Okkultismus-Sensationen als Stimmenfang (Teil 2)

 In Holdger Platta
Autor Holdger Platta

Autor Holdger Platta

Gestern schilderte unser Mitarbeiter Holdger Platta den vermeintlichen ‚Durchbruchsfall’ des Münchener Psychologen Thorwald Dethlefsen zum Thema Reinkarnation: den ‚Nachweis’ einer Wiedergeburt bei zwei Hypnosesitzungen im München des Juni 1968. Die in Trance befindliche Versuchsperson Rudolf T., ein Technikstudent, hatte angeblich schon einmal gelebt, als Gemüseverkäufer und Pferdeknecht in Wissembourg während der Jahre 1852 bis 1880. Hier nun der zweite Teil unserer Artikelserie zum Thema „Okkultismus-Sensationen als Stimmenfang“: Plattas Bericht über seine Recherchefahrt in das Städtchen im nördlichen Elsass, über seine Nachforschungen dort und über das Ergebnis.

Eine Reise nach Wissembourg

31. Oktober 1984: ein sonnig-kalter Herbsttag neigt sich seinem Ende zu; Wissemburgs Dächer, die Türme der alten Kirche St. Peter und Paul, glänzen im Abendlicht. Vögel sammeln sich in den Linden am Wall zu ihrem großen Flug in den Süden, und schon der erste Spaziergang durch diese Stadt, durch die engen Gassen vorbei an Bürgerhäusern aus Gotik, Renaissance und Barock, zeigt mir: ein Nest von 250 Seelen war dieses Wissembourg schon seit langem nicht mehr. Wie hatte mir bereits Auguste Schaaf am Telefon gesagt, Orientalist, Lokalhistoriker und langjähriger Leiter des Fremdenverkehrsamtes hier? – Von Guy Lafarges Geschichte stimme nichts. Vor allem eines habe sich nicht beweisen lassen: die Existenz dieses Guy Lafarge selbst!

Schaaf, der alle Tauf-, Heirats-. Sterberegister bei Kirche und Standesamt durchgesehen hat, vollständig erhalten seit dem Jahre 1793: „…Der Name Lafarge kommt überhaupt nicht vor; ich habe die ganzen Register durchgesehen – vom Anfang des Jahrhunderts bis Endes des Jahrhunderts, ich finde den Namen nicht.“ (Schaaf-Interview am 31.10.1984, Mitschnitt in meinem Tonband-Archiv).

Und was die Einwohnerzahl Wissembourgs angeht, Mitte bis Ende des letzten Jahrhunderts: „Also, ich kann Ihnen hier ein statistisches Werk zeigen, das 1866 herausgekommen ist: Wissembourg hatte damals 5.340 Einwohner!“ (ibid.)

Guy Lafarge, dieser Gemüseverkäufer und Stallknecht aus den Protokollen des Münchener Erfolgsautors Thorwald Dethlefsen, muß demnach wohl eine Schattenexistenz geführt haben in dieser Stadt – und diese Stadt muß selber nur ein Schatten ihrer selbst gewesen sein, wenn man dem Hypnotiseur glauben will. Doch der Lokalhistoriker Auguste Schaaf geht weiter: alles, aber auch alles, was sich historisch hat überprüfen lassen aus diesem Tonband-Mitschnitt, erwies sich als falsch.

Weder gab es die Renaults in Wissembourg noch die Schnecken als Nationalgericht, weder den Gutshof im Westen der Stadt mit einem Patron namens Pierre noch Häuser im Ort, die mit Lehm und Stroh gedeckt waren und Kienspäne zur Beleuchtung hatten. Auguste Schaaf, der sicher ist, daß Thorwald Dethlefsen bei Recherchen in dieser Elsaß-Stadt auf ihn, den Verwahrer der meisten Dokumente, hätte stoßen müssen, teilte zu diesem Wohnhaus, zu der Straße, in dem es sich angeblich befand, und zu der fehlenden Nummerierung in dieser ominösen ‚Rue du Connétable’ mit: „Also, das ist reine Fantasie! Es hat nie eine ‚Rue du Connétable’ gegeben. Seit der Französischen Revolution gibt es in Weißenburg eine Numerierung der Häuser.“ Und schließlich: auch ein Pater Pierre und eine „Eglise de la Sainte Marie“ hätten in Wissembourg nie existiert; vollständige Namenslisten und Kirchenbücher belegten dies.

Nichts als Erfindung also, diese Geschichte des Guy Lafarge aus Wissembourg, nichts als Fantasie! Aber: wer hatte fantasiert? Und aus welchem Grund? – Ein Hypnotiseur, zum Zeitpunkt dieser „age-regression“ gerademal 21 Jahre alt, ein blutjunger Mann also, der um jeden Preis die Sensation wollte bzw. den sensationellen Erfolg seines Buches? Oder die Versuchsperson selber, der hypnotisierte Student Rudolf T.?

Nun, die These bewusster Irreführung kann man vielleicht verwerfen. Hans Conrad Zander etwa, der vor Jahren im STERN einen überaus kritischen Artikel über Dethlefsen schrieb (in Nr. 21/1979), hatte diese Rückführungsexperimente über sich selber ergehen lassen – und weiß seither: hypnotisieren kann der Münchener Psychologe; und derartige Fantasien über frühere Inkarnationen stellen sich in der Tat ein, wenn man unter die entsprechende Hypnose-Vorgabe der „age-regression“ gesetzt wird. Aber anderes fällt auf, zum Beispiel die Überprüfungsscheu des Münchener Reinkarnationstherapeuten gegenüber Presse und Wissenschaft: mir zum Beispiel verweigerte er trotz mehrfacher Nachfragen jedes Gespräch, gab er keinerlei Auskunft. Anderen Nachfragern erging es ebenso. Und ebenso unübersehbar ist die Selbst-Überprüfungsscheu dieses Diplom-Psychologen – eines Mannes also, der immerhin einen akademischen Ausbildungsgang mit Erfolg absolviert hat. Denn statt der Reise nach Wissembourg unternahm der Therapeut nur den Versuch, durch Spekulation diesen Fall zu „beweisen“. Thorwald Dethlefsen:

„Alle Anwesenden waren…betroffen wie ich. Dennoch: Welche Zweifel waren möglich?
Nun – die Versuchsperson habe ‚mitgespielt’. Dagegen ist zu sagen: Das Medium wusste vor dem Experiment überhaupt nicht, was ich mit ihm vorhatte…
Zweitens: das Medium gebe nur das wieder, was ihm der Hypnotiseur auf telepathischem Wehe suggeriert. Dagegen spricht, daß ich selbst außerordentlich schockiert war. Außerdem: wären ihm moderne Begriffe ‚Auto’, ‚Tankstelle’ vertraut gewesen.
Dritter Verdacht: Das Medium hat diese Geschichte irgendwo gelesen. Meine Antwort: Das unbedeutende Leben des Guy Lafarge kann nicht aus einem Buch stammen. Daß es sich um Erlebtes handelte, merkten alle Anwesenden an den starken emotionalen Schwankungen, denen die Versuchsperson unterworfen war. Nach all diesen Überlegungen gab es für mich keinen Zweifel mehr.“ (ibid.)

Nun, mit „all diesen Überlegungen“ mogelt man sich natürlich vor allem um eines herum, um die eigentliche Überprüfungspflicht nämlich. Bleibt die Frage: warum glaubte der Münchener Reinkarnations-Experimentator, der im Dezember 2010 in Wien gestorben ist, das alles trotzdem – und mit ihm, das zeigen Umfrage-Ergebnisse des EMNID-Instituts aus dem Jahre 1977, sechzehn Prozent der erwachsenen Bevölkerung in der Bundesrepublik? – Ob es mit jener Ewigkeitszusage zu tun hat, die ich bereits angesprochen habe? Der Reinkarnationsglaube als Wall gegen unsere Sterbeangst (vgl. auch Horst-Eberhard Richter: Der Gotteskomplex. Die Geburt und die Krise des Glaubens an die Allmacht des Menschen. Reinbek 1979)? Mit einem Identitätsversprechen von mächtiger Anziehungskraft, dem Identitätsversprechen nämlich eigener Unzerstörbarkeit? – Oder mit dem Gefühl der Enttäuschung, die uns Leser solcher Geschichten regelmäßig befällt, und dem Gefühl der Enttäuschung, wenn sich – wieder einmal – nur das Gegenteil erweist?

„Ach, wenn mir’s nur gruselte!“, so lautet der bekannte Märchenwunsch. Ob es auch der Wunsch von uns nach Märchen ist? In einer Welt, die für derlei Wünsche keinen Platz mehr hat?

Nachtrag 2014/1994: Oder waren hier noch ganz andere Motive beim Autor Thorwald Dethlefsen im Spiel, andere Fragwürdigkeiten auch?

Was in den Abschnitten oben unerwähnt geblieben ist, das ist die Tatsache, daß dieses erste Bestsellerbuch des blutjungen Autors Thorwald Dethlefsen nicht nur dazu dienen sollte, vermeintlich sensationelle Wiedergeburtsfälle zu schildern. Nein, um dem verlagseigenen Klappentext aus dem Hause Bertelsmann zu folgen: Dethlefsen ging es in seiner ersten Publikation vor allem auch darum, ein Buch zu schreiben „gegen die modernen Wissenschaften, gegen Medizin und Psychologie und gegen den Sozialismus“. Hoppla, „gegen den Sozialismus“? Und weiter im Klappentext: „Jeder einzelne trägt die Verantwortung für sein Schicksal selbst!“ Was Dethlefsen darunter konkret verstand, darauf komme ich am Ende dieser Beitragsreihe noch einmal zurück.

Doch auch zu der anderen Fragwürdigkeit noch: wieso war eigentlich der Jung-Erwachsene Thorwald Dethlefsen nicht selber auf die Idee gekommen, seiner Guy-Lafarge-Geschichte im Elsaß-Städtchen Wissembourg nachzugehen?- Nun, wie gesagt: mir wollte er Fragen dieser Art nicht beantworten. Aber immerhin fand sich Jahre später sein damaliger Kompagnon, der ebenfalls als Reinkarnationstherapeut tätige Rüdiger Dahlke, bereit, auf diese Frage eine Antwort zu geben. Ich zitiere aus einem Interview, das ich – ebenfalls im Auftrag des WDR – im Jahre 1991 mit Dahlke führte (nachzulesen in einer auch von ihm autorisierten Textversion in meinem Buch „New-Age-Therapien. pro und contra“, 1994 erschienen im Weinheimer Beltz-Quadriga-Verlag). Als ich den – damals bereits Ex-Kollegen von Dethlefsen – Rüdiger Dahlke nach der Tatsächlichkeit der vermeintlichen Reinkarnationen fragte, nach Beweisen für diese These, gab dieser zur Antwort:

„Dahlke: Ach, wissen Sie, beweisen kann man in diesem Bereich immer nur schlecht… denken Sie an die Forschungsergebnisse auf diesem Gebiet, an den amerikanischen Professor Ian Stevenson etwa, der Hunderte von Fällen dokumentiert hat! In seinem Buch „Zwanzig Fälle von Reinkarnation“ sind meines Erachtens die Dinge so dokumentiert, daß ich annehmen muß, das dürfte selbst der Wissenschaft genügen, das ist so belegt, wie Wissenschaft die Dinge belegt haben will.

Platta: Darf ich einhaken? Das Buch heißt mit seinem us-amerikanischen Originaltitel „Twenty cases suggestive of reincarnaiton“ – was etwa mit „andeutend, hinweisend auf“ übersetzt werden könnte -, und Stevenson selber betont in seinem Vorwort, daß er hier lediglich Fälle vorstellen wolle, die Reinkarnation nahelegen, und nicht mehr. – Aber der bundesdeutsche Verleger hat daraus mit seinem Buchtitel „20 überzeugende und wissenschaftliche Fälle“ gemacht. Das scheint mir nicht untypisch zu sein: Hinweise für Beweise zu halten.

Dahlke: Ach, wissen Sie, in diesem Bereich werden Sie niemals vollgültige Beweise vorlegen können, das dürfte schon praktisch ganz unmöglich sein. Sie können Dinge wie Reinkarnation immer nur nahelegen… Aber das gilt auch umgekehrt: Sie können auch nicht die Nichtexistenz von irgend etwas beweisen.

Platta: Zweifellos richtig! Aber beweispflichtig ist derjenige, der eine Behauptung aufgestellt hat, nicht der andere, der ihr widerspricht.

Dahlke: Das ist sehr relativ, weil zum Beispiel die Hälfte der Menschheit an Reinkarnation glaubt.

Platta: Ich spreche von Wissenschaft und nicht von Religionen, und ich rede von Wissenschaft in einem Verständnis, dem Sie womöglich widersprechen werden, nämlich von einer Wissenschaft, die zwar für neue Erfahrungen offen ist, aber auch zugänglich ist für die Möglichkeit des eigenen Irrtums und für die Fragwürdigkeit der selbsterstellten Hypothesen. Ich denke da an das erste Buch Ihres Mentors und Kollegen Dethlefsen aus dem Jahre 1968, „Das Leben nach dem Leben“. Er hat dort den Fall eines Rudi T. geschildert, der unter Hypnose von einem früheren Leben als Guy Lafarge zu erzählen begann. Doch als ich Jahre danach für den WDR diesen Fall nachrecherchierte, stellte sich heraus, daß keine Angabe sich bestätigen ließ. Ich war schon erstaunt über diesen Mangel an Selbstüberprüfungsbereitschaft bei Dethlefsen beziehungsweise über seinen Mangel an Offenheit gegenüber der Möglichkeit des eigenen Irrtums.

Dahlke: Was heißt hier „nicht offen“? Ich meine mich zu erinnern, daß dieser Fall von einem Fernsehteam nachrecherchiert worden ist… Im übrigen möchte ich feststellen. Soweit ich Dethlefsen aus dieser Zeit kenne, hat ihn eine Überprüfung seiner Fälle nie sonderlich interessiert. Wenn Sie jahrelang damit umgehen, sind diese Dinge für Sie zu einer Selbstverständlichkeit geworden, daß Ihr Interesse an Wissenschaft gegenüber dem therapeutischen Nutzen gering ist…

Platta: Was den Fall des Rudi T. betrifft, kann Ihre Behauptung nicht stimmen, daß Dethlefsen aus dem von Ihnen genannten Grunde zu diesem Zeitpunkt kein Interesse mehr an der wissenschaftlichen Verifikation seiner angeblichen Entdeckung hatte. Bei dieser Geschichte handelt es sich um Dethlefsens ersten Fall.

Dahlke: Ich kann Ihnen meinerseits versichern, daß ich Dethlefsen gut kenne seit vielen Jahren und er nicht das geringste Interesse an Wissenschaft hat, wie Sie unschwer in Publikationen wie „Schicksal als Chance“ nachvollziehen können.“

Nun, brechen wir an dieser Stelle das – im übrigen ausgesprochen freundlich geführte – Gespräch mit Herrn Dr. Rüdiger Dahlke ab, der sich zu diesem Zeitpunkt auch schon von Dethlefsen getrennt hatte (laut Wikipedia im Jahre 1989; mein Gespräch mit Dahlke fand, wie bereits mitgeteilt, zwei Jahre später, nach dieser Trennung, statt, im Jahre 1991). Bemerkenswert bleibt die Gelenkigkeit, mit der mein Gesprächspartner auf jeden meiner Einwände reagierte. Bemerkenswerter aber, daß Dethlefsen – gemeinsam mit Dahlke zumindest noch bis zu der Veröffentlichung „Krankheit als Weg. Deutung und Be-Deutung der Krankheitsbilder“ (Bertelsmann-Verlag München 1983) – Thesen und Theorien vertreten hat, die uns die Esoterik als zutiefst menschenfeindliche Ideologie präsentiert. Dieses ist an dieser Stelle bereits in der Beitragsreihe „Esoterik und Rechtsextremismus“ detailliert belegt und analysiert worden.

https://hinter-den-schlagzeilen.de/2013/07/15/esoterik-und-rechtsextremismus-13/
https://hinter-den-schlagzeilen.de/2013/07/17/esoterik-und-rechtsextremismus-23/
https://hinter-den-schlagzeilen.de/2013/07/19/esoterik-und-rechtsextremismus-33/

Und bemerkenswert ist, daß auch die Astrologie in den Dienst solcher schicksalsergebenen Ideologien gestellt worden ist. Davon wird morgen auf www.hinter-den-schlagzeilen.de die Rede sein. Die Reise in die Okkultismusregionen geht also weiter, und sie wird uns morgen, unter anderem, nach Freiburg im Breisgau führen.

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