Uwe und die junge Frau Maria (1/3)

 In FEATURED, Kurzgeschichte/Satire

Uwe ist ein geistig behinderter junger Mann, ausgestattet mit einer wuchtigen Statur und einem sanften Gemüt. Der Erzähler dieser Geschichten-Reihe nahm ihn bei sich auf, nachdem die Städtische Behinderten-Einrichtung aus Kostengründen geschlossen worden war. Uwe betrachtet die Veränderungen, die sich seit einigen Jahren in unserem Lebensumfeld vollziehen, mit einem ganz eigenen, unverstellten Blick und reagiert gesünder auf sie als so mancher „Normale“. In dieser Geschichte lernen wir Uwes religiöse Neigung kennen – und erfahren, wie sich auch Religion den Effizienz-Erfordernissen einer globalisierten Welt anzupassen hat.  Roland Rottenfußer

„Junge Frau … Maria!“, sagte Uwe mit Nachdruck und hielt mich mit seinen kräftigen Pranken am Arm fest. Ich sah keine junge Frau. „Komm Uwe, wir müssen weiter.“ Es war bei einer unserer Flaschensammelaktionen, die in jüngster Zeit notwendig geworden waren, weil diverse Strafen wegen Uwes nicht ganz gesellschaftsfähigem Verhalten unser ganzes Budget verbraucht hatten. Für Nahrung blieb da nichts mehr übrig, und Uwe hatte eine Menge Hunger. Da half nur, Pfandflaschen aus dem Müll kramen – und der Weg zur Tafel, wo wir mit etwas Glück sogar Uwes geliebte Pfirsichdosen bekommen würden.

„Junge Frau Maria!“ wiederholte Uwe hartnäckig. Er war ungleich kräftiger als ich. Wenn er einen festhielt, war kein Weiterkommen. „Da ist keine junge Frau, Uwe. Komm jetzt weiter. Wir brauchen noch ein paar Flaschen und in einer halben Stunde hat der Getränkeladen zu.“

„Junge Frau Maria!“ Jetzt erst sah ich, dass Uwe mit dem Finger auf eine Frauenfigur zeigte, die in der Nische eines verfallenen Altbaus stand – die Farben verblasst, der Putz schon bröckelnd, auf dem Arm der Frau ein pummeliges Kind. Jetzt erst verstand ich: Uwe meinte die Jungfrau Maria.

Natürlich begriff er das Konzept der jungfräulichen Geburt nicht. Uwe war wegen einer seltenen Chromosomenaberration in seiner Intelligenzleistung stark beeinträchtigt. Aber um ehrlich zu sein: auch ohne Behinderung hatte ich die Geschichte mit der Jungfrauengeburt nie so ganz verstanden. Für Uwe war es einfach nur eine junge Frau, die Maria hieß, warum nicht? Sie musste ja auch sehr jung gewesen sein, als sie Jesus bekam – unter welch rätselhaften Umständen auch immer.

Ich hatte bei Uwe nie eine starke religiöse Neigung festgestellt, seit ich ihn nach der Schließung der städtischen Behinderteneinrichtung bei mir aufgenommen hatte. Als ich darüber nachdachte, fiel mir aber ein, dass seine verstorbene Großmutter – von Uwe „Ommimarta“ genannt – sehr fromm gewesen sein musste. Uwes Großmutter Martha war vielleicht der einzige Mensch gewesen, der Uwe bedingungslos geliebt hatte. Eine patente alte Dame – ich hatte sie kurz vor ihrem Tod bei einem Besuch im Heim noch kurz kennen gelernt. Ich erinnere mich an ihren geraden, gütigen, sehr eindringlichen Blick, in dem schon der wissende Ernst der Todesnähe stand. „Versprechen Sie mir, dass Sie auf den Uwe aufpassen“, schärfte sie mir ein, während ihr Enkel einmal auf der Toilette war. Sie ergriff dabei meine Hand mit ihren beiden faltigen, fleckigen Händen und drückte sie mit erstaunlicher Kraft. Ich versprach es.

„Ommimarta … junge Frau Maria!“, sagte Uwe denn auch zu mir wie zur Bestätigung. Beide Frauen waren für ihn eine unauflösliche Gedankenverbindung eingegangen. Beide standen für das Gute schlechthin, für Fürsorge, Liebe und die Abwesenheit jedweden abschätzigen Werturteils wegen Uwes Behinderung. Uwes Mutter hatte sich mit ihrem Schicksal, einen Behinderten als Sohn zu haben, wohl nie wirklich anfreunden können und ihn deshalb kurz vor der Volljährigkeit in ein Heim abgeschoben. Der Vater hatte sich ohnehin schon während der Schwangerschaft auf Nimmerwiedersehen verabschiedet.

„Die Barbara ist mit dem Kind nie wirklich zurechtgekommen“, hatte mir Großmutter Martha bei unserem gemeinsamen Heimbesuch anvertraut. „Sie hat nie verstecken können, dass sie sich ein gesundes Kind wünscht. Immer hat sie was von ‚ineffizient’ erzählt. Dabei braucht es doch bloß ein bisschen Liebe zu dem Kind, ein bisschen menschliches Verständnis. Der Uwe hat ein gutes Herz, auf den lass ich nichts kommen.“

„Ommimarta … junge Frau Maria!“ Uwe wurde mir jetzt zu penetrant. „Ja, Uwe, das ist die Jungfrau Maria. Und was sollen wir jetzt mit ihr machen?“ „Junge Frau Maria hat … lieb. Junge Frau Maria beschützt Uwe … Kerze ‘zünden.“ Ich konnte jetzt einigermaßen rekonstruieren, was Uwe wollte. Großmutter Martha war wohl eine große Verehrerin der heiligen Jungfrau gewesen, war regelmäßig mit Uwe in die Kirche gegangen und hatte mit ihm Kerzen für alle möglichen Anlässe angezündet. „Junge Frau Maria … Himmel“, bestätigte Uwe und zeigte nach oben, wo sich der Stadthimmel bleiern grau zeigte und wenig Ähnlichkeit mit einem Barock-Deckengemälde hatte, auf dem Maria, aufgefahren und von pausbäckigen Putten getragen, im Licht thronte – empfangen natürlich vom Dreifachgott des Abendlands: einem alten Mann mit langem Bart, einem jungen Mann mit kurzem Bart, einer Taube.

Trotzdem bestand Uwe darauf, dass die Jungfrau Maria da oben irgendwo sei und auf ihn aufpasste. Ich konnte jetzt nachvollziehen, was Uwe eigentlich von mir wollte: in eine Kirche gehen, zum Standbild der Maria gehen und eine Kerze anzünden. „Für wen sollen wir denn eine Kerze anzünden?“, fragte ich Uwe. „Ommimarta … Mama …“. Dann fügte er noch meinen Namen hinzu, worüber ich dann doch ein bisschen gerührt war. Ich selbst bin ja Agnostiker, ich habe mit dem religiösen Kram nicht mehr viel am Hut. Ich denke mir: Wir wissen sowieso nicht, ob es einen Gott gibt, wo wir herkommen, ob es ein Jenseits gibt und all das. Wir können es ja gar nicht wissen. Es ist ein undurchdringlicher Schleier zwischen uns und diese Geheimnisse gelegt. Wir sollten das respektieren und nicht so tun als hätten wir groß Ahnung.

Die meisten behaupten dann einfach irgendwas, was die Tradition vorgibt oder was sie sich selbst ausgedacht haben und nennen das „Glauben“. Sie tragen das dann mit unerschütterlicher Selbstgewissheit und Glutblick vor und erwarten, dass man Respekt vor ihren hanebüchenen, durch nichts belegten Vorstellungen hat. Ich bin ja höflich und versuche meistens ohne Konflikte durchs Leben zu kommen. Also tue ich so, als ob ich das respektiere. Die Erfahrung zeigt, dass man mit Gläubigen nicht diskutieren kann. Uwe freilich mache ich das nicht zum Vorwurf. Er ist halt nicht der Hellste, aber wenn ich mir anschaue, was halbwegs intelligente Leute so von sich geben…, da wundert man sich dann schon. Vielleicht ist Glaube ja eine Art Behinderung des Denkvermögens, aber das sage ich nicht öffentlich.

Da sich die Madonnenfigur in der Nische also als Anbetungsobjekt nicht so gut eignete – keine Kerzen, keine rechte Ruhe wegen der vorbeihastenden Menschen –, vereinbarte ich mit Uwe, dass wir erst unsere Flaschensammelaktion vollenden würden, dann einkaufen und essen gehen würden. Am anderen Tag würden wir dann zusammen in die Kirche Mariä Heimsuchung gehen, die größte Kirche im Stadtteil. Ich war lange nicht mehr da gewesen, nachdem ein kurzfristiges religiöses Erwachen um meine Kommunion herum mit den Jahren und wachsender Vernunft wieder eingeschlafen war. Ich weiß noch, wie ich den Geruch der Kirchenbänke und des Weihrauchs mochte, die Orgelmusik, das feierliche Brimborium und ein paar der Geschichten, die dort erzählt wurden – vor allem jene vom verlorenen Sohn. Das hat mich beeindruckt.

Einmal saß ich in der Kirche und hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil ich einem Klassenkameraden bei einer Rauferei die Nase gebrochen hatte. Die Eltern und die Lehrer haben ein Riesentamtam gemacht, sogar die Polizei ist aufgetaucht. Dann wurden die Strafen verhängt. Meine Eltern mussten dem Opfer Geld bezahlen, und das wurde mir Monat für Monat vom Taschengeld abgezogen. Es war ein langwieriger, zäher und quälender Prozess, diese Monate ohne mein geliebtes Erdbeereis und ohne Comic-Heftchen. Da hätte ich mir einen Vater wie den des verlorenen Sohnes gewünscht, der sagt: „Ist doch egal, was du getan hast, Hauptsache, du bis wieder da. Du hättest auch gar keine Angst vor mir haben müssen. Ich habe die ganze Zeit nie etwas anderes getan als auf dich zu warten.“ Leider funktioniert unsere Gesellschaft ganz und gar nicht so wie diese Geschichte. Man hört in den Nachrichten nur immer, dass Strafen verschärft werden, dass Politiker „hart“, „scharf“, „streng“ oder „rigoros“ durchgreifen wollen. Die Vergebung hat man wohl in den Himmel entsorgt, da wo auch die junge Frau Maria wohnt. Na, wer’s glaubt…!

Von der Flaschensammelaktion mussten wir mit völlig leeren Händen nach Hause zurückkehren. Es ist einfach so, dass die Konkurrenz größer geworden ist. Leute, die auf der Straße rumlungern, weil sie aus ihren Wohnungen rausgeflogen sind. Oder aus Obdachlosenunterkünften. Oder aus Behindertenheimen. Aber auch von denen, die noch eine Wohnung oder einen Job habe, sammeln immer mehr. Es kommt da bei den Mülleimern oft zu regelrechten Keilereien.

Wenn ich mit Uwe gehe, haben wir ganz gute Karten, er ist kräftig und schüchtert die meisten dieser abgerissenen Gestalten ein, obwohl er eigentlich ein Typ ist, der keiner Fliege was zuleide tun kann. Jemand, der einen Käfer mit liebevoller Neugier über seine klobige Hand laufen lässt, ihn mit seinem Wurstfinger mit vollendeter Zartheit über den Rücken streichelt, ohne ihn zu zerdrücken und dann wieder vorsichtig auf einem Lindenblatt absetzt: „Lieber Käfer!“ So ist Uwe, auch wenn er Menschen wegen seiner eindrucksvollen Gestalt erstmal oft Angst macht. Aber wenn alle Flaschen an den einschlägigen Plätzen schon vorher abgegriffen sind – da hilft der kräftigste Kampfgefährte nichts mehr. Und die Tafel hat erst wieder am Dienstag offen.

Morgen ist Sonntag. Na, vielleicht ist es gar kein so schlechter Tag für einen Kirchenbesuch. Das Geld von der Stütze müsste dann auch auf meinem Konto sein – wegen der Eintrittspreise für die Kirche. Eine glückliche Fügung also. Weiß nicht, ob Uwe in den Gottesdienst will, aber versuchen könnte ich es. Auf jeden Fall aber gehen wir in Mariä Heimsuchung zu der berühmten wundertätigen Madonna. Die soll schon viele Krankheiten geheilt, Ehen gekittet und Verstorbenen zu einem weichen Aufprall im Jenseits verholfen haben, wenn man dem Volksmund glaubt.

Wenn ich früher mal bei der Madonna vorbeigeschaut habe, war sie von einem regelrechten Lichtermeer von Kerzen umgeben. An den extra dafür aufgehängten Holztafeln klemmten bunte Zettel in den Spalten – alle voll geschrieben mit Wünschen, was die Jungfrau Maria unbedingt für die Gläubigen tun sollte. Auch ich hatte als Heranwachsender mal so einen Zettel hinterlassen – mit dem Wunsch, die Jungfrau möge bitte dafür sorgen, dass ich nicht mehr so allein bin. Jetzt habe ich Uwe. Das kommt mir fast ein bisschen wir Hohn vor, denn damals dachte ich natürlich an ein hübsches, gleichaltriges Mädchen, mit dem ich „gehen“ und erste, erotische Erfahrung sammeln konnte.

Wir hatten dann zuhause nur noch zwei Restpackungen, eine mit Bandnudeln, eine mit Reis. Einen Tropfen Öl. Eine abgelaufene Packung Bambussprossen aus den Asia-Wochen des Discounters „Cheap & Fresh“. Passte überhaupt nicht zusammen, aber ich verkaufte es Uwe als besonders sublime Essensidee: Nudelreis chinesisch. Scharfe Gewürze vertrug er sowieso nicht, und während das Essen für mich einen schalen Tiefpunkt der kulinarischen Woche darstellte, löffelte es Uwe mit sichtlichem Vergnügen aus. Keine Ahnung, was wir morgen essen sollten. Montag konnten wir ja wieder ein bisschen was einkaufen gehen. Für unsere Körperpflege sorgte ohnehin seit Wochen ein Rest giftgrünen Spülmittels. Für Seife und Shampoo fehlte das Geld. Aber das Spülmittel ging zur Neige, und man sah es den Tellern und Tassen allmählich an, dass sie nicht ordentlich gespült worden waren. Zum Glück war wenigstens Uwe da robuster und fand die angetrockneten Essensreste auf den Tellern nicht eklig. Ich schon.

Ganz offensichtlich musste die Jungfrau Maria da morgen helfen. Das Problem war: ich glaubte nicht an sie. Ich saß also in der Klemme: Wenn es die Jungfrau Maria nicht gab, konnte sie sowieso nicht helfen; wenn es sie aber gab, würde sie auf mich gar nicht reagieren. Ich jedenfalls würde mit jemandem, der nicht einmal an meine Existenz glaubt, nicht reden, ihm schon gar keine Wünsche erfüllen. Bleibt Uwe. Der glaubt an sie und könnte einen Zettel an das Holzbrett klemmen: „Bitte, Maria, sorg dafür, dass wir morgen und an allen Tagen was zu essen haben!“ Das Dumme ist: Uwe kann nicht schreiben. Ob die Jungfrau es gelten lässt, wenn ich als Ungläubiger den Zettel beschreibe, Uwe als Gläubiger jedoch der eigentliche Bittsteller ist? Den Versuch ist es wert.

Beim Abendessen starteten Uwe und ich ein regelrechtes Brainstorming, was wir uns von der Jungfrau Maria wünschen könnten. Von mir kamen eher die praktischen Vorschläge: Seife und Shampoo, neue Schuhe, weil an Uwes einzigem Paar allmählich die Sohle abging, Geld für öffentliche Verkehrsmittel, weil uns der Mangel daran faktisch innerhalb eines Lebensradius von 20 Quadratkilometern einsperrte. Uwe wollte vor allem Geld, um sich den Eintritt in den Eichhörnchenpark leisten zu können – jene von Uwe wegen der Blumen, vor allem aber wegen der Eichhörnchen bis zum Wahnsinn geliebte Grünfläche, die nach ihrer Privatisierung für uns unerschwinglich geworden war. Uwe begriff nicht, dass wir – selbst einen ungewöhnlichen Geldsegen vorausgesetzt – dort lebenslang Hausverbot hatten und im Fall eines widerrechtlichen Aufenthalts unverzüglich von der Park-Security abtransportiert worden wären.

Auf Betreiben der Squirrel Parc Pay-Grünflächen waren alle Free-Grünflächen, also gratis betretbare Parks, in den letzten Jahren von der Stadt zubetoniert worden. Squirrel Parc wollte wohl den Traffic der Erholungssuchenden so auf dezente Weise zu den Pay-Bereichen hinlenken. Für finanziell chronisch klamme Personen wie uns bedeutete das ein Leben praktisch ohne Grün und ohne Blumen, auch im Frühling. Wir hätten theoretisch die Quartiere der Reichen mit ihren duftenden, vielfarbig prangenden Vorgartenanlagen aufsuchen können, aber die Gehsteige in diesen Vierteln waren allesamt zahlungspflichtige Paywalks.

Außerdem wünschte sich Uwe von der Jungfrau Maria hauptsächlich Essenssachen: Pfirsichdosen, Erdbeerjoghurt, Schokolade mit Milchcreme. „Pflstrudl!“ stieß mein Freund nach einer kleinen Denkpause plötzlich hervor. Mit Mühe konnte ich aufgrund seiner sprachlich nicht sehr geschliffenen Schilderung folgende Geschichte dazu rekonstruieren. Die Oma Martha hatte bei seinen häufigen Übernachtungsbesuchen regelmäßig frischen Apfelstrudel gebacken, mit echten Boskop-Äpfeln, elastischem Zieh-Teig, Rosinen und Sauerrahm. Es musste das köstlichste Lebensmittel gewesen sein, dass Uwe jemals gegessen hatte.

Ich hatte ja auf seinen Wunsch hin manchmal aus der Cheap & Fresh-Gefriertruhe Apfelstrudel gekauft. Aber den hatte Uwe entrüstet zurückgewiesen: „Blöder Pflstrudl!, ereiferte er sich. „Gar kein richtiger Pflstrudl. Ommimartastrudl viel besser!“ Der beklagenswerte Strudel bestand aus einem zähen, mehligen Teig und einer glibberigen Gelantine-Masse, in die gelblicher Farbstoff und künstliches Apfelaroma eingelassen war. Kein einziges Apfelstückchen konnte der Stochernde in dem schleimigen, aber sicher kosteneffizienten Conveniant-Food-Produkt aufspüren.

Anders bei Oma Marta. Die hatte aus dem Backprozess zusätzlich ein kleines, für den damals noch ganz jungen Buben äußerst vergnügliches Ritual gestaltet. Sie spielten nämlich, dass Uwe selbst der Apfelstrudel war und von der Oma in der erforderlichen Weise zubereitet wurde. Da musste sich Uwe – schon im Voraus vor Vergnügen kichernd – auf dem großen, soliden Küchentisch legen, um dann von der Oma wie ein Teig hin- und hergerollt zu werden. Sodann wurden Äpfel und Rosinen auf seinen Körper gestreut, angedeutet mit kleinen Fingerstößen der Bäckerin. Das kitzelte ihn natürlich enorm, so dass er sich prustend und schnaubend unter den Händen der Oma wand.

Nachdem der „Teig“ nochmals gründlich zurechtgeknetet worden war, hob ihn die damals noch kräftige Martha kurzerhand vom Tisch und drohte ihn in das viel zu enge Ofenrohr zu stecken. „Wir müssen dich jetzt backen, bis du eine schöne braune Kruste hast!“ Nach strampelnden Protesten des Jungen, ließ die Oma Martha dann von ihrem Vorhaben ab, und beide kehrten in die reale Welt zurück – in der nun der Backvorgang mit einem echten, wunderbar duftenden und schmeckenden Strudel mit vielen knackigen, säuerlich-süßen Boskop-Stücken vollendet werden konnte.

„Die Barbara kann mit dem Jungen nichts anfangen, weil sie einfach viel zu sehr im Kopf ist“, hatte mir Uwes Großmutter bei unserem einzigen Gespräch im Behindertenheim anvertraut. „Sie meint immer, irgendwas erklären zu müssen. Alles glaubt sie mit hochtrabenden Worten lösen zu können. Da ist der Bub natürlich eine Plage für so eine gescheite Frau. Dem kann man nicht viel erklären und auch er selber kann nicht viel Gescheites sagen. Mit dem muss man ganz anders reden, mit dem Herzen nämlich. Er kann auch nicht viel werden in der Welt. Den Buben muss man nehmen wie er ist und schauen, dass er ein bisschen Spaß im Leben hat und sich geliebt fühlt. Er ist ein guter Bub.“ Ich bestätigte ihr das gern, denn ich mochte meinen Freund sehr. „Passen Sie ein bisschen auf ihn auf, ich kann nicht mehr lange für ihn da sein.“

Das waren die letzten Worte der Oma Martha gewesen, bevor Uwe vom Klo zurückkam und wir über etwas anderes sprechen mussten. Als ich ihn das nächste Mal im Heim besuchte, war sein ganzes Gesicht verquollen und von Tränen gerötet. Sicher hatte er lange und heftig geweint, wie immer, wenn sein großes, empfindsames Herz einem Kummer so ganz hilflos ausgeliefert ist, weil er ja nicht viel Verstand hat, um sich die großen und kleinen Lebenstragödien schön zu reden. Als ich zu ihm kam und ihm den Arm um die Schultern legte, zeigte er mit dem Finger zur Decke und murmelte etwas, das ich schwer verstehen konnte. Vom Pfleger erfuhr ich, dass Uwe von seiner Mutter Barbara am Morgen per Smartphone benachrichtigt worden war, dass seine Großmutter in der Nacht zuvor verstorben war. Selbst hatte die Mutter nicht kommen können, um ihm das schonend beizubringen. Termine.

Da zeigte der hilflose, traurige Kerl also mit dem Finger nach oben und stieß etwas hervor, das wie „Ommimartaria“ klang. Ich habe es lange nicht verstanden. Heute glaube ich, dass er „Oma Martha ist bei der Jungfrau Maria“ meinte. Sie ist im Himmel, da wo auch die Jungfrau Maria ihren Hauptwohnsitz hat und auf uns Menschen aufpasst. Die junge Frau Maria also würden wir morgen in der Kirche aufsuchen, in der verzweifelten Hoffnung, sie könne uns in unserer Lebensmisere ein bisschen helfen. Und vielleicht würden wir morgen auch ein bisschen die Oma Martha besuchen, denn die beiden waren in Uwes Vorstellung unauflöslich miteinander verbunden.

 

In der nächsten Folge der Serie erfahrt Ihr morgen: Was Uwe in der Kirche “Mariä Heimsuchung” erlebte.

 

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