Israel/Palästina: eine Atmosphäre von Angst und Gewalt

 In Ellen Diederich
Autorin Ellen Diederich

Autorin Ellen Diederich

Verständigung funktioniert nicht, wenn wir in einer Rhetorik des “Gegeneinander” verharren. Das gilt erst recht für den verfahreren Israel-Palästina-Konflikt. Ellen Diederich knüpft mit diesem Beitrag an die Diskussion an, die sich anlässlich des Artikels “Israelkritik und der Antisemitismus der Linken” von Sandra Kreisler auf „Hinter den Schlagzeilen“ entsponnen hat. Sie erzählt von ihrer besonderen Beziehung zu Israel vor dem Hintergrund des deutsch-jüdischen Verhältnisses. Als “68erin” saß der Schock über die deutsche Schuld am Holocaust bei ihr tief. Im Lauf der Jahre hat sich durch viele Reisen in Krisengebiete und durch Begegnungen mit Jüdinnen und Juden ihre Beziehung zu Israel vertieft. Sie sah auch das Leid und die Diskriminierung, die Palästinenser/innen zu erdulden hatten, sah die Atmosphäre von Angst, Gewalt und Militarisierung und suchte nach Wegen der Versöhnung. Dieser Beitrag ist der erste von mehreren, die wir auf “Hinter den Schlagzeilen” veröffentlichen werden.
(Ellen Diederich)

Auf der Seite „Hinter den Schlagzeilen“ hat mit dem Beitrag von Sandra Kreisler „Israelkritik und der Antisemitismus der Linken“ erneut eine Diskussion über Israel-Palästina, Antisemitismus und Antiamerikanismus begonnen.

Der Konflikt zwischen den beiden Ländern und ihre internationalen Verflechtungen sind vielfältig und kompliziert – historisch und aktuell. Ich bin keine Nahostexpertin, auch wenn ich mich seit Jahren mit dem Konflikt befasse. Ich wüsste niemanden, der einen Anspruch auf vollständige Erklärung hat. Die Verletzungen der betroffenen Menschen auf beiden Seiten sind sehr tief. Wirkliche Lösungen zu finden, setzt gegenseitiges Zuhören, Zeit und Empathie voraus. Dieser Konflikt ist einer, über den sich weltweit unendlich viele Menschen Gedanken gemacht haben. Unzählige Versuche wurden unternommen, ihn zu lösen. Trotzdem ist es bislang nicht gelungen.

Meine Hoffnung ist, dass wir auch hier in dieser Diskussion in einen Dialog und nicht in einen abwehrenden Schlagabtausch kommen. Vielleicht kommen wir sogar zu gemeinsamen Überlegungen und Aktionen, die dem Frieden in der Region dienen können.

In einem Dialog sollte die in den bisherigen Kommentaren aufscheinende Polemik außen vor bleiben. Ich vergegenwärtige mir die Argumente von Sandra Kreisler und die Gegenargumente in den Kommentaren. Man kann meiner Erfahrung nach diesen Konflikt nicht “gegeneinander” begreifen oder gar Lösungen finden. Das haben wir sehr intensiv bei den Versöhnungscamps zwischen Israelis, PalästinenserInnen und Deutschen gelernt. Dort trafen sich unter anderen junge Palästinenser, die in der 2. Intifada zu den Steinewerfern gehörten, dafür im Gefängnis waren, heute für pazifistische Ziele eintreten und junge Israelis, die Kriegsdienstverweigerer sind. Die Annäherung ist nicht einfach.

Auch im Frauenfriedenszelt bei der Weltfrauenkonferenz in Nairobi, wo sich Frauen aus so genannten Feindesländern getroffen haben, haben wir gerade bei dem Dialog zwischen israelischen und palästinensischen Frauen das “Gegeneinander” schnell aufgegeben, es durch wirkliches Zuhören und den ernsthaften Versuch, die Position der Anderen zu verstehen, ersetzt. Als wichtig zeigte sich, zu begreifen, auf welchen Erfahrungen sich die jeweiligen Positionen entwickelt haben.

Warum beschäftigen sich viele von uns so intensiv gerade mit diesem Konflikt?

In Deutschland haben wir durch unsere Geschichte eine enge Beziehung zu Israel, zu jüdischen Menschen hier und in verschiedenen Teilen der Welt.

Der Hitlerfaschismus, der Holocaust, der 2. Weltkrieg, Auschwitz, Hiroshima und Nagasaki, Stalingrad und Dresden waren für meine Generation die Ausgangspunkte unserer politischen Sozialisation. Nie wieder Krieg, nie wieder Vernichtung von Menschen, Natur und Städten aufgrund irgendwelcher ökonomischen Ansprüche, Religionen und Ideologien ist die Konsequenz aus den Erfahrungen, wurde zur Basis unseres Denkens und Handelns. Wir sind auf der Spur geblieben, uns überall dort, wo sich Krieg, Unterdrückung, Ausbeutung, Menschenrechtsverletzungen zeigen, einzumischen, Öffentlichkeit herzustellen und den betroffenen Menschen zu zeigen: Ihr seid nicht allein.
Ich fühle mich nicht schuldig für die Verbrechen der Nationalsozialisten. Aber ich fühle mich mit verantwortlich dafür, dass so etwas nie wieder geschieht.

Wenn man, wie ich, in Deutschland 1944 in eine antifaschistische Familie geboren wurde, deren Mitglieder immer GegnerInnen der Nazis und des Krieges waren, stößt man sehr früh auf den Holocaust. Mit 14 Jahren las ich das erste Buch über das KZ Buchenwald, mit 15 Jahren besuchte ich das erste Mal das Anne Frank Haus in Amsterdam und las „Die weiße Rose“. Das Bewusstsein über das Unrecht, das den europäischen Juden durch die Nazis angetan wurde, hat sich tief eingebrannt. Die Geschichte der nahezu vollständigen Vernichtung des europäischen Judentums liegt wie ein bleierner Mantel auf uns. Bücher wie „Exodus“ von Leon Uris ließen die Parteinahme für Israel als selbstverständlich erscheinen. Auf diesem Hintergrund hatte ich viele Jahre eine große Scheu, mich mit der Politik Israels kritisch auseinanderzusetzen. Veränderungen ergaben sich einmal im Kontext unserer Kämpfe gegen eine weltweit vertretene Politik, die es auch als möglich ansieht, Atomwaffen einzusetzen. Hier entwickelte sich auch ein anderer Blick auf Israel. Wir wenden uns gegen die Politik aller Länder, die an diesem Wahnsinn beteiligt sind. Das hat nichts mit einer bestimmten Religion oder gar mit jüdischem Leben in Deutschland zu tun.

Es gab einen weiteren Bezug auf Israel. In der 68er Bewegung suchten wir nach anderen Formen des Zusammenlebens. Wir stellten die Kleinfamilie und die traditionelle Kindererziehung in Frage, ich initiierte den ersten antiautoritären Kinderladen im Ruhrgebiet. Wir waren auf der Suche nach neuen, gemeinschaftlichen Formen, stießen so auf die Kibbuzim in Israel.

Kibbuz heißt auf Hebräisch: „Sammlung, Versammlung, Kommune“. Einige Kibbuzim entstanden bereits zu Beginn des 20sten Jahrhunderts, weitere dann in den dreißiger Jahren während der großen Einwanderungswelle als Kollektivsiedlungen, der größte Teil nach der Gründung des Staates Israel. Land, Gebäude, alles bewegliche Gut waren Gemeineigentum. Die Kibbuzim hatten sozialistische Ziele und basisdemokratische Strukturen. Die Kleinfamilien wurden aufgelöst, die Kinder gemeinsam erzogen. Sie lebten zum Teil im Kibbuz in einem Kinderhaus, getrennt von den Eltern. Die Bewohner erhielten keinen Lohn, Wohnung, Kleidung, Essen, medizinische Versorgung wurden zur Verfügung gestellt.

Uns erschien das als ein erstrebenswertes Modell des Zusammenlebens. Zwei aus unserer Gruppe sind nach Israel gegangen.

Je mehr ich in der Friedensbewegung aktiv wurde, umso tiefer ging ich den Fragen nach Entstehung von Krieg, den Fragen nach Kolonisierung, den Kampf der Befreiungsbewegungen und Menschenrechtsverletzungen nach. Ich hatte das Privileg, mit Hilfe einer US-amerikanischen Frauen-Friedensstiftung „Foundation for a compassionate society“, die in Austin/Texas ihren Satz hatte, in viele Teile der Erde reisen zu können. Das waren keine Ferienreisen, ich ging in Kriegsgebiete, in Länder, in denen Armut bestimmend ist. Ich spürte der Geschichte der Kolonisierung der Welt durch europäische Länder nach, den bis heute damit verbunden Ausbeutungstatsachen und Menschenrechtsverletzungen. Seien es Länder und Völker in Afrika, Lateinamerika und Asien, AfroamerikanerInnen und IndianerInnen in den USA, oder eben auch die aus ihrem Land vertriebenen PalästinenserInnen. Hier trifft es besonders hart auch die Urbevölkerung, die Beduinen, deren Schicksal mit dem der Indianischen Völker der Amerikas vergleichbar ist.

(Siehe auch: Ariel Sharon und die Beduinen, auf „Hinter den Schlagzeilen“ von Ellen Diederich)

Ein Phänomen ist noch wichtig. Es ist die Enttäuschung darüber, dass die Resultate von Befreiungskämpfen nicht unmittelbar dazu führen, dass die „Sieger“ Ziele, für die sie gekämpft haben, erreichen, sondern im Gegenteil, häufig Regime errichten, die wiederum unterdrücken. Sei es in Vietnam, in Kuba, in China, in den Ländern der früheren Sowjetunion, in den letzten Jahren in Nordafrika, besonders auch in Ägypten, teilweise in Nicaragua oder eben auch in Israel. Diese Entwicklungen sind schwer verständlich. Die „Opfer“ früherer Unterdrückungen müssten doch eigentlich wissen, was Unterdrückung bedeutet und nicht ähnliche Gesellschaftsstrukturen entwickeln. Das Phänomen ist unabhängig von religiösen Hintergründen. Diesen Prozess gab und gibt es in christlich, muslimisch, jüdisch und atheistisch geprägten Ländern. Schon gar nichts zu tun hat es mit einer Entwicklung von „Antisemitismus“ oder „Antiamerikanismus“. In der Friedensarbeit traf ich MitstreiterInnen jeder Glaubensrichtung, es gab unendlich viele Gespräche.

An erster Stelle mit meinem langjährigen Freund Jakob Moneta. Jakob war jüdischer Herkunft, ging 1933 nach dem Abitur nach Palästina. Viele Mitglieder seiner Familie wurden durch die Nazis ermordet. In Palästina lebte und arbeitete er in einem Kibbuz. Dort waren neben ZionistInnen auch SozialistInnen, die eine zwischen Arabern und Juden gleichberechtigte Gesellschaft wollten. Jakob hat mir über seine Zeit dort erzählt. Auch Geschichten über positive Erfahrungen, z.B.: Er ging mit einem kleinen Mädchen aus dem Kibbuz in die Stadt, um einzukaufen. An einer Straße saßen eine Reihe Bettler. Das Kind fragte Jakob, wer das sei, er erklärte. Er gab ihr etwas Geld, um es den Bettlern zu geben. Sie gab dem ersten Bettler etwas, dem zweiten, dann gab sie dem dritten den Rest und sagte, „Teile das mit Deinen Genossen!“

(Siehe auch Kursbuch Nr. 51 – Leben gegen Gewalt)

Jakob war kein Zionist. Die sozialistischen Teile der jüdischen BewohnerInnen waren von den Briten nicht gelitten. Sie waren für ein anderes Gesellschaftssystem, für Gerechtigkeit in den Arbeitsbedingungen, für die gleichen politischen Rechte von Arabern und Juden. Mit Beginn des 2. Weltkrieges kamen Jakob und viele andere Juden, die diese Meinung vertraten, in Internierungslager der Briten in Palästina.

Jakob wurde Trotzkist, später Chefredakteur der Zeitung der IG Metall, Initiator und Beteiligter an vielen Arbeits- und sonstigen politischen Kämpfen in Deutschland. Er war einer von leider nicht allzu vielen Lehrern, den ich zu diesem und vielen anderen Themen alles fragen konnte, der (fast) alles wusste und trotzdem nie „belehrend“ war. Kam ich zurück von Aktionen der Friedensbewegung oder den Reisen nach Israel und Palästina, diskutierten wir endlos.

Auch Begegnungen wie die mit Gideon Spiro, einem jüdischen Friedensaktivisten aus Jerusalem haben mein politisches Verständnis geprägt. Gideon floh Ende der dreißiger Jahre mit seiner Mutter als Dreijähriger aus Nazi Deutschland nach Palästina. Er war später Soldat in der israelischen Armee, Elite Soldat, im 6-Tage-Krieg Fallschirmspringer. Mit dem Krieg in Libanon änderte sich sein Bewusstsein über das, was dort geschah. Er schloss sich der Bewegung der Kriegsdienstverweigerer an, wurde Journalist und ist Vorsitzender des Komitees für einen ABC-Waffen-freien Nahen und Mittleren Osten und des Komitees für die Freilassung von Mordechai Vanunu.

Vanunu war Arbeiter im Dimona Nuclear Research Center im Negev, 90 km südlich von Jerusalem. Vanunu ist der Mann, der international als erster die israelische Atombewaffnung publik machte, in dem er britische Zeitungen informierte. Er wurde am 30. September 1986 von der israelischen Agentin Cheryl Ben Tov nach Rom gelockt, dort vom israelischen Geheimdienst Mossad entführt und dann per Schiff nach Israel gebracht. Die Entführung erfolgte ohne Einverständnis des Gastlandes Italien. Vanunu musste für 18 Jahre ins Gefängnis, 11 davon verbrachte er in Einzelhaft. Wir organisierten auch in Deutschland eine Reihe von Aktionen für seine Freilassung.

„Am 21. April 2004 wurde Vanunu unter strengen Auflagen freigelassen. Unter anderem darf er Israel nicht verlassen, darf sich keiner ausländischen Botschaft nähern und muss über geplante Ortswechsel Rechenschaft ablegen. Außerdem darf er weder das Internet noch Handys benutzen, und jeder Kontakt mit ausländischen Journalisten ist ihm verboten. Trotz der Auflagen hat er bereits über 100 Interviews gegeben.“ (Wikipedia)

In der Zwischenzeit wurde Vanunu mehrfach verhaftet, weil er sich mit „Ausländern“ getroffen und so gegen die Auflagen verstoßen hatte. 1987 erhielt er den alternativen Nobelpreis sowie Ehrenwürden verschiedener Universitäten, er wurde des Öfteren für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen.

Viele Jahre war das zentrale Anliegen unserer Friedensarbeit der Kampf gegen die Atomgefahr. Wir machten unendlich viele Aktionen gegen die Atomtests, die Stationierung von Atomwaffen in vielen Ländern, gegen den im Ost-West-Konflikt drohenden Atomkrieg. Gideon Spiro traf ich auf einem Friedenskongress in Stockholm. Ich war dort mit einer Ausstellung über die Verbreitung von Atomwaffen weltweit und dem Widerstand dagegen eingeladen. Gideon analysierte die Situation im Nahen Osten. Sein Vortrag in Bezug auf die Entwicklung Israels war Augen öffnend für mich. Er sagte u.a.:

„Israel ist eine atomare Großmacht, deren Arsenal größer ist als das von China, Großbritannien und Frankreich. Israel ist zu einem Pulverfass von Massenvernichtungswaffen geworden, ein Garten Eden für ‘Strangeloves’ verschiedener Arten. Es gibt keinen anderen Staat in der Welt, in dem auf einem so kleinen Territorium eine so riesige Menge von nuklearen, biologischen und chemischen Waffen gelagert wird. Israel führte das atomare Wettrüsten in den Nahen Osten ein, und seine Politik war und ist noch immer, das atomare Monopol zu bewahren und seine militärische Macht dazu zu nutzen, seine Nachbarn daran zu hindern, ebenfalls eine Atommacht zu werden.“ Da Israel bis heute offiziell nicht zugestanden hat, Atommacht zu sein, ist das Land auch an den Abrüstungsgesprächen in Bezug auf Atomwaffen nicht beteiligt.

Die Begegnungen mit der christlichen Palästinenserin Faten Mukarker, ihrer Familie in Beit Jala bei Bethlehem und bei Veranstaltungen in Deutschland, haben mir gezeigt, wie der Mauerbau die Existenzgrundlage einer Familie, die zum großen Teil vom Aprikosenanbau lebte, zerstört hat. Die Mauer wurde mitten durch die Aprikosengärten gebaut.

Die Familie lebte auch von einem kleinen Betrieb mit 14 Arbeitern, in dem Gummi produziert wurde. Heute arbeitet nur noch ein Bruder von Faten in dem Betrieb. Der Gummirohstoff kam aus Malaysia, musste, wie alles, über Israel importiert werden. Palästina hat keinen eigenen Hafen und Flughafen, so kann nichts direkt importiert werden. Israel importierte billigeres Gummi aus China, Fatens Familie war nicht mehr konkurrenzfähig. So ging der Betrieb kaputt.

Seit der Zeit der Begegnung mit Faten und Gideon beschäftige ich mich noch intensiver mit dem Konflikt, habe an Versöhnungscamps, Aktionen und Diskussionen teilgenommen, Ausstellungen, Vorträge und Dia-Schauen erarbeitet. Ich bin nach Israel und Palästina gefahren, um mir ein Bild zu machen, entsetzt von dem Unterdrückungszusammenhang, den ich dort den PalästinenserInnen gegenüber erlebt habe, aber auch von der Militarisierung und Gewaltbereitschaft, die ich in Palästina und Israel angetroffen habe. Wie in allen Kriegsgebieten oder bei aus dem Krieg heimkehrenden Soldaten (z.B. in den USA und Nordirland), findet auch hier die militärische Gewalt ihre Fortsetzung in der häuslichen Gewalt. In all meiner Sympathie für die Lage des palästinensischen Volkes beschäftigen mich als Feministin auch die patriarchalen Strukturen des Landes, die Frauen gegenüber sehr viele Gewaltverhältnisse bedeuten. Sie werden verstärkt durch Arbeitslosigkeit, Armut, soziale Konflikte, militärische Gewalt, all das ist der Nährboden für die Entwicklung von Gewalt in Alltagsbeziehungen, insbesondere gegen Frauen. Häuser für geschlagene Frauen wären dringend erforderlich. Die Diskussion hierüber hat begonnen.

Die Angst in Israel spüre ich. An zentralen Plätzen habe ich beklemmende Gefühle. Beim Warten am Taxistand oder auf dem Busbahnhof in Tel Aviv, an großen Kreuzungen, in öffentlichen Verkehrsmitteln. Ich frage Soleimann, einen Freund, bei dessen beduinischer Familie ich im Negev zu Gast war, in Beer Sheva, als wir im Auto unterwegs sind, ob es dort auch Selbstmordattentate gab. „Genau an dieser Kreuzung vor etwa zwei Monaten“, sagt er, „drei Tote gab es“.

Die Gefahr ist nicht fassbar, eine permanente Verunsicherung gegenwärtig. Ist das ein Teil dessen, was mit „Privatisierung des Krieges“ beschrieben werden kann? Es gibt keine kalkulierbaren Angriffe von zwei gleichwertigen militärischen Kräften. Sofern man Krieg überhaupt jemals als kalkulierbar beschreiben konnte. Hier kann die Gewalt jederzeit in Form der Selbstmordattentate treffen.

Ich habe die Angst vor Angriffen und Selbstmordattentaten an öffentlichen Plätzen, in Zügen, in Bussen in Israel gespürt. Die Selbstmordattentate sind in meinen Augen unmenschliche Aktionen der Verzweiflung und kosten das Leben unschuldiger Opfer und der Attentäter. Selbstmordattentate sind eine Form der Privatisierung des Krieges. Es sind nicht mehr Armeen, die sich gegenüberstehen. Einzelpersonen führen Krieg als Vertreter radikaler Gruppen. Dieser Krieg kann zu jeder Zeit an jedem Ort geschehen.

Eine Antwort auf die permanente Bedrohung durch Selbstmordattentate ist die Aufrüstung Israels. Das Alltagsbild wird durch die Präsenz Tausender junger SoldatInnen geprägt. Überall sind sie zu sehen, schlendern durch Einkaufszentren, über Bahnhöfe, Busbahnhöfe, häufig den Freund oder die Freundin am Arm. Mit der einen Hand halten sie das auf dem Rücken hängende Maschinengewehr, in der anderen Haft oft etwas Essbares, das MG als Alltagsgegenstand.

Die ständig präsenten jungen israelischen SoldatInnen mit dem äußerlich spielerischen Umgang ihrer tödlichen Waffen, tragen nicht zur Beruhigung bei, eher das Gegenteil ist der Fall.

Auf einer Zugfahrt vom Norden Israels in den Süden sind nahezu die Hälfte der Fahrgäste im Zug SoldatInnen der israelischen Armee. Beim Sitzen halten die Männer das MG längs am Körper, den Griff auf Brusthöhe. Abzug und Lauf liegen zwischen den Beinen, den Lauf nach unten oder vorne gerichtet. Die Soldatinnen legen das Gewehr quer über ihren Schoß.

Mir gegenüber sitzt ein junger Soldat. Er hat das MG zwischen seine Beine gelegt, den Abzugsgriff auf Penishöhe. Der Soldat spielt mit der einen Hand am Abzug, in der anderen Hand hält er einen rosafarbenen Dauerlutscher, den er in den Mund hinein- und wieder hinausschiebt. Der Lauf des MG ist auf mich gerichtet.

Kommen mir die Gesichter so jung vor, weil ich inzwischen alt bin oder sind es wirklich fast Kinder? Welche Lebenserfahrungen können sie mit 18, 19 Jahren gesammelt haben? Aber welche Lebenserfahrung wäre das überhaupt, die Menschen vielleicht in die Lage versetzt, mit Gewaltandrohung und –anwendung verantwortlich umgehen zu können?

Mir wird angst und bange um die beiden Gesellschaften, in der der Alltag so durch Gewaltbereitschaft bestimmt ist. Anstatt die Ursachen der Gewalt anzugehen, werden immer mehr Formen von Gewalt entwickelt.

Bei gemeinsamen Aktionen der „Frauen in Schwarz“ haben Israelinnen, Palästinenserinnen und Frauen aus verschiedenen Ländern gemeinsam in Israel für die Beendigung der Feindseligkeiten demonstriert. Ich habe mich in Jerusalem und Haifa an den Aktionen beteiligt. Die Frauen in Schwarz sind ein weltweites Netzwerk von Frauen, die zunächst die Friedenspolitik des eigenen Landes unter die Lupe nehmen, sich dazu verhalten um dann mit Frauen aus verschiedenen Ländern Aussagen und Aktionen zu machen. In Israel machen sie regelmäßig Checkpoint watches, sie beobachten, wie die israelische Armee mit Menschen umgeht, die von einem Teil des Landes in den anderen wollen.

(Morgen lesen Sie an dieser Stelle von Ellen Diederich: “Antisemitismus – ein überfällige Begriffsklärung” sowie ein Statement zur Frage “Haben Opfer das Recht, Unrecht zu tun?”

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