Den Genuss verfeinern

 In Spiritualität
Tizian: "Bacchanal"

Tizian: „Bacchanal“

Tantriker lieben den Genuss, pflegen den Sex, und ihr Liebesleben geht ihnen über alles, stimmt’s? Einerseits ja. Andererseits sind sie aber nicht so einseitig innenwelt-orientiert wie das über sie kolportierte Klischee. Denn die Beschäftigung mit der eigenen Sexualität – auch ihre Sakralisierung – macht uns Menschen tatsächlich liebevoller und mitfühlender. Was dann unausweichlich dazu führt, dass wir uns auch mehr für unsere natürliche und soziale Umwelt einsetzen. (Wolf Schneider)

Als ich ungefähr 17 Jahre alt war, passierte etwas, das dazu führte, dass mir nie wieder langweilig war. Kinder können sich ja so unendlich langweilen! »Es passiert ja nichts«, sagen sie. Deshalb langweilen sie sich zu Tode und wollen, dass endlich was Aufregendes passiert. Dabei ist die Welt um sie voller Wunder, man muss nur Augen haben, sie zu sehen. Was mir damals als 17-jährigem passierte, ist: Ich merkte, dass ich nur genauer hinschauen musste. Genauer fühlen, genauer wahrnehmen, dann war das Leben auch in den vordem langweiligsten Minuten höchst spannend – beim Warten an der Bushaltestelle oder wenn jemand, den ich aus Gründen sozialer Korrektheit nicht unterbrechen durfte, Stuss redete ohne Ende. Ich entdeckte, dass ich dann irgendetwas in mir auf »feiner« einstellen konnte. Ich hörte dann den Tonfall der Stuss redenden Stimme und fand darin eine Melodie oder beobachtete die Menschen an der Bushaltestelle – oder mich selbst, meine Träume und Erwartungen, meine Gedanken und Gefühle.

Die Feinheit eines Bildes

Inzwischen sind ein paar Jahre vergangen. Ich bin immer noch grundsätzlich wissbegierig und manchmal auch abenteuerlustig, aber diese Einsicht von damals, dass ich nirgendwo hin muss, um »mehr« zu bekommen, ist nicht erloschen. Sie hat in der Zwischenzeit zwar dazu geführt, dass ich manch eine Ekstase ausdehnen wollte, aber nie eine Sucht mein Leben beträchtlich erschweren konnte. Sucht ist ja das Mehrhabenwollen von etwas, das Steigernwollen. In allen Fällen passiver Verführung – oh, da gab es viele; Essen, Sex, Bücher, Wissenserwerb – habe ich immer früher oder später auf Verfeinerung schalten können.

Man kann als Fotograf mehr Bilder schießen wollen oder sich das eine in feinerer Auflösung anschauen, es näher betrachten, einen Ausschnitt daraus wählen, jeder Schnitt ergibt wieder ein anderes Bild. Man kann Kürbis und Kartoffeln, dieses billige Gemüse, auf eine Art zubereiten und essen, dass kein Fünf-Sterne-Restaurant-Besuch mithalten kann. Man kann ein Salatblatt so essen oder einen grünen Tee so trinken, als gäbe es nichts anderes auf der Welt: nur dies hier, jetzt! Ich lasse den Bissen oder Schluck auf der Zunge zergehen, als sei dies meine letzte Nahrung, die dieser Körper noch genießen darf.

Die letzten Tropfen

Im Frühjahr 1976 bereitete ich mich darauf vor, in ein buddhistisches Kloster einzutreten, wo man nur das essen durfte, was einem gegeben wurde, wo ich also nichts einkaufen konnte und man von Mittag 12 Uhr bis zum nächsten Morgen nichts essen durfte. Da riet mir ein Freund, der ebenfalls ins Kloster gehen wollte (oder dort schon mal Mönch gewesen war, so genau weiß ich das nicht mehr), ich solle mir nochmal eine Flasche Sojamilch besorgen, für ihn war das ein Elixier, reinster Nektar, und die solle ich Tropfen für Tropfen auskosten, bis ich so innerlich gesättigt wäre, dass ich in der Klosterzeit nie wieder an ein Essen oder Getränk würde denken müssen und davon in meiner Meditation gestört würde. Und das tat ich dann, im Bewusstsein, dass ich vielleicht nie wieder im Leben würde Sojamilch trinken dürfen – der Genuss war himmlisch!

Hören, was da ist

Auch in Bezug auf Geräusche gelingt es mir oft zu hören, was da gerade zu hören ist. Nur das. Jede Sekunde meines Lebens gibt es neue Geräusche, immer ist es anders, der Strom der Veränderungen hört nie auf. Musik? Ich liebe Musik und habe mir ein paar Jahre lang immer wieder dies und das gekauft, zuletzt am ehesten Jazz. Dann nichts mehr. Dann hörte ich nur noch zu, was es an Geräuschen zu hören gab. Ich habe mir seitdem nie wieder eine Musikkonserve gekauft. Doch einmal, da fand ich zwei Straßenmusiker so hinreißend schön, dass ich ihnen was geben wollte, und habe mir ihre CD gekauft, habe sie aber nie angehört. Es erscheint mir als zu manipulativ, mir meine akustische Umgebung verändern zu wollen, um sie meinen Wünschen anzupassen. Stattdessen kann ich einfach meine Wahrnehmung verfeinern, dann höre ich überall Melodien und interessante Geräusche – das Leben ist ein nicht aufhörender Film mit einer Tonspur, die an Belebtheit und Abwechslung nichts zu wünschen übrig lässt.

Die Gier austricksen

Auch heute noch halte ich die Verfeinerung der Wahrnehmung für das beste Mittel gegen Gier. Wir wollen ja immer mehr. Wir wollen es immer noch aufregender, geiler, ekstatischer haben und landen so in der Sucht. Das beste Mittel dagegen ist Verfeinerung: den Tee, das Wasser oder die Erdbeere auf der Zunge zergehen lassen, jeden einzelnen Schluck, jeden Bissen. Und beim Gehen, im Kinhin des Zen oder der Gehmeditation von Thich Nhat Hanh, jeden einzelnen Schritt wahrnehmend auskosten und jede Einzelheit eines jeden Schrittes. Jeden Atemzug. Wir brauchen nicht mehr – wir brauchen nur das Vorhandene genauer wahrzunehmen, das genügt. Indem wir die Gier auf die Verfeinerung ausrichten, auf das Streben, immer feiner werden zu wollen, was ja auch wieder eine Art von Gier ist, tricksen wir sie aus, denn dort kippt sie nicht in die Katastrophe, wie eine Welle sich am Strand aufbäumt und überschlägt, sondern erlischt, verendet, vergeht in der maximalen Feinheit – im Genuss.

Das wäre auch eine Lösung für den Wachstumswahn unserer Wirtschaft, der unsere Umwelt zerstört und darüber hinaus auch unsere Seelen, weil er sie im Wahn des Immer-mehr, Immer-besser gefangen hält. Unsere Gier lässt uns jedes Jahr auf eine Gehaltserhöhung hoffen oder wenigstens hoffen, klüger zu werden oder eine Verbesserung unseres Liebeslebens zu erreichen. Wobei das Zunehmen der Klugheit eher möglich ist als das unendliche Anwachsen der Gehälter. Allerdings führt auch der Versuch, klüger zu werden oder bessere Orgasmen zu erzielen, allzu oft gerade nicht dort hin, wo man will: Was die Klugheit anbelangt, ist das Scheitern eine bessere Voraussetzung für ihre Zunahme als das Gewinnen. Und was die Liebe anbelangt, ist es am besten, auch im Zusammensein bei sich sein zu können.

Tantrisches Streben

In einer gierigen Gesellschaft wird Tantra zunächst als etwas verstanden, das »noch mehr« bietet als normaler Sex. Mehr Liebe, mehr Tiefe, mehr Verständnis füreinander, bessere Orgasmen, mehr Gesundheit und auf jeden Fall mehr Glück. Das ist ja nicht ganz falsch – aber auch nicht ganz richtig. Denn dieses Mehr erreicht man nicht, wenn man das Streben, das sich vorher auf Geld, Besitz oder Karriere gerichtet hat, nun auf besseren oder spirituelleren Sex richtet. Mantras und Yantras können helfen, auch Sutren und Rituale, aber wenn die Art des Herangehens sich nicht ändert, wird es nichts mit der Verbesserung des Liebeslebens. Eine neue Szene, ein neues Vokabular – nun nennen wir uns Shiva und Shakti und unsere Geschlechtsteile Yoni und Lingam, gut so, aber war es das schon? Erst wenn es in uns einsinkt, was dieses neue Vokabular bedeutet, kann Tantra seine Wirkung entfalten. Und das kann dauern, wie jeder weiß, der sich auf diesen Weg begeben hat.

Das Fremdeln wird weniger

Aber dieses Einsinken passiert, und es passiert jetzt und in viel höherem Maße als je bei uns, in unserer deutschen und europäischen Gesellschaft. Seit dem vorigem Jahr, mehr noch heuer, ist Tantra dabei, in Deutschland in der Mitte der Gesellschaft anzukommen. Noch nicht so sehr wie Yoga, aber doch mit schnelleren Schritten als je zuvor. Überall in den Städten und sogar auf dem Land sprießen Tantrainstitute und -zentren hervor, die in den Tantra-Trainings Ausgebildeten eröffnen eigene Praxen, und man wird als Tantriker nicht mehr so schräg angesehen wie früher. Illusionen über das, was Tantra ist, gibt es noch genug, damit müssen wir leben, aber das Fremdeln der Nicht-Tantriker uns gegenüber nimmt ab. Dabei hilft, dass Tantra heute weniger als eine exotische, asiatische oder indianische Art der sexuellen Praxis angesehen und praktiziert wird, sondern mehr als ein reifer Umgang mit Liebe und Sex – und weit darüber hinaus, als ein reiferer Umgang auch mit Sinnlichkeit, dem Körper, dem Diesseits und unserem irdischem Dasein ganz allgemein.

Engagierte Tantriker

Das Klischee, dass Tantriker nur ihr Sexleben verbessern wollen und sich nicht darum scheren, was außerhalb ihrer Betten, Liebesnester und Beziehungsdramen geschieht, hat ja noch nie gestimmt. Heute stimmt es weniger denn je. Tantriker ernähren sich besser, sie sind im Umgang miteinander liebevoller und mitfühlender, und sie gehen besser mit Tieren und Pflanzen um. Das weiß ich, weil ich seit vielen Jahren in meinem Umfeld viel mit ihnen zu tun habe.

Das Fokussieren auf das eigene Liebesleben und auf den eigenen Körper als Vehikel transzendenter Erfahrungen führt früher oder später offensichtlich zu reiferen Persönlichkeiten, die dann auch besser mit ihrer Umwelt umgehen. Und die sind dann ein Bonus für das, was wir heute überall brauchen: Menschen, die erst ihren eigenen Lebensstil ändern und sich dann dafür einsetzen – nicht als Missionare, sondern als Vorbilder –, dass auch andere solche Schritte in ein neues, anderes, besseres Leben tun. Sonst wird es früher oder später auch nichts mehr mit der Erhöhung unseres sexuellen Genusses, denn dazu braucht es neben der inneren Bereitschaft auch einige äußere Gegebenheiten.

Trotz all der Fortschritte scheint mir jedoch, dass die Beziehung zwischen der »Arbeit an sich selbst« und der Veränderung der Außen- und Umwelt sowohl von Tantrikern selbst noch zu wenig verstanden wird, als auch von den Beobachtern der tantrischen Subkultur (von denen Tantriker das sowieso nicht erwarten). Sexualität wird zwar gemäß dem Motto »Sex sells« überall auf den Märkten eingesetzt und benutzt, aber nicht verstanden. Und dieser kommerzielle Einsatz der Sexualität ist weit davon entfernt, sexuelle Bedürfnisse zu erfüllen, im Gegenteil, er kitzelt sie eher nur, als sie zu befriedigen, weshalb Soziologen uns als oversexed but underfucked bezeichnen.

Asexuell versus sexbesessen

Übrigens gibt es eine ähnliche Unerfülltheit wie bei den sexualisierten Massen auch bei der Minderheit der Asexuellen, die mir durch einige persönliche Begegnungen kürzlich (wieder) ins Blickfeld kamen. Schätzungsweise ein bis zwei Prozent der Bevölkerung (es könnten auch viel mehr sein, Untersuchungen hierzu fehlen) empfinden keinerlei sexuelles Bedürfnis. Ihnen erscheint die Mehrheit der Bevölkerung als sexbesessen. Ein interessanter Blick, finde ich, der einiges an Wahrheit enthält. Die zölibatären Formen spiritueller Praxis (in Indien als Brahmacarya weit verbreitet und traditionell sehr geschätzt) suchen ja einen Ausweg aus der sexuellen Getriebenheit, mit all dem, was diese an menschlichem und seelischem Schaden anrichten kann, indem sie auf Sex verzichten. Was aber den wenigsten gelingt, wie alle Welt weiß: Die meisten der Zölibatären unterdrücken Sex zu ihrem eigenen Schaden und dem vieler anderer in ihrer eigenen Umgebung, die anderen »sündigen« mit oft schlimmen sozialen und psychischen Folgen; nur ganz wenigen gelingt es, durch sexuelle Abstinenz ihren Geist und Charakter zu verfeinern.

Sigmund Freud diagnostiziert unterdrückte Sexualität als Hauptursache der Neurosen, sein Schüler Wilhelm Reich sogar als Grundübel fast aller charakterlichen Deformation bis hin zum »faschistischen Charakter«, und der Kleriker Eugen Drewermann legte dann sozusagen seine Kollegen auf die Couch (in seinem Opus Magnum Kleriker, Psychogramm eines Ideals).

Die Tantriker haben im Umgang mit der sexuellen Gier einen anderen Ausweg gefunden: die Verfeinerung. Sensibler werden im Umgang mit sich selbst, mit Dingen, Mitmenschen und Tieren, mit allem. Nicht zuletzt auch mit Kindern! Die ja als sexuelle Wesen zur Welt kommen, empfindsam und verletzlich, und dann je nach Kultur mehr oder weniger stark in ihrer Sexualität von der umgebenden Gesellschaft geprägt werden, meist in Richtung auf: Das darfst du nicht, das tut man nicht, lass das – womit wir die Unterdrückung und Verurteilung eines menschlichen Grundbedürfnisses und die daraus resultierenden psychischen Krankheiten und sozialen Verirrungen an die nächste Generation weitergeben.

Das Elend in der Welt

Wir leben in einer Welt voller Kriege und Umweltzerstörung, in der idiotische alte Religionen noch immer den Geist der Menschen gefangen halten. Weit über 100 Millionen Frauen sind nicht nur sexuell unterdrückt – das gilt wahrscheinlich für die Mehrheit – sondern genital verstümmelt; laut UNICEF gilt das für 125 Millionen Mädchen und Frauen, also 3–4 % der weiblichen Weltbevölkerung. Eine Milliarde Menschen hungert oder ist mangelernährt. Ein Sechstel der Weltbevölkerung kann weder lesen noch schreiben, ein Viertel lebt von weniger als einem Euro pro Tag. Während wir uns damit beschäftigen, ob unsere Orgasmen echt ganzkörperliche sind, die bis in unsere Zehen- und Haarspitzen reichen …

Glückliche Menschen tun Gutes

Ich meine, dass wir uns durchaus mit unserer Genussfähigkeit beschäftigen dürfen und das sogar sollten, denn als griesgrämige, körperlich wie geistig verkümmerte oder verklemmte Menschen werden wir ganz sicher nicht den Armut erzeugenden Weltkapitalismus aus den Angeln heben und das Patriarchat beseitigen, und ganz sicher auch nicht der Genitalverstümmelung Einhalt gebieten oder die Abholzung der Urwälder verhindern.

Je reifer, zufriedener und glücklicher wir sind, je mehr wir mit uns selbst im Reinen sind und in uns ruhen, je weniger wir als Aktivisten welcher Agenda auch immer gegen uns selbst ankämpfen, umso mehr können wir für das Glück unserer Mitbewohner auf dieser Erde tun, denn Genussfähigkeit und Mitgefühl hängen eng miteinander zusammen. Wer sich selbst Gutes tut und dabei den engen Zusammenhang sieht zwischen dem eigenen Genuss, der eigenen Gesundheit und dem eigenen Glück und dem aller anderen Wesen auf der Welt, wird viel eher Gutes für andere tun als ein grober, gieriger oder verklemmter Mensch. Deshalb brauchen wir nicht nur ein Ergrünen der Welt, eine ökologische Revolution, sondern auch eine tantrische, die unsere innere Natur befreit.

Wolf Schneider, Jg. 1952. Autor, Redakteur, Kursleiter. Studium der Naturwissenschaften und Philosophie (1971–75) in München. 1975–77 in Asien. 1985 Gründung der Zeitschrift connection. Seit 2008 Theaterspiel & Kabarett. www.connection.de Kontakt: schneider@connection.de

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