Wer ist der Islam und wenn ja wie viele?

 In FEATURED, Spiritualität

Sprachlich sehr schön und nur schwer eindeutig zu interpretieren: der Koran

Vorschläge für den Umgang mit Islam und Islamkritikern, Teil 1. “Der Islam ist schlicht zu groß um ihn in einem Wort zu fassen”, schreibt der Autor, der mit diesem Beitrag seine fünfteilige Islam-Serie beginnt. Rückständig, fanatisch, frauenverachtend – solche Schlagworte bestimmten oft die öffentliche Debatte über Muslime, zusammen mit Vollverschleierung, Ehrenmorden und ausgewählten, gewalttätig wirkenden Zitaten aus dem Koran. Solche Zuschreibungen sind griffig, Rechtspopulisten wie auch die säkulare Linke können sich gut daran abarbeiten. Vertieft man sich aber in den Stoff, so weitet sich schnell das Blickfeld: Schon die Überlieferungsgeschichte des Islam macht eindeutige Auslegungen unmöglich. Dazu kommt, dass der Islam in eine unüberschaubare Zahl von Unterströmungen zerfällt, darunter solche, die von großer Toleranz und Humanität geprägt sind. Versuchen wir zu verstehen, gerade weil sich heute allzuviele damit begnügen, zu hassen.  Holger Wohlfahrt

Von weiten Teilen der Öffentlichkeit unbemerkt begann vor zwei Wochen die vierte Phase der Deutschen Islamkonferenz (DIK). Die DIK soll integrativ wirken und das Miteinander der Anhänger verschiedener Religions- und Glaubensgemeinschaften stärken.

Anlässlich der diesjährigen Islamkonferenz hat sich die sogenannte „Initiative säkularer Islam“ gegründet. Sie besteht aus einer Gruppe von Publizisten, Aktivisten und Wissenschaftlern, die einen Islam vertritt, der den meisten Islamkritikern vollkommen fremd sein dürfte – einen Islam, der säkular, aufgeklärt und tolerant daherkommt.

Die Anhänger der Gruppe zahlen für ihren Einsatz einen hohen Preis. So berichtet etwa Ahmad Mansour davon, dass er von Islamisten, von Vertretern des politisch linken und links-liberalen Spektrums und von Vertretern des rechten Randes gleichzeitig angefeindet wird. Islamisten und radikale Muslime sehen in ihm aufgrund seiner Kritik an ihnen einen Todfeind. Linke und vermeintlich liberale Kräfte werfen ihm entweder religiöse Verbohrtheit oder falsche Toleranz vor. Und die Rechten wollen ihm schon aufgrund seiner Herkunft und kulturellen Andersartigkeit sämtliche Bürgerrechte absprechen. Er und viele seiner Mitstreiter werden somit von nahezu allen Seiten diffamiert, beleidigt und immer öfter auch bedroht.

Einmal mehr scheint es mir daher angebracht, sich näher mit dem Islam, aber auch mit den Kritikern des Islams auseinanderzusetzen und Vorschläge für einen angemessenen Umgang mit beiden in die öffentliche Debatte einzubringen. Es gilt dabei stets, das bekannte Zitat Ludwig Wittgensteins zu berücksichtigen: „Trachte zu verstehen, was du hassen willst.“

Mir scheinen in der öffentlichen Darstellung des Islams und seiner Kritiker fünf große Probleme allgegenwärtig zu sein. In fünf aufeinanderfolgenden Artikeln möchte ich diese problematischen Aspekte thematisieren und Änderungsvorschläge unterbreiten.

1.) Wer ist der Islam und wenn ja wie viele?

Der muslimischen Überlieferung zufolge erschien dem Propheten Mohammed im Jahre 610 n.Chr. in den Bergen Mekkas der Erzengel Gabriel und überbrachte ihm von da an in einem Zeitraum von über 20 Jahren die göttliche Offenbarung.

Mohammed wurde demnach aufgefordert, die empfangenen Botschaften als letztgültige Wahrheiten unter die Menschen zu bringen. Anders als etwa Jesus Christus wird Mohammed dabei kein Anteil an der göttlichen Absolutheit zugeschrieben. Während Jesus Christus der christlichen Theologie zufolge die göttliche Offenbarung selbst verkörpert, ist Mohammed lediglich als der Überbringer jener Offenbarung zu begreifen.

Damit ist auch das Leben Mohammeds für die Glaubenswahrheit des Islams nicht von der gleichen Bedeutung wie es Jesu Leben für die Christenheit war und ist. Zwar gelten auch die privat geäußerten Aussagen und die Lebensgeschichte Mohammeds, die in Form der Hadithe überliefert wurden, als Orientierungshilfe in offenen Fragen des religiösen Lebens. Aber eine absolute Wahrheit stellen sie nicht dar – zumal die Hadithe unterschiedlich glaubwürdige Tradierungslinien aufweisen und daher je nach Rechtsschule verschieden gewichtet, teils sogar in Frage gestellt werden.

Damit wird auch deutlich, dass Mohammeds Leben, das gerade in seiner Spätphase überaus kriegerisch ausfiel (ob es sich dabei um Angriffskriege oder um Überlebenskämpfe handelte, wird je nach Auslegetradition verschieden bewertet), nicht zwangsläufig als Referenz für den muslimischen Glauben als solchen gewertet werden kann.

Von entscheidender Bedeutung für die Religion des Islams ist allein die Offenbarung, die an Mohammed überbracht wurde. Sie sollte die älteren Offenbarungen, die im Alten und Neuen Testament zusammengefasst waren, vollenden. Die Schriften der Juden und Christen seien schließlich nicht eindeutig genug, ließ Mohammed verlauten. Sie seien zwar nicht falsch, aber zu vage und widersprüchlich formuliert. Daher bedurfte es einer letzten, einer absoluten Botschaft, die in ihrer Klarheit keine Widersprüche zuließ. Dadurch sollten die Auseinandersetzungen um die richtige Deutung, die immer wieder in handfesten Konflikten mündeten, beendet werden.

Wie von dem Erzengel aufgetragen, machte Mohammed sich daran, seinen Mitmenschen die ihm überlieferte Botschaft zu predigen. Er selbst verschriftlichte die Inhalte allerdings nicht. Daher rührt wohl auch die Bedeutung des Wortes „qur’an“, was mit „das Rezitierte“ übersetzt werden kann. Erst nach seinem Tod im Jahr 632 n.Chr. begannen seine Anhänger, alle irgendwie memorisierten oder von Zuhörern verschriftlichten Reden zu sammeln und in konzentrierter Form niederzuschreiben.

Die intendierte Eindeutigkeit des Textes ging dabei zwangsläufig verloren. So hatte die früharabische Schrift nicht für jeden gesprochenen Laut ein passendes Schriftzeichen. Für die 28 Konsonanten bot die Schrift zunächst nur 18 Zeichen. Für die Laute „r“, „z“, „s“ und „sch“ wurde beispielsweise ein und dasselbe Schriftzeichen verwendet. Erst später wurden diese Mängel der Schriftsprache durch zusätzliche Punkte oder Striche über den bis dahin bekannten Buchstaben behoben.

Für die Auseinandersetzung mit dem koranischen Text bedeutete das jedoch, dass verschiedene Lesarten möglich wurden. Der gemeinte Wortsinn ließ sich aus dem geschriebenen Text nicht mehr eindeutig entnehmen. Viele Worte konnten, je nachdem wie die Zeichen gelesen wurden, verschieden verstanden werden. Es entstanden demzufolge zahlreiche, sich untereinander teils recht stark unterscheidende Lesarten. Eine Eingrenzung auf sieben Lesarten erfolgte erst im 10. Jahrhundert. Von diesen sieben gewannen schließlich zwei an besonderer Bedeutung, von denen eine im Westen der islamischen Welt (Algerien, Marokko, Tunesien), eine im größeren Ostteil Verbreitung fand.

Somit wird klar, dass die koranische Forderung nach Eindeutigkeit schon aus philologischen Gründen nicht erfüllt werden konnte. Doch auch nach einer nachträglich und künstlich vollzogenen Festlegung auf etablierte Lesarten, gab es stets auch inhaltliche Widersprüche. So steht selbst im Koran, dass einzelne Passagen verschiedene Verstehensmöglichkeiten eröffnen. In Sure 3, 7 heißt es etwa: „Er (Allah) ist es, der auf dich das Buch herabgesandt hat. Einige seiner Verse sind klar zu deuten – sie sind der Kern des Buches, andere sind mehrfach deutbar. Doch die, in deren Herzen Verirrung ist, die folgen dem, was darin mehrfach deutbar ist, um Zweifel zu erwecken und um es auszudeuten. Doch nur Gott kennt dessen Deutung.“

Um zu erkennen, welche Verse klar deutbar sind, war und ist eine Form der Auslegung notwendig. Es musste eine Hierarchisierung eingeführt werden, wonach manche Verse als klar, manche als interpretierbar zu begreifen waren.

Anders als etwa im Katholizismus, in dem der Papst und die dahinterstehende Organisation über Jahrhunderte das letzte Wort zu allen Fragen der Auslegung hatten, gab es diese allgemein anerkannte letzte Autorität im Islam nicht. Somit bestimmten die jeweiligen Herrscherdynastien, welche Lesart und welches Koranverständnis das Richtige war. Es ist naheliegend, davon auszugehen, dass die entsprechende Lesart auch den jeweils eigenen Machtinteressen dienen sollte. Anders als es heute sowohl manche Muslime als auch einige Islamkritiker glauben machen wollen, gab es daher gerade keine Konstanz in der Glaubensinterpretation.

Sehr wohl wurden jedoch schon ab dem achten nachchristlichen Jahrhundert muslimische Rechtsschulen entwickelt, die sich daran machten, die Koransuren mithilfe der Lebensgeschichte und der überlieferten Aussprüche des Propheten Mohammed (d.h. mithilfe der sogenannten Hadithe) zu deuten und daraus Regeln und Gesetze abzuleiten. Ab dem 11. Jahrhundert galt jeder Aspekt des muslimischen Lebens im Sinne einer jener Rechtsschulen als geregelt. Die Behauptung, definitive, nicht weiter differenzierbare und auslegbare Gesetze geschaffen zu haben, muss vor allem aber als Versuch der Gelehrten verstanden werden, den Wünschen der jeweiligen Herrscher nach einer weiteren Ausrichtung der Gesetze an deren persönlichen Machtinteressen zu entkommen.

Doch diese äußere geistige Erstarrung sorgte zugleich dafür, dass viele Gläubige sie überwinden wollten und nach einem lebendigeren Islamverständnis suchten. Sie fanden es im Sufismus, der sich ab dem 9. Jahrhundert entwickelte, ab dem 11. Jahrhundert zu einer großen innerislamischen Strömung wurde. Für die Konvertierung von Nichtmuslimen zum Islam gilt der Sufismus als eine der wichtigsten Faktoren. Die Sufis strebten, ausgehend von Weltentsagung und Askese, eine Versenkung in das unmittelbare Sein Gottes an. Sie entwickelten eine pantheistische Weltsicht. Das Ziel, die Individualität in einen als unmittelbar empfundenen spirituellen Zustand zu absorbieren, der als gottesnah oder mitunter auch gottesgleich empfunden wurde, erreichten sie durch ekstatische oder meditative Zustände. Bekannt wurde vor allem ihr sogenannter „Derwisch-Tanz“.

Um ihr Islamverständnis innerhalb der Glaubensgemeinschaft zu legitimieren, suchten und fanden die Anhänger des Sufismus im Koran Bestätigungen für ihre Glaubensauslegung. Sie bedienten sich dabei einer allegorischen Auslegung. Die sufischen Exegeten gingen davon aus, dass der wahre Gehalt des Korans hinter dem unmittelbaren Wortsinn verborgen liegt, sich also nicht allein aus dem vordergründigen Literalsinn ergibt.

Großen Anklang fand diese Auslegungsmethode vor allem auch unter den muslimischen Schiiten. Diese hatten sich bereits kurz nach dem Tod des Propheten Mohammeds formiert. Ihre Gruppierung war Folge eines ersten großen Konflikts innerhalb der muslimischen Urgemeinde. Dieser Konflikt hatte sich daran entzündet, wer die Nachfolge Mohammeds als Oberhaupt der Muslime antreten sollte.

Ali, der ambitionierte Schwiegersohn und Cousin des Propheten, kam dabei anfangs nicht zum Zuge. Obwohl er eine große Anhängerschaft hatte, ergriffen vor ihm drei andere Muslime die Macht. Ali wurde erst nach der Ermordung seines Vorgängers, des dritten Kalifen, zum muslimischen Oberhaupt. Da Ali die Ermordung dieses Vorgängers nicht sühnen ließ, machte er sich angreifbar. Ein neuer Konflikt entflammte, an dessen Ende Ali selbst ermordet wurde.

Seine Anhänger spalteten sich daraufhin als Partei Alis (schīˈat ˈAlī bzw. als Schiiten) von dem Rest der Glaubensgemeinde ab. Sie beriefen sich von nun an auch auf teils andere Autoritäten. Da der Koran unter den aus ihrer Sicht unrechtmäßigen Kalifen, die vor Ali geherrscht hatten, verschriftlicht wurde, verwiesen die Schiiten verstärkt darauf, dass diese „unrechtmäßigen“ Herrscher, womöglich auch den Koran aus Eigeninteresse falsch, zumindest aber etwas freier verschriftlicht haben könnten. Sie lehnten die Tradition und den Brauch (die „sunna“) der Mehrheit der Muslime, der Sunniten, ab.

Bis heute ist unter Schiiten daher eine freiere Interpretation des Korans gang und gäbe. Es verwundert somit auch nicht, dass gerade unter Schiiten zahlreiche unterschiedliche Traditionen entstehen konnten. So bildeten sich Untergruppierungen, mit verschiedenen Glaubenswahrheiten und Rechtsschulen. Es würde zu weit führen, die genauen Unterscheidungen zwischen den größten schiitischen Glaubensgemeinschaften, den Zwölferschiiten, Aleviten, Alawiten, Ismailiten oder Zaiditen aufzuzeigen.

Doch auch unter Sunniten, die sich dem eigenen Verständnis nach auf den Ursprungsislam berufen und damit die Traditionen Mohammeds und der ersten Kalifen als Grundlage ihres Koranverständnisses und ihres gelebten Glaubens sehen, entwickelten sich zahlreiche verschiedene Anschauungen. Bereits erwähnt wurden die unterschiedlichen Rechtsschulen, von denen sich die vier größten inzwischen zwar gegenseitig anerkennen, deren Anhänger sich aber auch immer wieder in gewalttätigen Auseinandersetzungen gegenüber standen. Die einzelnen Rechtsschulen unterscheiden sich nicht nur untereinander, sondern haben auch in sich eine mitunter große Auslegungsbreite und Meinungsvielfalt.

Und so gibt es auch im sunnitischen Islam innerreligiöse Strömungen, unterschiedlicher Ausrichtung. Anhänger der malikitischen Rechtsschule neigen tendenziell dazu, möglichst die Verhältnisse des Ursprungsislams wieder herzustellen. Sie orientieren sich an den unmittelbaren Aussagen von Koran und Hadithe. Am anderen Ende des Spektrums steht die schafi’itische Rechtsschule, wie sie in Indonesien vorherrschend ist. Anhänger dieser Schule sind in der Regel darum bemüht, auch in glaubensrechtlichen Fragen einen Konsens unter den Gläubigen zu finden.

Dieser nur sehr kurze und flüchtige Ausflug in die Geschichte des Islams macht bereits deutlich, wie vermessen es ist, von „dem“ Islam zu sprechen. Wer oder was ist gemeint, wenn Medien und breite Öffentlichkeit „den Islam“ thematisieren? Meinen sie den Ur-Islam Mohammeds, dessen wörtliche Aussagen erst nach seinem Tod verschriftlicht wurden? Sprechen sie vom Islam der Sufis? Ist es der gegenwärtige Islam eines Alewiten, den sie meinen? Oder der eines Zaiditen? Gar der eines indonesischen Muslims, der unter Umständen auch noch animistische Elemente in seinen Glauben integriert?

In der Regel sind besonders konservative, oft radikale Muslime gemeint, wenn in der Öffentlichkeit von „dem“ Islam gesprochen wird. Diese Muslime sind es, die leider allzu oft die öffentliche Debatte bestimmen, die alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Ihre Islam-Interpretation wird von Medien und Öffentlichkeit dankbar aufgegriffen. An ihr kann man sich besonders gut abarbeiten. Sie eignet sich hervorragend dazu, das Andere zu verkörpern, das man mit gutem Recht als das Schlechte und Böse darstellen kann. Aggressionen und Hass lassen sich auf dieses Andere mit vermeintlich stimmiger Begründung und Unterstützung des ganzen politischen und gesellschaftlichen Spektrums von links über liberal bis hin zu konservativ, von sogenanntem Gutmensch bis hin zu Hegemonial-Hardliner, besonders gut projizieren.

Immer weitere Teile der Öffentlichkeit setzen jene Radikale mit dem Islam als solchem gleich. Die Größe, die geschichtliche Vielfalt, die Komplexität und auch spirituelle Schönheit, die dem Islam zu eigen sind, wird in den öffentlichen Darstellungen und Debatten immer öfter vernachlässigt. Individuelle Erlebnisse, die auf einer Privatreise in ein muslimisch geprägtes Entwicklungsland gemacht wurden oder unliebsame Erfahrungen in einer U-Bahn mit einem womöglich muslimischen Mitbürger werden als Beweise für die Rückständigkeit und Unvereinbarkeit des Islams mit der westlichen Moderne gewertet.

Das Resultat ist, dass auf diese Art Fakten geschaffen werden, die eigentlich gar keine sind. Immer mehr Muslime wie Nicht-Muslime glauben dieser vereinfachten Islam-Interpretation. Folglich stärkt man eben jene Kräfte, die man bekämpfen will. Man räumt ihnen eine Hoheit ein, die sie andernfalls nicht hätten.

Statt sich mit der Mehrheit der gemäßigten Muslime gegen jene anti-liberalen, mit den Prinzipien des Humanismus und der aufgeklärten Moderne nicht in Einklang zu bringendenislamistischen Kräfte (deren Zahl jedoch tatsächlich steigt) zu verbünden, werden alle über einen Kamm geschert.

Es gilt nun, diese vereinfachte Islaminterpretation aufzugreifen und argumentativ zu bekämpfen. Argumente für eine Wiederlegung gibt es nämlich reichlich (im zweiten Teil der Aufsatzreihe wird näher darauf eingegangen werden).

Aktuell bietet man vor allem all jenen, die sich in der allgemein akzeptierten Gesellschaftsform nicht aufgehoben fühlen, all den Abgehängten und Desillusionierten eine willkommene, aber falsche Anlaufstelle, mit deren Hilfe sie sich an der Mehrheit rächen können. Gerade innerhalb der etablierten, auf Effizienz getrimmten Wohlstandsgesellschaft der westlichen Welt fühlen sich sozial und finanziell Abgehängte oftmals nicht angenommen. Es ist ein in der Sozialpsychologie bekanntes Phänomen, dass sich Abgehängte schließlich über ihr Abgehängt-Sein definieren. Sie leben ihre Andersheit bewusst aus und ziehen irgendwann sogar Stolz daraus. Das wäre nicht weiter problematisch, würden sie nicht dankbar auch fragwürdige Zuschreibungen der Mehrheitsgesellschaft aufgreifen und deren Ängste somit zur Self-Fulfilling Prophicy machen. Der arbeitslose Ost-Deutsche kann schließlich ein klares Identitätsmodell und einen Moment des Stolzes daraus ziehen, dass er die Rolle annimmt, die ihm von der anerkannten Mehrheit angeboten wird und mit der er sich an jener Mehrheit zugleich rächen kann: er spielt dankbar die Rolle des Neo-Nazis. Der abgehängte Schwarze in den Vorstädten einer US-Großstadt geht womöglich in der ihm zugeschriebenen Rolle als Gangster auf.
Die medial transportierte Annahme, dass ein streng gläubiger Muslim auch ein potentieller Terrorist ist, erhöht also die Wahrscheinlichkeit, dass er sich diese Zuschreibung aneignet. Er nimmt das Identitätsangebot, das man ihm unterbreitet, irgendwann an.

Die immer öfter und immer undifferenzierter stattfindende Gleichsetzung des Islams mit der menschenverachtenden Radikalität einzelner Terroristen treibt also immer mehr gewaltbereite Abgehängte und Desillusionierte in die Arme des Islams. Ohne sich mit der Religion, ihrer tieferen Bedeutung und Geschichte näher auseinandergesetzt zu haben, lassen sie sich dann von den einzelnen Hardlinern jener extremen Glaubensinterpretation vereinnahmen, die sie fälschlicher Weise für „den“ Islam halten.

Die vereinfachte und falsche Darstellung ist im Wesentlichen der beschränkten menschlichen Kognitionsfähigkeit geschuldet. Simple Verallgemeinerungen helfen dem Menschen, die Komplexität der Welt zu ordnen. Das Gehirn schreit förmlich danach, alles und jeden in Schubladen zu stecken. Diese Eigenschaft des Gehirns ist es, die dazu führt, dass die Welt allzu oft nicht in ihrer schier grenzenlosen Buntheit, sondern in einer reduzierten Version, vereinfacht und oft auch falsch gesehen und verstanden wird.

Und so passiert es, dass Menschen verschiedenster Eigenheiten unter einer simplen Überschrift zusammengefasst werden. Der Deutsche ist strebsam, effizient und unfreundlich, der Amerikaner ist unkultiviert und oberflächlich. Der Muslim ist radikal, rückständig, homophob und ein potentieller Terrorist. Indem diese unreflektierte Vereinfachung immer öfter selbst in seriösen Medien vollzogen wird, passiert eine Ungeheuerlichkeit: ca. 1,6 Milliarden Menschen vom Sudan über Jordanien bis hin nach Indonesien werden aufgrund ihres teils sehr unterschiedlich ausgelebten Glaubens unweigerlich über einen Kamm geschert. Indem der Anschlag eines verirrten Einzeltäters dem Islam als solchem zugeschrieben wird, geraten also zwangsläufig 1, 6 Milliarden Menschen unter Generalverdacht.

Daher wäre es mehr als wünschenswert, wenn in Zukunft eine strenge Trennung zwischen der komplexen und vielfältigen Religion des Islams und einzelnen Extremisten und Terroristen vollzogen werden würde. Die Etikettierung von Verbrechern, gar Mördern, die sich im Namen einer Religion, mit der sie sich offensichtlich nie differenziert auseinandergesetzt haben, sollte gerade von Medienvertretern und Menschen der Öffentlichkeit unterlassen werden. Thematisiert werden sollten stattdessen die einzelnen Menschen und ihre Schicksale, die sie zu Aggressoren, Kriminellen oder gar Terroristen werden ließ.

Und bei der Beurteilung menschenrechtlich rückständiger Nationen wäre es wünschenswert, in Zukunft doch bitte auch die politische und wirtschaftliche Geschichte mindestens so stark in den Blick zu nehmen, wie die mehrheitliche Religionszugehörigkeit der Staatsangehörigen.

Wenn man aber schon der einfachen kognitiven Struktur seines Gehirns nachgeben und sich auf Pauschalurteile und Schubladendenken einlassen will, sollte man sich wenigstens auch in Erinnerung rufen, dass weite Teile der islamischen Welt dem Westen bis ins späte Mittelalter hinein technisch und wissenschaftliche weit voraus waren und dessen ab der Renaissance einsetzenden Fortschritt dann entscheidend mit bedingten. Man könnte sich auch vergegenwärtigen, dass ein muslimisches Land wie Aserbaidschan schon 1919 das Frauenwahlrecht einführte, dass in muslimischen Ländernwie Pakistan, Bangladesch oder Indonesien Frauen zu Regierungschefinnen gewählt worden, lange bevor dies in Deutschland geschah, oder dass sich in der Türkei noch 2016 mehr Hochschullehrerinnen finden ließen als hierzulande.

All das ist nicht repräsentativ für „den“ Islam. Aber die aktuelle Rückständigkeit der historischen Sonderauslegung eines wahhabitischenIslams, wie man sie etwa in Saudi Arabien findet, ist es eben auch nicht.

Der Islam ist schlicht zu groß um ihn in einem Wort zu fassen.

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