„Haben Opfer das Recht, Unrecht zu tun?“

 In Ellen Diederich, Friedenspolitik, Politik (Ausland)
Prof. Rolf Verleger

Prof. Rolf Verleger

Zionismus, Antisemitismus und jüdische Identität. „Mein Testament für das jüdische Volk: Euren Staat so zu erbauen, dass ein Fremder zufrieden bei euch lebt“, sagte Theodor Herzl, Begründer des modernen Zionismus. „Gibt die Tatsache, dass wir europäischen Juden Opfer eines großen Unrechts wurde, dem jüdischen Staat vor Gott und den Menschen das Recht, nun Anderen Unrecht zu tun?“, sagte Rolf Verleger, ehemaliges Mitglied des Zentralrats der Juden in Deutschland. Zwei Aussagen, die man – schon wegen ihrer jüdischen Urheber – nicht schlicht als „Antisemitismus“ abkanzeln kann. Was ist überhaupt „jüdisch“? Sicher kann diese Frage nicht allein von nicht-jüdischen Deutschen beantwortet werden. Allerdings gibt es zu denken, dass Rolf Verleger den Kern des Judentums in einem „Auftrag der Nächstenliebe“ sieht – und diesen durch das Verhalten der israelischen Regierung gegenüber Palästinensern sträflich verletzt sieht. Ellen Diederich, die vor Ort mit Vertretern beider „Lager“ gesprochen und versucht hat, Frieden zu stiften, nimmt in diesem Beitrag ein paar längst fällige Begriffsklärungen vor.

Wie nähert man sich dem komplexen Zustand, der heute das Leben in Israel und Palästina prägt?

Weder von der einen noch von der anderen Seite bei der Diskussion auf HdS wurden die verwandten Begriffe Antisemitismus und Antiamerikanismus geklärt. Es gibt eine große Zahl von Büchern, die sich damit beschäftigen.

In der Beschreibung der historischen Entwicklung und heutigen Bestandsaufnahme habe ich viel von AutorInnen wie der jüdischen Rechtsanwältin und Trägerin des alternativen Nobelpreises Felicia Langer aus ihren verschiedene Publikationen und Veranstaltungen gelernt. Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich in vier Wochen 6 Bücher der gleichen Autorin gelesen, ich konnte nicht mehr aufhören. Felicia Langer hat als Rechtsanwältin viele Jahre PalästinenserInnen vor den israelischen Militärgerichten verteidigt. Gelernt habe ich sehr viel von dem israelischen Friedensaktivisten Uri Avnery, seinen vielen verschiedene Publikationen. Von der Palästinenserin Sumaya Farhet-Naser, ihren Büchern: „Thymian und Steine“, „Verwurzelt im Land der Olivenbäume“, „Disteln im Weinberg“, „Im Schatten des Feigenbaums“. Vpn der israelischen Journalistin Amira Hass, ihren Artikeln und ihrem Buch „GAZA“. Dort hat sie drei Jahre gelebt. Von dem langjährigen Vertreter der PalästinenserInnen in Deutschland, Abdallah Frangi in Gesprächen und aus seinen Büchern: „PLO und Palästina“ und „Der Gesandte“. Sowie dem Psychologie-Professor Rolf Verleger, vormals Mitglied im deutschen Zentralrat der Juden, und seinem Buch „Israels Irrweg“. Auf einige Kapitel dieses Buch beziehe ich mich im Folgenden.

Rolf Verleger

ist seit 1997 Professor für medizinische Psychologie an der Universität zu Lübeck. Er war Mitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland und Vorsitzender der Jüdischen Gemeinschaft in Schleswig-Holstein.

„Unter dem Eindruck des israelisch-libanesischen Kriegs im Sommer 2006 äußerte er sich mit einem Brief vom 23. Juli 2006 zunächst intern im Zentralrat, dann öffentlich kritisch zu den ‚militärischen Maßnahmen der israelischen Regierung gegen den Libanon‘ und zu der Israel unterstützenden Haltung des Zentralrats hierzu.“ (Wikipedia)

2009 entzog die Jüdische Gemeinschaft Schleswig-Holstein Verleger daraufhin sein Mandat als Delegierten im Zentralrats-Direktorium und den Vorsitz in Schleswig-Holstein. Rolf Verleger kommt aus einer jüdischen Familie, deren großer Teil der Angehörigen in verschiedenen deutschen Konzentrationslagern inhaftiert waren, viele von ihnen wurden ermordet. In seinem Buch: „Israels Irrweg, eine jüdische Sicht“, analysiert er sehr dezidiert neben vielen Phänomen des Konfliktes Israel-Palästina auch die Geschichte und die Anwendung des Begriffs Antisemitismus. In verschiedenen Publikationen äußerte er sich dazu:

„Das Wort Antisemitismus wurde im 19. Jahrhundert geprägt, um dem ordinären Hass gegen Juden einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben; auch sollte es die Notwendigkeit des Kampfes zwischen der edlen ‚germanischen‘ und der niederen ’semitischen‘ Rasse betonen. (…) Der Fehler dieses Wortes für den heutigen Gebrauch ist der ‚-ismus‘: Damit wird jede Hass-Tat, jede Hass-Aussage nicht als das genommen, was sie ist, sondern als Teil eines ‚antisemitischen Systems‘ oder eines ‚antisemitischen Charakters‘ eingeordnet, anstatt die Hintergründe für diesen Hass genauer zu analysieren.“ TAZ, 12.4.2007

Zionismus

Im auslaufenden 19. Jahrhundert bis 1918, nach dem 1. Weltkrieg, erweiterte sich die Anzahl der Staaten Mittel- und Osteuropas von sechs auf sechzehn. Auch unter den Juden Osteuropas entstand der Wunsch nach einem eigenen Staat. Juden in den verschiedenen Ländern hatten viel gemeinsam: Sie sprachen die gleiche Sprache, Jiddisch, schrieben in hebräischen Buchstaben, hatten die gleiche Religion, durften nur sehr eingeschränkt ihren Beruf wählen und wurden in fast allen Ländern, insbesondere in Russland und Polen, verfolgt und diskriminiert. Judenfeindlichkeit und Judenhass herrschte aber auch in den Staaten West- und Mitteleuropas. Ein Beispiel ist die Affäre Dreyfus in Frankreich.

Viele Juden flohen vor Verfolgung, emigrierten als Einzelne in die USA und in verschiedene Länder West- und Mitteleuropas. Die Sehnsucht nach einer kollektiven Lösung, nach einem Ort, an dem sie autonom über ihr Leben entscheiden konnten, wuchs permanent. Bei vielen war diese Sehnsucht an die Vorstellung geknüpft, eine kollektive Lösung im gelobten Land der Vorväter, in Judäa, zu suchen. So emigrierten zu Anfang des 20. Jahrhunderts erste größere Gruppen von Juden aus Russland. Das heutige Palästina/Israel gehörte zum Osmanischen Reich. Sie überquerten die Grenzen des osmanischen Reiches in den Norden des heutigen Palästinas.

Der Journalist Theodor Herzl war als Berichterstatter beim Dreyfus Prozess. Die Ungerechtigkeiten gegenüber Dreyfus animierten ihn dazu, das Manifest: „Der Judenstaat“ zu schreiben. Er begann, für einen jüdischen Staat zu kämpfen. Die Juden sollten nicht mehr als vaterlandslose Gesellen angesehen werden. Sobald es einen Judenstaat gebe, könnten Juden zeigen, dass sie genau wie alle anderen in der Lage sind, ein Vaterland zu haben und für dieses einzutreten.

In dieser Zeit des „Kolonialismus und des europäischen Größenwahns – sollte es ein unterentwickeltes Land sein, in das Juden als europäisches Volk das Licht des technischen Fortschritts und der Aufklärung bringen konnten.“
Zusammenfassung von: Rolf Verleger, Israels Irrweg, eine jüdische Sicht, Köln 2009, S. 43 ff.

Verschiedene Länder waren als mögliche Orte für einen jüdischen Staat im Blick: Uganda, Madagaskar, Zypern. Der Großteil der zionistischen Juden aber lehnte diese Idee ab. Für sie gab es nur einen Ort: das versprochene Land in Judäa.

Innerhalb der jüdischen Welt gab es viele Auseinandersetzungen um den Zionismus. Traditionelle Vorstellungen wandten sich scharf gegen einen jüdischen Staat und damit einen Nationalismus. „Das jüdische Volk habe das Joch des Exils zu tragen, dies sei wesentlicher Bestandteil seiner Existenz und es sei nur an Gott, durch den Maschiach diese Situation zu verändern.“ Verleger, a.a.O., S. 45

Herzl selber wollte einen multikulturellen Staat, in dem Araber und Juden gleichberechtigt miteinander leben konnten. „Mein Testament für das jüdische Volk: Euren Staat so zu erbauen, dass ein Fremder zufrieden bei euch lebt.“ Er wand sich ausdrücklich gegen die Idee, daß Juden in dem zu schaffenden Staat aufgrund ihrer Herkunft und Religion eine privilegierte Stellung haben dürften. (Vergleiche Verleger, a.a.O., S. 46)

Großbritannien als führende Weltmacht war brennend am Zerfall des Osmanischen Reiches interessiert, die Briten wollten die Herrschaft in dieser Region haben. Nach dem 1. Weltkrieg wurde den Briten dann auch die Verwaltung dieses Landstriches durch den Völkerbund, der auf Initiative der USA entstanden war, übertragen. Das Land wurde nun Palästina genannt.

Die Briten hatten Sympathie für die zionistische Bewegung. Sie hatten zwar die Araber mit Waffen im Kampf gegen das osmanische Reich unterstützt, teilten aber deren Interessen an diesem Land nicht. Die arabische Bevölkerung wollte in keinem Fall, dass ihnen durch eine große Zahl von jüdischen Einwanderern ihr Grund und Boden und ihre heiligen Stätten weggenommen werden könnten. Großbritannien aber sah eher durch eine große Präsenz von Juden garantiert, dass es in dieser Region die Oberhoheit behalten konnte.

So kam es zur Balfour Deklaration. Diese besagt: „dass die Juden, die als ein Volk, zerstreut in alle Welt, dessen Herz aber immer nach Palästina gerichtet war, in den Stand gesetzt werden sollten, ihre Heimat zu finden, und dass mancher von ihnen, in dem Rahmen, der durch die Anzahl und die Interessen der jetzigen Bevölkerung gesetzt ist, nach Palästina kommen sollten, um mit ihren Möglichkeiten und Energien das Land zum Vorteil aller Bewohner zu entwickeln.“ (Verleger, a.a.O., S. 50)

Dieser Staat, in dem Juden, Muslime und Christen gleichberechtigt zusammen leben könnten, sollte die Heimstätte für alle Juden sein, gleich wo sie lebten. „Diese Heimstätte könne allen Staaten der Welt als Vorbild gelten, wie Menschen aller Herkunft und Religionen friedlich zusammenleben könnten, und dieses Vorbild würde helfen, den Antisemitismus in Mitteleuropa zu bekämpfen,“ so die Vorstellung von Herzl und den britischen Mandatsträgern.

Die Realität aber war anders. Die Juden, vor allem aus Russland, waren vor Pogromen und Diskriminierungen des Zarenreiches, des Bürgerkrieges und den Folgen der Russischen Revolution geflohen. Ein Teil von ihnen wollte sich von niemandem mehr herumkommandieren lassen, frei sein, ihre eigene Staatsform wählen, sich nicht von den Briten vorschreiben lassen, wie sie das Land organisieren und regieren wollten.

Es gab über Jahrzehnte hinweg heftige Kontroversen. Einerseits verhängte die Organisation jüdischer Arbeiter in Palästina einen Boykott gegen Betriebe, die Araber beschäftigten. Andere mahnten: „Die Nagelprobe für den wirklich jüdischen Charakter unserer Besiedlung von Palästina wird unser Verhältnis zu den Arabern sein.“ (Verleger, a.a.O., S. 53)

Auf dem Treffen des zionistischen Generalrates 1930 in Berlin sagte Weizmann, es sei nicht möglich, Palästina in einen jüdischen Staat zu verwandeln, denn wir können und wollen nicht die Araber vertreiben.

In den Jahren 1933 bis 1939 gab es eine große Auswanderungswelle von Juden nach Palästina. Land wurde aufgekauft, vor allem in den USA wurde Geld hierfür gesammelt. Arabische Großgrundbesitzer verkauften Land, vertrieben zum Teil ihre arabischen Pächter. In der zionistischen Bewegung mehrten sich in dieser Zeit die Stimmen, die einen jüdischen Staat wollten, in dem die arabische Bevölkerung nichts zu sagen hatte.

1938 sagte David Ben Gurion, Vorsitzender der jüdischen Vertretungskörperschaft: „Ich bin für Zwangsumsiedlung der Araber, daran sehe ich nichts Unmoralisches.“

Ab 1939 hatten die Juden Europas nicht mehr die Möglichkeit, zu wählen, ob sie nach Palästina gehen wollten. Der Holocaust mordete nahezu das gesamte europäische Judentum dahin. Diese Erfahrung schob die Bedenken innerhalb des Restes der jüdischen Europäer gegen einen zionistischen Staat hinweg. Das Ziel war nun: Einen eigenständigen Staat zu haben, in dem die Juden ohne Rücksicht auf andere die Entscheidungsrechte haben sollten.

Hannah Arendt schrieb 1947:

„Dieses ist der Wendepunkt in der Geschichte des Zionismus; denn er besagt, dass das revisionistische Programm, das solange scharf zurückgewiesen wurde, nun am Ende siegreich ist. (…) Dieses Mal sind die Araber in der Resolution einfach nicht erwähnt worden, was ihnen offensichtlich die Wahl lässt zwischen freiwilliger Auswanderung und Bürgerrechten zweiter Klasse. (…) Dies ist ein Todesstoß gegen diejenigen jüdischen Parteien in Palästina selbst, die unermüdlich die Notwendigkeit einer Verständigung zwischen dem arabischen und dem jüdischen Volk predigten. (…) Die Errichtung eines jüdischen Staates mag als sehr hübsche Lösung erscheinen. Auf lange Sicht kann man sich kaum eine Entwicklung vorstellen, die gefährlicher und abenteuerlicher wäre.“ (Ebenda, S. 58)

Nach 1945 setzten die jüdischen Organisationen alles daran, überlebende Juden aus Europa nach Palästina zu holen. 1947 stimmte die UN Vollversammlung für die Teilung des Mandatsgebietes Palästina in einen jüdischen Staat und einen palästinensischen Teil. “Der jüdische Staat war erreicht. Das revisionistisch-zionistische Programm hatte gesiegt.“ (Verleger, a.a.O. S. 60)

Die erste große Vertreibungswelle von Palästinensern begann mit der Zerstörung von 420 palästinensischen Dörfern und der Vertreibung von hunderttausenden Menschen während des Krieges 1948/49. In allen folgenden kriegerischen Auseinandersetzungen hat Israel sich Stück für Stück das Gebiet Palästinas angeeignet. Heute besteht das palästinensische Gebiet noch aus 27% des ursprünglichen Landes. In diesen Gebieten befinden sich noch eine Reihe israelischer Siedlungen mit mehr als 200.000 israelischen BewohnerInnen. Hinzu kommt, dass das Westjordanland in viele kleine Gebiete aufgeteilt wurde, die zum großen Teil unter israelischer Hoheit stehen.

Die Lage während der 2. Intifada

„Das Wort Intifada bedeutet: Etwas von sich abschütteln, was man los haben möchte, es meint auch das Beben das Körpers, der vor Wut und Aufregung von Krämpfen geschüttelt wird. Intifada wurde zur Bezeichnung für die palästinensische Volkserhebung gegen die israelische Besatzung.“ (Sumaya Farhet-Naser, Thymian und Stein, Base 2.000, S. 121)

Über 90% der Infrastruktur Palästinas wurden zerstört, darunter der Flughafen im Gaza, die Selbstverwaltungseinrichtungen der palästinensischen Autonomiebehörde, Häuser. Eine Einrichtung, die zerstört wurde, war auch das zentrale Katasteramt von Palästina. Somit war es nahezu unmöglich geworden, Grund- und Hausbesitz nachzuweisen.

Die Ökonomie des Landes liegt am Boden. Über die Hälfte der arbeitsfähigen PalästinenserInnen sind arbeitslos. Viele haben zuvor in Israel gearbeitet, dorthin können sie so gut wie gar nicht mehr zur Arbeit gehen. Obst- und Gemüseanbau unter den derzeitigen Kriegsbedingungen sind total reduziert. Der Tourismus ist zum Erliegen gekommen. Der große Teil der Familien lebt bereits unter dem Existenzminimum. Die militärisch hochgerüstete israelische Armee kontrolliert auf Anweisung der Regierung die Zugänge der PalästinenserInnen zur Arbeit, zur Religionsausübung, zum Wasser und zur Landnutzung. Sie entscheidet darüber, ob Schulen, Universitäten und Krankenhäuser geöffnet sein können oder nicht.

Der ökonomisch schwachen Seite wird jedes Recht auf Widerstand gegen die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage abgesprochen. Jede Widerstandsaktion wird als terroristisch – damit illegitim und militärisch legal zu bekämpfen – definiert. In den Nachrichten unseres Landes sind die nächsten Worte hinter „Palästinenser“ mehrheitlich: terroristisch, radikal, islamistisch, gewalttätig, Attentäter.

Antisemitismus

“Ich benutze nur ungern das Wort „Antisemitismus“. Dieses sollte im 19. Jahrhundert dem ordinären Hass gegen Juden einen wissenschaftlichen Anstrich geben. (…) Antisemitismus ist nicht nur ein Nazi Wort, es ist auch ein Gouvernanten Wort. Hass ist eine hässliche Sache, hässliche Sachen spricht man ungern aus. Also benutzt man gerne unverständliche Wörter. (…) Und wie nennt man Leute, die Mohren hassen: Antiafrikanisten? Und Skins, die Vietnamesen verprügeln, Sind das Antimongolisten? Das ist alles lächerlich. Üble Verhaltensweisen versteht und bekämpft man nicht dadurch, dass man sie bis zur Unkenntlichkeit hinter gelehrten Wörtern versteckt, sondern indem man sie angeht, am besten frontal.“ (Rolf Verleger, a.a.O. S. 90 ff.)

Wie kommt es, dass heute viele Menschen, Medien, WissenschaftlerInnen Kritik an der Politik der israelischen Regierung mit dem Wort: Antisemitismus belegen? Wie wird jüdische Identität heute bestimmt?

„Von alters her definieren sich Juden über ihre Religion. Die 613 Aufträge Gottes an sein Volk sind einzuhalten.“ So sahen es die jüdischen Weisen der verschiedenen Jahrhunderte. „Die Entwürdigung und Ungleichbehandlung der Palästinenser durch Israel und seine jüdischen BewohnerInnen stehen im Gegensatz zu Gottes Auftrag der Nächstenliebe und zum zentralen Inhalt der jüdischen Religion. Ein traditioneller jüdisch-religiöser Mensch hat also keine Alternative dazu, als das Vorgehen der jüdischen Siedler und der israelischen Regierungen gegen die arabischen PalästinenserInnen aus tiefstem Herzen abzulehnen. (…) Auch wenn ich mich nicht mehr an Gottes Aufträge gebunden fühle, bin ich stolz auf diese Tradition, in deren Mittelpunkt der Auftrag der Nächstenliebe steht.
Was machen Juden, die sich nicht mehr an Gottes Aufträge gebunden fühlen? Wie definieren sie ihre jüdische Identität? Jude sein kann bedeuten, sich dem jüdischen Staat zugehörig zu fühlen – man muss nicht mehr die Gebote einhalten. (…) Heißt zugehörig fühlen, jede Maßnahme der israelischen Regierung zu unterstützen, insbesondere was das Vorgehen gegen die arabischen Palästinenser betrifft? Ich denke vielmehr, ‚zugehörig fühlen‘ heißt, sich dafür einzusetzen, dass der jüdische Staat gute Maßnahmen trifft. Was aber sind gute Maßnahmen?
Gut sind die Maßnahmen doch offenbar dann, wenn sie 1. Ziel führend sind und 2. den Grundregeln menschlichen Zusammenlebens entsprechen. Ziel führend heißt in diesem Fall: Die Existenz Israels zu sichern. Nach Jabotinsky und Ben Gurion sichert Israel seine Existenz dadurch, dass es stark ist und die Araber dominiert. Nach Herzl, Weizmann, Hannah Arendt und anderen wird Israel seine Existenz dann sichern, wenn es seine arabischen Nachbarn gut behandelt und Frieden und Ausgleich mit ihnen sucht (…).“ (Verleger, a.a.O. S. 80)

Die entscheidende Frage dabei ist: Wie geht man als Jude damit um, dass seit der Gründung des Staates Israel der arabischen Bevölkerung großes Unrecht angetan wurde? Leugnet man es oder stellt man sich dieser Tatsache? Die grundlegende Maxime menschlichen Zusammenlebens heißt: Was dir verhasst ist, tu es deinem Nächsten nicht an!

“Die Befürworter eines starken Israels argumentieren häufig mit dem jüdischen Opferstatus unter Hitler und sagen: Nie wieder! Die allgemeine Regel wäre dann also: ‚Wer Angehöriger eines Volkes ist, das von einem anderen Volk bestialisch und systematisch abgeschlachtet wurde, darf vorsichtshalber ein drittes Volk unterdrücken, damit dieses seinem Volk nicht noch einmal das antun wird, was ihm das andere Volk antat.“ (Rolf Verleger, a.a.O, S. 80 ff.)

Sich dem jüdischen Staat zugehörig zu fühlen, kann nach den jüdischen Traditionen nur heißen, dass dieser Staat seinen Frieden mit den arabischen Nachbarn macht, indem er endlich aufhört, die arabischen Palästinenser als Menschen zweiter Klasse zu behandeln.

Das Vermächtnis des Holocaust heißt: Gegen alle Formen des Fremdenhass und Antisemitismus aufzustehen, dafür zu sorgen, daß es nie wieder geschieht. Es gibt zwei Arten, das zu tun:

„1. die universalistische: Es soll derartiges niemandem je wieder passieren.

2. Die nationalistische: Das soll uns Juden niemals wieder passieren, notfalls müssen andere leiden. Letzteres ist eine Verirrung, die der jüdischen Tradition und den Regeln menschlichen Zusammenlebens widerspricht. Eine historische Tatsache ist: Opfer werden nicht automatisch zu besseren Menschen.“ (Rolf Verleger, a.a.O. S. 87)

Verschiedene Formen der Auseinandersetzung haben sich in Deutschland entwickelt. So in der Gruppe der „Antideutschen“. Sie sind in eine völlig unkritische Überidentifikation mit der Politik Israels geraten. Sie gerieren sich als „die besseren Deutschen“, als diejenigen, die allein würdig sind, Geschichte zu interpretieren.

Die Argumentation läuft etwa in dieser Art und Weise: „Heutzutage bekämpfen die Antisemiten die Juden nicht mehr dadurch, dass sie sie individuell verprügeln, sondern in dem sie ihren Staat zerstören wollen. Antisemiten sind nicht mehr Nazis und die Rechten, Antisemiten sind Araber und die Linken. Die israelische Nation ist unsere Nation (Die Erbin der Opfer des Holocaust). Den Auftrag unserer ermordeten Vorfahren, den Antisemitismus zu bekämpfen, erfüllt man, in dem man die Feinde Israels bekämpft.“

„Haben Opfer das Recht, Unrecht zu tun?“ Fragen von Prof. Rolf Verleger

„Mein Vater hatte Auschwitz überlebt, meine Mutter das KZ im Baltikum. Sie zogen mich in der Erkenntnis auf, dass es die Wahl zwischen Gut und Böse gibt und jeder Mensch für seine Taten verantwortlich ist: Sie erzogen mich in der Ethik der jüdischen Religion.

In seiner ‚Außenansicht‘ propagierte der Präsident des Jüdischen Weltkongresses (Ronald Lauder) eine alternative Ethik. Wir Juden seien vor allem eines: Opfer. Daran sollte der Gedenktag 27.1. erinnern. Aktuell sei unser Staat Israel das Opfer unerklärlicher Hassausbrüche von Arabern und von ’selbst ernannten Gutmenschen‘.

Ich würde gerne Herrn Lauder fragen: Die Tatsache, dass keiner meiner Großeltern das Dritte Reich überlebt hat – gab sie 1947/48 den jüdischen Freischärlern und der israelischen Armee das Recht, Hunderttausende Araber aus Israel zu vertreiben?

Die ‚Arisierung‘ des Berliner Grundstücks meines Urgroßvaters – gab sie dem Staat Israel das Recht, Anfang der 50er Jahre den Boden und Besitz der arabischen Vertriebenen zu konfiszieren?

Die Ermordung meiner Onkel und Tanten durch die SS – gibt sie dem Staat Israel das Recht, seit 40 Jahren die Diktatur eines Besatzungsregimes auszuüben?

Die Erschießung meiner Großmutter Hanna dafür, dass sie in Berlin ohne gelben Stern zum Friseur ging – gibt sie dem Staat Israel aktuell das Recht, die Bevölkerung Gazas auszuhungern?

Allgemein: Gibt die Tatsache, dass wir europäischen Juden Opfer eines großen Unrechts wurde, dem jüdischen Staat vor Gott und den Menschen das Recht, nun Anderen Unrecht zu tun?

Können uns die Sonntagsreden am ‚Holocaust-Gedenktag‘ vor dieser Frage schützen?“

(Rolf Verleger: Israels Irrweg, S. 179 ff.)

Keine Akzeptanz von Gewalt

Gila Svirsky, jüdische Aktivistin aus der israelischen Friedensbewegung Bat Shalom, hat zusammen mit der palästinensischen Schriftstellerin und Professorin Sumaya Farhet-Naser den Preis des internationalen Pen Clubs erhalten. In ihrer Dankesrede sagte sie unter anderem:

„Ich glaube von ganzem Herzen an die Notwendigkeit des jüdischen Staates. Ich meine damit nicht einen rassistischen jüdischen Staat, sondern einen demokratischen Staat, der jüdische wie nichtjüdische BürgerInnen mit offen Armen empfängt, mit gleichen Rechten und Pflichten für alle. Aber auch ein Staat, der den Juden immer ein sicherer Hafen sein wird.“

Ich bin stark vom Feminismus beeinflusst und von der ihm innewohnenden weitgreifenden Vision eines gesellschaftlichen Wandels. Hierbei geht es nicht allein um Gleichberechtigung und Chancengleichheit, über eine gleichberechtigte Beteiligung von Frauen an den politischen Entscheidungsprozessen, sondern um eine sehr viel weitreichendere Vorstellung von Krieg und Frieden. Diese feministische Perspektive lehnt die Unterdrückung des ‚Anderen‘ ab und widersetzt sich dem Einsatz von jedweder Gewalt, ganz gleich, ob sie von Israelis oder Palästinensern ausgeht.“

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