Wahrheit, Lüge, Wirklichkeit

 In FEATURED, Spiritualität, Wolf Schneider

Lügen verbreiten sich auf Twitter (und auch sonst) schneller als Wahrheiten, das ist für mich dieser Tage die Nachricht, dich mich am meisten bewegt. Nicht, weil das neu wäre, sondern weil es kürzlich durch die Auswertung von 4.5 Millionen Tweets (Kurznachrichten auf Twitter) so gut wissenschaftlich bestätigt wurde, dass man nicht mehr drumrum kommt, es als faktisch wahr zu akzeptieren. 

Drei Wissenschaftler vom MIT (in Massachussetts, USA) haben vom Nachrichtendienst Twitter deren Daten vom Beginn im Jahr 2016 bis ins 2017 zur Verfügung gestellt bekommen und dort 126.000 »Kaskaden« gefunden, das sind ungebrochene Ketten von Weiterleitungen einer Nachricht mit demselben Ursprung. »Rumors«, d.h. Gerüchte, nennen sie diese Nachrichten, die von 3.5 Mio Menschen 4,5 Mio mal weitergeleitet wurden. Unwahre Geschichten (über deren Unwahrheit sich Fact-Finding-Institutionen einig sind) hatten quer durch sieben untersuchte Bereiche (darunter Politik, Wirtschaft, Naturkatastrophen) eine deutlich größere Chance auf Weiterleitung. Im Durchschnitt war die Chance einer Weiterleitung bei Falschmeldungen um 70 % größer als bei Wahrheiten, und sie wurden sechs mal schneller weitergeleitet als die wahren. Bei politischen Fakenews war der die Chance auf Weiterleitung im Vergleich zu den faktisch wahren Nachrichten sogar noch größer als in allen anderen der sieben Themenfelder, inklusive Naturkatastrophen.

Das Ergebnis dieser Forschungen erschien in der Science-Ausgabe vom 9. März. Science ist neben Nature eine der beiden renommiertesten Wissenschaftszeitschriften der Welt. Unter den deutschsprachigen Medien, die das dann second hand ebenfalls brachten, verweise ich hier nur auf den Artikel im Wissenschaftsmagazin Spektrum. Auch in der NewYorkTimes und im Economist, habe ich die Nachricht gelesen, auf Spiegel.de noch nicht (weil ich einen Adblocker installiert habe). Sage ich hier zu viel über die Quellen, anstatt einfach nur, dass Lügen sich leichter verbreiten als Wahrheiten? Gerade im Bereich der Wahrheitsfindung ist die Prüfung der Quellen enorm wichtig, das ist eine der Empfehlungen der Wissenschaftler vom MIT – und auch das ist nicht neu – neben der Empfehlung von Bildung im Umgang mit den Medien.

Die Aussage »Lügen verbreiten sich schneller als Wahrheiten« ist übrigens ungenau, denn eine Lüge ist eine bewusste Falschmeldung, die nicht im Spaß gesagt wird, wie ein Scherz oder Witz. Bei den von Twitter so effektiv verbreiteten Gerüchten oder Falschmeldungen wussten die Weiterleitenden meist nicht, dass die Meldungen unwahr sind, sondern hielten sie, zumindest im ersten Moment, für wahr. Auch die Wissenschaftler von Science haben das Wort Lüge (Lie) in ihrer Überschrift gebracht, vielleicht weil es auch ihnen als ein besserer Träger von Gefühlen erschien. Auch Wissenschaftlern darf man nicht blind vertrauen.

Weiterleiten…

Warum nicht auch den Newsletter weiterleiten, in dem du dies liest? Er wird sich nicht so schnell verbreiten wie eine Twitternachricht und auch nicht so schnell wie die neueste Detox-Diät oder sonst ein Heilsversprechen weltlicher oder andersweltlicher Art. Aber er ist gut lesbbar, würdigt das Diesseits und auch dass »es ist, wie es ist« – was ja einige auch meiner Leser für die höchste Essenz von Wahrheit halten. Ich jedoch plädiere immer auch für Visionen, Blickrichtungen auf etwas Besseres hin, das sein kann, wenn wir unser Handeln darauf ausrichten. Den Zynikern, die meinen, wir könnten nichts tun, habe ich auch in meinem Rundbrief schon oft geantwortet. Deshalb, Optimisten aller Länder, vereinigt euch (nicht nur sexuell, obwohl auch das sehr schön ist) und leitet diesen Rundbrief weiter! Er kostet nichts, ich verdiene nichts daran, ich muss damit keine Show abziehen, ich schreibe ohne kommerzielles Interesse und ohne Loyalität zu einem Weltbild, dem ich in irgendeiner Hinsicht dienen müsste.

Alles Maya oder was?

In Bezug auf »die Wahrheit« fuchst es mich, dass große Teile der Szene, die sich für spirituell und weisheitsaffin hält, standfest behauptet, es gäbe keine Wahrheit, es sei alles nur Illusion. Dabei verweisen sie gerne auf den Sanskritbegriff »Maya« und erläutern ihn: Jeder projiziere eben sein eigenes Weltbild »nach draußen«, Objektivität sei eine Illusion, und so weiter. Erst wenn ich sie z.B. darauf verweise, dass die Folge davon wäre, Lüge und Wahrheit gleich zu bewerten, nimmt der eine oder andere von diesem Spiri-Klischee Abstand. Gibt es zwischen Fakt und Fiktion einen Unterschied? Nein, sagt ein Großteil derer, sie sich für fortgeschritten spirituell hält. Das nenne ich dann »Spiritualität im fortgeschrittenen Stadium«, und da es sich in vielen Fällen in schnellen Schritten dem Endstadium nähert, mache ich mir Sorgen. Warum können so viele Fakt und Fiktion nicht unterscheiden? Weil sie noch nicht erkannt haben, dass ihre Ich-Identität eine gesellschaftlich entstandene Fiktion ist, sage ich jetzt mal ganz platt und unspirituell, in einfachen Worten. Und die das erkannt haben, werfen gerne alle Wahrheiten in denselben Fiktions- oder Illusionstopf, oft mit stolzgeschwellter Brust über diese Erkenntnis, an der es mir »noch« gebricht.

Leela

Nichtsdestotrotz möchte ich auch etwas Fröhliches einbringen, das sehr wohl mit der Wahrheits- (und Identitäts-)Findung zu tun hat: Ich spiele gerne mit Leela. Das ist nun nicht der Namen meiner neuen Freundin, sondern ein Wort aus dem Sanskrit, das ins Deutsche meist mit Spiel übersetzt wird. Es bedeutet ungefähr das, was Friedrich Schiller meinte, als er sagte »Der Mensch ist erst dann ganz Mensch, wenn er spielt«. Oder Shakespeare mit »All the world’s a stage, and all the men and women merely players«. Oder Miguel Cervantes mit seiner Ritterromansatire Don Quijote, die für viele inzwischen als Nummer eins der Weltliteratur gilt. Eine Satire gegen den Kitsch seiner Vorgängerautoren wird Weltliteratur Nummer eins? Sage ich es doch: auch echt zu sein ist ein Spiel. Authentisch zu sein ist ein Kult, den nicht alle mögen. Dies sind Games people play, wie Eric Berne sein, äh … Kultbuch von 1964 nannte (es wurde ein Weltbestseller).

Spielerisch sein

Kann man angesichts der aktuellen politischen Situation noch spielerisch sein? Jetzt erst recht! Wir müssen es. Kann man angesichts zerfallender Staaten (neu hinzugekommen: der Kongo, die Situation dort könnte schlimmer werden als die der vergangenen sechs Jahre in Syrien), nicht mehr funktionierender Demokratien, gegen die der Populismus anbrandet, zunehmender Autokratien (Trump, Erdogan, Putin, Xi Jinping, Venezuela und die Philippinen) noch fröhlich sein? Wir sollten es, denn unser miesepetriges Leid hilft niemandem. Immerhin haben wir noch genug zu essen, Frieden im eigenen Land, können Tanzen gehen, Urlaub machen in einem sonnigen Land und haben Zugang  zu Bildung und Kultur wie noch nie in der Geschichte der Menschheit – wir sollten nicht deprimiert sein angesichts der Situation. Aber wir sollten sie ändern.

Dürfen wir optimistisch sein oder müssen wir pessimistisch sein? Pessimisten leben länger, das ist wohl wahr, denn sie bereiten sich besser auf negative Ereignisse vor. Die Optimisten aber verbringen ihre Lebenszeit glücklicher.

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