren – „Make peace, not love!“ – scheint mir mittlerweile fast zu optimistisch.

Ich bin ehrlich gesagt sehr viel bescheidener in meinen Hoffnungen und Erwartungen geworden. Und auch wenn ich damit im Gegensatz zu allen großen Vordenkern von Spinoza und Pascal bis Brandt und Käßmann stehe, die simple Definition des Friedens als die bloße „Abwesenheit von Krieg“ hat doch Einiges für sich. Jedenfalls könnte ich mir denken, dass viele in Damaskus oder im Donez und in den Flüchtlingslagern von Dadaab, Dolo Ado (Äthiopien), Kakuma (Kenya), Al Zaatori (Jordanien) bereits für ein solches Stück faulen Frieden dankbar wären.

Vielleicht sollte man vor diesem Hintergrund die strategischen Ziele dieser imponierenden Bewegung („Kultur des Friedens“) im Sinne der Wirklichkeit korrigieren, nach unten korrigieren – dort wo elend gestorben oder gequält wird und unsere symbolischen Gesten definitiv nichts bewirken. Natürlich haben Philosophen, Theologen und Ethiker recht, wenn sie meinen, ohne eine geeignete „Geisteshaltung“, ohne Vertrauen wäre von echtem Frieden nicht zu sprechen. Das weiß ich wohl. Ich weiß aber auch, dass dies häufig eine philosophische Rechnung ohne den knallhart kalkulierenden Wirt „Realität’“ ist.

Wir können nicht so tun, als ob unsere Gehirne nicht seit 2000 Jahren auf das Generieren von Feindbildern programmiert wären. Und als ob guter Wille allein ausreichte, dieses fatale kulturelle und epigenetisch weitergegebene Erbe zu überwinden. Aber vielleicht bin ich zu pessimistisch. Es gibt so viele Ansätze und vielleicht entwickelt sich bereits hier und heute Etwas, ich würde mir nur wünschen, dieses

Gegengift käme möglichst schnell in die Welt, möglichst bevor noch ein paar hunderttausend Kinder sterben oder Frauen vergewaltigt werden…

Für alle denen das zu lange dauert, hier noch drei Aktionen, mit denen man umgehend beginnen könnte:

1 Man könnte im eigenen Raum anfangen. In der Kommune, auch hier, in Tübingen. Man könnte Scharfmachern der Sprache das Handwerk legen – ihnen zumindest den Zugriff auf hochrangige öffentliche Ämter entziehen. Wer Menschen nach äußerlichen Merkmalen klassifiziert und sich zu diesem Verfahren bekennt, hat dort nichts zu suchen. Es ist nicht „menschlich“, Menschen rigide in eigene und fremde „einzuordnen, um sich zurechtzufinden“ (Tagblatt) – es ist schlicht jenseits intellektueller und moralischer Standards.

2 Man könnte und sollte das „Nathan-Prinzip“ mit 250jähriger Verspätung umsetzen. Sie erinnern sich: Lessing, Nathan, Ringparabel; er vergleicht die drei monotheistischen Religionen und befindet:

„Eure Ringe sind alle drei nicht echt!“ – ein Satz wie eine Bombe. Ein Satz, geeignet,  um uns aus der Umklammerung durch radikale, dogmatische Theologien zu befreien: Befreiungs-Theologie im besten Sinn des Wortes. Säkulare Staaten wie die meisten europäischen sollten ihn ernst nehmen. Der Mensch ist nicht in erster Linie Mitglied einer Konfession, sondern Bürger einer Republik.

3 Statt Nachsorge und Betroffenheit sollte man mehr Energien in Vorausschau und Prävention investieren. Kassandra sollte sich nicht vergeblich heiser schreien müssen. Die Zeichen sind da: wir müssen sie nur auch wahrnehmen wollen. Jedem Krieg geht ein alarmierender Krieg der Wörter voraus. Man sollte nicht erst reagieren, wenn Schüsse fallen, sondern bereits, wenn ideologische Geschütze in Stellung gebracht werden. Nur in dieser Phase besteht eine halbwegs realistische Hoffnung, eine sich anbahnende Konfliktlage zu entschärfen.

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