Das Schreiben der Hoheit – ein Märchen (2/3)

 In Allgemein, Roland Rottenfußer

„Eines Tages erhielt R., ein einfacher Mann aus dem Volk, Schreiner von Beruf, ein Schreiben der höchsten Majestät des Landes. Der Brief, den R. andächtig und voll erregter Spannung entrollte, enthielt eine Vorladung, der Adressat möge sich unverzüglich am Kaiserhof einfinden, wo die Hoheit mit ihm zu sprechen wünsche. Verständlicherweise war R. sehr besorgt und fragte sich, was eine solch hochgestellte Person von ihm wolle, denn ein Anlass für die geforderte Unterredung war im Brief nicht angegeben. R. war sich keiner Schuld bewusst…“ Eine Erzählung von Schuld, Sühne und Vergebung. Ähnlichkeiten mit real existierenden Religionen wären rein zufällig. Der erste Teil des Märchens ist etwas weiter unten auf dieser Seite nachzulesen. (Roland Rottenfußer)

R., gänzlich überwältigt von der plötzlichen Freiheit, fand sein fahles Gesicht nun von dem lange nicht mehr genossenen Sonnenlicht beschienen. Erst langsam konnte er seine Augen an solche Überfülle des Lichts gewöhnen. Es war Ende April, der Gesang der Vögel klang übersprudelnd und wie entfesselt durch die erstmals nach langem Frost wieder laue Luft. Es roch nach der warmen Erde und nach frühen Blumen, deren Düfte das Eis endlich freigegeben hatte. Auf das Haupt des Todgeweihten regneten bei einem leisen Windstoß einige Mandelblüten wie Flocken nieder, und es wurde ihm plötzlich so wohl im Gemüt, als sei er in seine Kindheit zurückversetzt worden. Wie schuldlos und unbelastet war sein Herz damals gewesen, und wie aussichtslos war seine Lage jetzt. R. dachte an den bevorstehenden, nun nicht länger aufschiebbaren Besuch beim Kaiser, und ihn fasste ein würgendes Gefühl, als ob ihm etwas den Hals zuschnürte.

Nein, er wagte es nicht. Er wusste jetzt, dass er dem bohrenden Richterblick der Majestät niemals würde standhalten können. Diesem ausgesetzt zu sein, musste unbedingt seinen Tod bedeuten. So streng auch die Bußanweisungen Huldbrand Löblichs gewesen sein mochten, überlegte R.: die Majestät selbst hatte nie nach ihm geschickt. Kein Trupp Soldaten hatte ihn aufgesucht, um ihn mit Gewalt vor seinen Richter zu zerren. Dass man ihn bei Hofe vergessen haben konnte, war angesichts der Schwere seiner Verbrechen jedoch ausgeschlossen. Sicher hatte man dort die Tage seines widerrechtlichen Ausbleibens gezählt und diese genauestens im ohnehin überquellenden Schuldenbuch seines verworfenen Lebens vermerkt, um ihm am Tage seines verspäteten Erscheinens mit umso unerbittlicherer Strenge damit zu konfrontieren. Vielleicht aber hatte man R.s Verhaftung auch nur deshalb nur hinausgezögert, weil man ihn in der Obhut des Mittlers wusste, auf dessen Eifer, Verbrecher zur Sühne anzuhalten, sich die Majestät verlassen konnte. Bei einem Mittler, der in derart engem Kontakt mit dem Hof stand, konnte es jedoch nicht ausbleiben, dass der  oberste Richter alsbald von R.s  Entlassung aus der Bußzelle erfahren musste. Sein Aufschub war somit mit heutigem Tag verwirkt, und nichts anderes als unverzügliches Erscheinen konnte für ihn den kläglichen Rest einer Chance auf Gnade bewahren. Beim Gedanken daran allerdings starb der Beklagte vor Angst.

R. konnte keinen Ausweg mehr aus diesem Zwiespalt finden. Seine Gedanken drehten sich im Kreis wie ein Tier, das in einem Käfig seine verzweifelten Runden dreht. Als die Qual schier unerträglich wurde, nahmen R.s Beine ihm schließlich das Denken ab, und er lief. Lief aus seiner Werkstatt durch die Straßen der Stadt, sich stets ängstlich nach links und rechts umschauend, ob ihn nicht Häscher des Kaisers sehen und ergreifen könnten. Er lief zwischen den Gärten der Vorstadt hindurch, bis er an den Waldrand gelangte. Von dort lief er weiter hinein in das grüne Gewirr, immer tiefer zwischen Tannen und Gestrüpp, bis er erschöpft auf einer Lichtung niederfiel. Hier, so hoffte er, würden ihn die streng blickenden Augen des Kaisers nicht sehen können. Jedenfalls nicht so leicht. Jedenfalls nicht sofort.

Er fand ein Bächlein, von dem er trank und aß von den frischen Blättern des Giersch, des Bärlauch und des Sauerampfer. Schließlich schlief er unter einem Haufen von Buchenzweigen ein, die noch vom braunen, knisternden Laub des Vorjahrs bedeckt waren.  Zum Glück waren die Nächte warm für die Jahreszeit und der Regen verschonte ihn – aber wie lange noch? Und waren nicht längst Jäger der Hoheit unterwegs, die den Wald nach ihm durchkämmten und ihn – wie ein verwundetes Reh – früher oder später erjagen mussten?  Er floh am nächsten Morgen noch tiefer in den Wald hinein, wanderte in langen Tagesmärschen, bis er an einen kühlen Teich kam, von Sumpfdotterblumen lieblich umstanden. Auf seiner Oberfläche tanzten die Lichtflecken der lieben Frühlingssonne, die durch die noch kahlen, von einem leisen Wind bewegten Zweige drangen. Da wurde es R. seltsam wohl ums Herz, und für einen kurzen, gesegneten Moment war es ihm, als ob es den ganzen Alptraum von Schuld und Verfolgung nie gegeben hätte.

Ein Eichhörnchen turnte behände in den Zweigen eines Haselbaums, von dessen hängenden Kätzchen unter den zarten Bewegungen des Tieres Goldstaub aufwirbelte. Das braune Kerlchen war gar nicht scheu und näherte sich zutraulich, als spürte es, dass R. Eichhörnchen schon seit jeher mochte. „Das ist schön, dass du mir Gesellschaft leisten willst, liebes Eichhörnchen“, redete er es an. „Aber sage mir: Hast du die Hoheit je in diesem Abschnitt des Waldes gesehen? Kommt sie vielleicht manchmal hierher, um spazieren zu gehen und sich der schönen Landschaft zu erfreuen?“ R. hoffte natürlich, dass sich die Hoheit nie an diesen abgelegenen Ort verirrte. Das Eichhörnchen aber antwortete: „Oh, die Hoheit ist mir sehr gut bekannt. Gerade jetzt, so glaube ich, ist sie uns ganz nah.“

Entsetzt sprang R. auf und kletterte in Panik einen Hügel hinauf. Als er so über Stunden gerannt und geklettert war, brach er schweißnass zusammen. An dieser Stelle hatte das Bächlein einen kleinen Wasserfall gebildet, dessen Tropfen  fröhlich über ein  Kissen aus leuchtend grünem Moos perlten. Leberblümchen sprenkelten die Schlucht an beiden Seiten des Bachs in einem wunderschönen Blau, in das ein bisschen Lila gemischt war. R., der während seiner langen Kerkerhaft nichts so schmerzlich vermisst hatte wie die Farben der Natur, meinte, noch nie in seinem ganzen Leben ein solch schönes Blau gesehen zu haben.  Ein besonders hübsches, prall in dunklem Lilablau stehendes Leberblümchen, dessen Mitte aus weißen Staubgefäßen ihn wie ein Auge ansah, fiel R. besonders ins Auge. Er redete es an: „Liebes Leberblümchen, ich bin froh Dich hier zu finden, nach so langem, so grauem und trübsinnigem Winter. Aber sage mir: Hast du die Hoheit je in der Nähe dieses Wasserfalls gesehen?“ Das Leberblümchen aber antwortete: „Oh, die Hoheit ist mir sehr gut bekannt. Gerade jetzt, so glaube ich, ist sie uns ganz nah.“

Verzweifelt hastete R. weiter. Wo sollte er jetzt noch hin, wo sich vor den vernichtenden Blicken des Herrschers verstecken? Das Hochgebirge konnte seine letzte Rettung sein. Dort jenseits der Baumgrenzen, wo die harten Witterungsverhältnisse kaum mehr Leben zuließen und wo die eisigen Winde um kahle Gipfel jagten, würde selbst sein Richter seinen allgegenwärtigen Fuß nicht hinsetzen können.  Er kletterte über steil ansteigende Wiesen, aus denen zackige Felsen wie Inseln ragten, weiter über Schwindel erregende Bergpfade und schließlich über glitschige Eisfelder nach oben. Oft fehlte nicht viel, und R. wäre in die Tiefe gestürzt. Keine zu hohe Strafe, in Anbetracht der unfassbaren Dimension seiner Verbrechen. Trotzdem aber erwachte in R. auf einmal ein seltsam trotziger Wunsch, zu leben – so lange es eben ging und selbst als ein Verdammter unter dem Schatten einer untilgbaren Schuld.

Schließlich fand er auf einem Hochplateau nahe dem äußersten Gipfel eine Höhle, die sich schmal und leicht abschüssig in den Fels grub. Sie spendete wenig Wärme, jedoch wenigstens Schutz vor der eisigen Witterung. Hier wollte er die letzten Tage seines erbärmlichen Lebens beschließen, unauffindbar für seine Verfolger, und dem Tod wenigstens in Freiheit gegenüber treten. Plötzlich bemerkte R., wie am hinteren Ende seiner Höhle Sand aus einer Öffnung rieselte. Die wurde bald größer, und der Kopf eines Murmeltiers erschien. Schließlich das ganze Tier, in seinen braunen Pelz gehüllt, fast wie ein großer, dunkler Wischmopp aussehend, aus dem kleine Arme und Beine und ein Köpfchen ragten. Offenbar hatte R. das Tier  in seinem Winterschlaf gestört. Er hatte großen Hunger, nachdem es in diesen Höhen nicht einmal mehr nahrhafte Kräuter zu pflücken gab, und so erwog er für einen Moment, das Tier zu fangen und zu verspeisen. Doch da richtete sich dieses  wie ein Äffchen auf, lugte ihn treuherzig aus kleinen neugierigen Augen an und fragte: „Was machst du denn hier? Ich habe dich noch nie hier gesehen.“  R. erzählte dem Murmeltier einiges von seinem  Leben und von seiner Reise hier bis zum äußersten Gipfel der bewohnten Welt. Das Entscheidende aber sparte er vorerst aus. Er wollte es noch für eine Weile genießen, hier mit einem Wesen zusammen zu sein, das von seiner großen Schuld nicht wusste und ihm in völlig natürlicher Weise begegnete, so als wäre er ein lauterer und anständiger Mensch. Einmal konnte sich R. eine Träne nicht verdrücken, als das Murmeltier vertraulich an ihm empor kroch, so dass beide einander wärmen konnten in dieser Bergeskälte. „Wenn du nur wüsstest, wer ich wirklich bin“, dachte R., „du dummes und liebes Tier!“

Und als er sich dann endlich wärmer und fast in Sicherheit fühlte, wagte R. sogar noch diese letzte, bange Frage, zuversichtlich, dass die Antwort zu seiner Beruhigung ausfallen würde. „Sag mir, liebes Murmeltier, die Hoheit kommt wohl in diese abgelegene Region nie, nicht wahr? Es wäre ja viel kalt und zu steil hier für eine solche edle Person“. Das Murmeltier aber antwortete zu R.s Entsetzen: „Oh, die Hoheit ist mir sehr gut bekannt. Gerade jetzt, so glaube ich, ist sie uns ganz nah.“ R. stürzte sich in Panik aus der Höhle, ohne sich auch nur von dem lieben Tier zu verabschieden. Er stolperte weiter über ein Feld von schmutzigem Eis, rutschte aus, glitt einen weißen Hang hinab, sich am ganzen Körper schmerzhaft an Steinen stoßend. Er gab jeden Widerstand auf und rutschte über die Kante eines Abgrunds. Dann fiel er ins Bodenlose – erleichtert, glücklich fast, bereit, sein nichtiges, schuldbeladenes Leben an diesem unwirtlichen Ort zu beenden. Dort wenigstens, im Reich des Todes, würde ihn sein erbarmungsloser Richter nicht erreichen können. Ihm wurde schwarz vor den Augen …

(Den dritten Teil dieses Märchens lesen Sie morgen auf dieser Seite)

Buchtipp zum Thema „Schuld“: Monika Herz, Roland Rottenfußer: Schuldentrümpelung. Wie wir uns von einer erdrückenden Last befreien. Goldmann Verlag, 256 Seiten, 9,99 €

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